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Komponist in der Zeitmaschine

Auf Zeitreise begibt sich Herheim mit seiner Interpretation des Stücks "Manon Lescaut" von Giacomo Puccini, versetzt es in das Atelier des Erbauers der Freiheitstatue. Auch Puccini selbst taucht als stiller Begleiter auf.

Von Jörn Florian Fuchs | 07.10.2012
    1893 wurde Puccinis "Manon Lescaut" uraufgeführt, wenige Jahre vorher gelang Jules Massenet mit seiner "Manon"-Variante ein Welthit. Wohl aus Angst vor den Rechteinhabern beschäftigte Puccini ein ganzes Rudel an Librettisten, die Abbé Prévosts Kurzroman beackerten. Wohl eher unfreiwillig führte das zu einer regelrecht modernen Dramaturgie, in der einzelne Situationen schlaglichtartig abgehandelt werden. Puccinis Musik wirkt allerdings noch arg traditionsbewusst, mit schön ausgreifenden Bögen und süffig unterfütterten Sehnsuchtskantilenen sowie kirchentonalen Einsprengseln. Auch Massenets Klangfluten sind manchmal durchzuhören. Recht grob klingt das insgesamt, aber schon messerscharf auf die ganz große Wirkung angelegt.

    Wunderbar, wie Michael Boder am Pult des Grazer Philharmonischen Orchesters die Klangmischungen hörbar macht, dazu kommt eine ideale Besetzung. Gal James wirft sich mit Wucht und perfektem Verzweiflungsmelos in die Manon-Schlacht, Gaston Rivero gibt dem Jungspund Des Grieux auch ein paar reifere Töne mit. Dazu noch Wilfried Zelinkas wütend orgelnder Geronte, Javier Franco als Bruder Manons und die brillante Dshamilja Kaiser als Madrigalistin sowie die von Bernhard Schneider einstudierten Chöre – musikalisch alles sehr gut in Graz.

    Und was macht Stefan Herheim? Er vertraut der Geschichte und traut ihr doch nicht. Eigentlich spielt ja alles im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert. Das taucht zwar kleidungsmäßig irgendwie mal auf, aber nur als Zierrat, als ironisches Zitat. Herheim packt Stoff, Stück und gleich auch noch den leibhaftigen Komponisten in eine Zeitmaschine und verfrachtet die Chose ins Paris um 1880. Des Grieux ist der Künstler Frédéric-Auguste Bartholdi – der arbeitet gerade an nichts Geringerem als der Freiheitsstatue! Es gibt sie in Skizzenform, als Modell, einige Einzelteile sind auch schon fertig. Eine Hand etwa oder der Kopf. Und natürlich die berühmte Strahlenkrone, in deren Zentrum sich ein puffiges Plüschbett befindet. Einmal findet darauf appetitlicher Lesbensex statt. Man staunt wieder einmal, was Heike Scheele da bühnentechnisch hingekriegt hat. Es gibt sogar ein nettes, kleines Feuerwerk in der Fackel und manch überraschende Drehung und Wendung.

    Irgendwann taucht ein merkwürdiger Herr mit Schnurrbart und Melone auf. Er singt gern lautlos mit und läuft mit einem Büchlein herum. Ist das wirklich Puccini? Auch ihn integriert Herheim mühelos als stillen Begleiter, dem Manon am Ende wirklich herzergreifend ihr Schicksal klagt. Der Schöpfer siecht ob solcher Vorwürfe bald dahin.

    All das könnte nun unglaublich platt und konstruiert daher kommen, doch Herheim gelingt es, trotz diverser konkreter Zuordnungen einen kreativen Rest Unordnung zu bewahren. Es gibt auch bei dieser Produktion erneut jenes ganz besondere Ineinanderfließen eigentlich völlig unterschiedlicher Zeiten und Motive.

    Nebenbei dient Lady Liberty als Projektionsfläche für männliche Lüste und Wünsche, ab und an errötet ihr Kopf. Das Volk delektierte sich anfangs reichlich an zotigen Späßen, später mutiert es zum kühlen Beobachter der Szenerie. Und der Bühnen-Puccini wirkt mehr und mehr wie eine Kreuzung aus Charlie Chaplin und einem Samuel-Beckett-Charakter. Wirklich erstaunlich, wie präzise das alles zusammenschnurrt, wie jedes klitzekleine Detail sitzt.