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Komplexe Geschichte gelassen erzählt

Per Petterson verknüpft in seinem Roman "Pferde stehlen" eine Liebesgeschichte mit historischen Ereignissen rund um die nationalsozialistische Besetzung Norwegens. So komplex dieser Roman angelegt ist, so gelassen ist er erzählt. Petterson gibt dem scheinbar Nebensächlichen, den Details eine Größe, die das Große, würde man es erzählen, nie erreichen könnte.

Von Antje Ravic-Strubel | 21.03.2006
    Per Pettersons Roman ist ein Buch über Enttäuschung, das sich liest wie ein Buch über Glück. Die permanente Enttäuschung eines aus Kindheitstagen herrührenden Ideals begleitet Trond Sander, die Hauptfigur, ein Leben lang. Es geht um tiefes Einsseins mit einem anderen Menschen.

    Trond Sander ist 67. Er ist in ein Haus im Osten Norwegens gezogen. Das alte Jahrtausend geht zu Ende und mit ihm, wie es scheint, Tronds Leben. Er hat sich aufs Altenteil zurückgezogen. Die Tankstelle unten im Dorf, der Nachbar, der ihm mit seinem Traktor den Schnee schiebt, der Fluss und dahinter die Felsen, der Wald und sein Hund Lyra, sie bezeichnen den Radius, in dem sich Trond Sander von nun an bewegen will. Er ist aus Oslo weggegangen, nachdem seine Frau bei einem Autounfall ums Leben kam. Seinen Töchtern hat er davon nichts gesagt, seine Töchter werden auch erst gegen Ende des Romans überhaupt erwähnt, und so bleibt Trond Sander in seinem alten Holzhaus der Mittelpunkt der Erzählung.

    Ein Mittelpunkt, der allerdings Kreise zieht wie ein Stein, den man ins Wasser wirft. Denn in dieser Einsamkeit, in diesem Ausgeliefertsein an die Landschaft, in der Gesundheit und Wetter alle Sorgen besetzen und die Gedanken aufs Handwerkliche beschränkt sind, arbeiten sich von unten die Erinnerungen hoch. Das geht schrittweise vor sich und nicht schneller als die Reparaturarbeiten, mit denen Trond sein Haus winterfest macht.

    Als er eines nachts seinem Nachbarn Lars Haug begegnet, erkennt er in ihm eine Gestalt aus seiner Jugend wieder. Diese Begegnung setzt Erinnerungen an den Sommer 1948 frei, den er als 15-Jähriger mit seinem Vater in einem ähnlichen Haus in der Wildnis verbrachte. Nach diesem Sommer hatte der Vater die Familie verlassen und den Jungen in seiner noch ungebrochenen Sicht auf die Welt zum ersten Mal tief erschüttert. Der alte Trond erinnert sich daran, wie er damals mit seinem besten Freund Pferde stehlen war; eine eher spielerische Umschreibung für Unsinn machen. Sie schwingen sich auf die Pferde des reichen Nachbarn und rasen mit ihnen über die Koppel.

    "Pferde stehlen" war auch das Codewort seines Vaters im Widerstand gegen die deutschen Besatzer. Sein Vater wohnte während des Zweiten Weltkriegs in derselben Hütte, in der sie jetzt, ein paar Jahre später, den Sommer verbringen. Seine Frau und die Kinder in Oslo wussten nicht, dass der Vater gemeinsam mit einer jungen Frau Papiere und Flüchtlinge über die Grenze nach Schweden schleuste. Diese junge Frau ist die Mutter von Tronds bestem Freund. Auf dem Hintergrund einer wunderschön erzählten, anfänglich noch harmlosen Kindheitserinnerung spielt sich die Liebesgeschichte einer anderen Generation ab. Der Vater wird seine Familie am Ende verlassen, um mit der Mutter von Tronds Freund ein anderes Leben zu beginnen. Sie ist es, wegen der er hierher zurückgekehrt ist, und nicht, wie Trond lange denkt, um sich einen Sommer lang nur seinem Sohn zu widmen.

    Die Liebesgeschichte gewinnt ihre Dramatik aus der Einbettung in einen politischen Zusammenhang. Die norwegische NS-Vergangenheit, das Schwanken der Norweger zwischen Kollaboration und Widerstand gegenüber den Nazis, raubt auch den Kindheitserinnerungen ihre Harmlosigkeit. Das alles wird zweimal gefiltert erzählt. Zum einen wird die Vergangenheit mit den Augen des jungen Trond geschildert, zum zweiten werden die Wahrnehmungen des Jungen noch einmal durch die Erinnerung des alten Trond gefiltert. Im Vordergrund des Romans steht die Auseinandersetzung mit dem verschwundenen Vater, die Rekapitulation der Ereignisse jenes Sommers, in dem der Junge langsam begreift, dass der Vater ein ihm fremdes Wesen ist, dass die exklusive Beziehung zwischen Vater und Sohn mit dem Vater als strahlendem Helden und Vorbild auf mehrere Weisen enttäuscht wird und niemand daran für schuldig erklärt werden kann, schon gar nicht die Mutter.

    Petterson baut seinen Roman so geschickt, dass deutlich wird, wie das Realitätsgewebe eines Kindes durchsetzt ist mit Dingen, die es nicht versteht, die aber später umso stärker Lebenseinstellungen und Gemütslage bestimmen. Er zeigt außerdem, wie alle Dinge immer nur Material sind, um die eigene Geschichte, die eigene Fantasie zu füttern, wie jeder so in seiner persönlichen Geschichte verstrickt ist, dass der Wunsch, zwei mögen gemeinsam eine einzige Geschichte erleben, fortwährend enttäuscht wird. Selbst Sohn und Vater sind auf verschiedenen Wegen unterwegs, auch wenn es beim gemeinsamen Holzhacken so aussieht, als gebe es einen gleichen Rhythmus.

    So komplex dieser Roman angelegt ist, so gelassen ist er erzählt, in Schrittgeschwindigkeit, unterbrochen vom Licht über den Felsen, von Stürmen, vom anschwellenden Fluss. Die Schrittgeschwindigkeit des Erzählens gibt dem Buch seine große Ruhe, seine Klarheit, seine überragende Präzision. Petterson gelingt etwas, das große Literatur vermag: Er gibt dem scheinbar Nebensächlichen, den Details eine Größe, die das Große, würde man es erzählen, nie erreichen könnte. Bei Petterson werden die unspektakulären Dinge zu Zeichen für das, was darunter liegt, was ausgespart bleibt, in ihnen zeigt sich das Nachbeben der Vergangenheit, von der später im Text die Rede ist, aber auch dann meistens nur in Andeutungen.

    Tronds bester Freund zerstört in diesem Sommer mutwillig ein Vogelnest. Was zunächst nur ein Böser-Jungs-Streich ist und in diesem immer auf Augenhöhe erzählten Text schon von enormer Wucht, gewinnt später zusätzlich an Bedeutung: Das zerquetschte Wintergoldhähnchennest kündigt das Ende des Sommers, das Ende einer Jungenfreundschaft und die Auflösung zweier Familien, es kündigt das Ende der Unschuld an.

    Trond Sander wird auch später, mit 67 noch, versuchen, so Holz zu hacken, wie der Vater es tat. Aber selbst in den einfachen Handgriffen hat der Verlust des Vaters Spuren hinterlassen. Trond fehlt die Sicherheit, allein findet er nur selten in den richtigen Rhythmus.

    Die ironische Distanz des Erzählers aber auch der Figuren zu sich selbst gibt der Traurigkeit, die das Buch untergründig durchzieht, einen Halt. Und sie gibt Naturbildern, die leicht in die Nähe des Kitsch geraten könnten, Größe. Das Pathetische wird erhaben, die Beschreibungen sind von seltener Intensität.
    "Pferde stehlen" ist ein Buch über Glück, weil die Enttäuschungen, von denen es handelt, die Sprache zum Glühen bringt.