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Konfessionsfreie
Das Recht auf Ethik

Werden konfessionslose Grundschulkinder benachteiligt? Ja, meint Anna Ignatius aus Freiburg. Die Philosophie AG an der Schule ihrer Kinder mussten die Eltern selbst bezahlen. Die Mutter klagte durch viele Instanzen. Das Bundesverfassungsgericht spielte den Ball an die Politik zurück.

Von Gaby Mayr | 15.01.2018
    Anna Ignatius und ihr Anwalt Thomas Heinrichs 2014 vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, wo sie mit ihrer Forderung nach Ethikunterricht für Grundschüler scheiterte.
    Anna Ignatius und ihr Anwalt Thomas Heinrichs 2014 vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, wo sie mit ihrer Forderung nach Ethikunterricht für Grundschüler scheiterte. (picture-alliance / dpa / Peter Endig)
    Anfang der 1990er-Jahre räumte das französische Militär ein Kasernengelände in Freiburg, wo es seit Ende des Zweiten Weltkrieges untergebracht war. Auf dem Areal entstand ein neues Wohnviertel mit mehrstöckigen, farbenfrohen Häusern, üppig begrünt und mit viel Platz für Kinder - das Vauban-Quartier. Die neue Straßenbahn schwebt über ein Grasbett.
    In das Wohngebiet zog auch Anna Ignatius mit ihren drei Kindern.
    "Es gibt natürlich auch christliche Menschen hier, aber ansonsten sind eben tatsächlich über 60 Prozent ohne Konfession", sagt sie. "Und deswegen hat die Schule - also das ist eine ganz einfach normale staatliche Grundschule - dann diese Philosophie AG eingerichtet, in die dann eben diese Kinder können."
    Die Arbeitsgemeinschaft, in der es um Themen geht, die Grundschulkinder jenseits von Rechnen, Schreiben und Lesen beschäftigen, hatte allerdings einen Nachteil:
    "Die wurde nicht vom Staat bezahlt, sondern mussten die Eltern selber finanzieren. Und das ist doch eine Ungerechtigkeit. Wieso zahlt das der Staat nicht?"
    Anna Ignatius beschloss zu klagen. Für sie und ihre Kinder, die nicht an Gott glauben, ist katholischer oder evangelischer Religionsunterricht keine Alternative.
    "Nicht die Antworten, die ich für meine Kinder will"
    "Die Religion, die Kirchen haben feste Antworten. Es kann keiner Gott infrage stellen. Gott ist gut, das ist eine ganz klare Aussage. Und das sind eben nicht die Antworten, die ich für meine Kinder will", sagt Anna Ignatius.
    2010 reichte sie ihre Klage ein. Sie wollte, dass ihre Kinder nicht schlechter gestellt werden als religiös gebundene Kinder, die selbstverständlich und kostenfrei Unterricht erhalten, in denen sie über alle Fragen von Leben und Tod sprechen können.
    Vor den baden-württembergischen Gerichten hatte Anna Ignatius keinen Erfolg, und auch das Bundesverwaltungsgericht entschied gegen sie.
    Kurz vor Weihnachten 2017, sieben Jahre nachdem die Freiburgerin ihre Klage eingereicht hatte, gab das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung bekannt - nämlich, dass es keine Entscheidung treffen will. Rechtsanwalt Thomas Heinrichs vertritt Anna Ignatius vor Gericht:
    "Ich finde es ein bisschen peinlich für das Bundesverfassungsgericht selber, dass es sich davor gedrückt hat. Man hat es als unzulässig abgelehnt, und dann gibt es ein paar formale, dürftige Begründungen, und dann ist das Ding vom Tisch."
    In seiner Begründung, warum es die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung annimmt, verweist das oberste Gericht zum Beispiel darauf, dass "ethisch-moralische Erziehung" auch in anderen Grundschulfächern stattfinde. Deshalb, so die Logik des Gerichts, seien konfessionsfreie Kinder nicht benachteiligt, wenn für sie kein Ethikunterricht angeboten werde. Rechtsanwalt Heinrichs:
    "Im Deutschunterricht lerne ich in der Grundschule lesen und schreiben, und da lerne ich nicht, wie ich damit umgehe, wenn meine Großmutter verstorben ist. Und da lerne ich auch nicht, wie ich damit umgehe, wenn ich Nachrichten höre, die mir Angst machen. Dass irgendwo Krieg ist, was bedeutet das für mich? Also all diese Fragen, die auch Grundschulkinder schon betreffen, wo sie irgendeine Orientierung brauchen, werden im Religionsunterricht thematisiert. Wenn es einen Ethikunterricht gäbe, wäre das auch der Ort, an dem man solche Dinge besprechen könnte."
    Vorrangstellung des Religionsunterrichts
    Eine Entscheidung für Ethikunterricht wäre keine Entscheidung gegen Religionsunterricht. Eine solche Entscheidung würde allerdings die rechtliche Vorrangstellung des Religionsunterrichts beenden.
    Eine Sonderstellung der beiden Amtskirchen in Deutschland bei der moralisch-ethischen Erziehung im Schulunterricht stammt aus dem 19. Jahrhundert. Sie wurde 1918 nach dem Ersten Weltkrieg und in Westdeutschland noch einmal nach dem Zweiten Weltkrieg weiter gefestigt. Der Staat übertrug die Aufgabe der moralischen Bildung an die evangelische und die katholische Kirche. Das war durchaus nachvollziehbar, denn damals gehörten über 90 Prozent der Bevölkerung einer christlichen Kirche an. An derartigen Verhältnissen, so scheint es, orientiert sich das Bundesverfassungsgericht bis heute. Thomas Heinrichs sagt:
    "Das Bundesverfassungsgericht insgesamt hat eine sehr kirchenfreundliche Rechtsprechung, das muss man sagen. Das andere ist, dass das Bundesverfassungsgericht, glaube ich, generell recht unwillig ist, in diesem Religionsbereich dem Gesetzgeber irgendwelche positiven Vorgaben zu machen."
    Nun liegt der Ball also im Feld der Politik. Und die muss, wohl mehr noch als das Verfassungsgericht, die gesellschaftlichen Realitäten im Blick haben: Also die Tatsache, dass gegenwärtig nur noch gut die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung Mitglied in einer der beiden Amtskirchen ist.
    Juristisch-politische Eiertänze
    Anna Ignatius hatte für ihr Anliegen, dass ihre Kinder in der Grundschule einen nicht religiös geprägten Ethikunterricht erhalten sollen, von Anfang an Unterstützung in der Politik gesucht - und von den Grünen erhalten. Die waren damals in der Opposition.
    Nach dem Regierungswechsel in Baden-Württemberg von Schwarz-Gelb zu Grün-Rot im Jahr 2011 dachte Anna Ignatius, ihre Klage hätte sich erledigt.
    "Die haben ja selber damals einen Antrag gestellt und mich unterstützt und jetzt, also es ist schon sehr irritierend, weil die sind jetzt meine Gegner", erzählt sie.
    Nach einem weiteren Regierungswechsel ist in Baden-Württemberg nun Grün-Schwarz an der Macht. Die Argumentation der Landesregierung gegen Ethikunterricht blieb immer die Gleiche:
    "Da waren zwei Herren da vom Kultusministerium, die zwei Herren sind immer da. Also die Haltung hat sich nicht verändert, die zwei Herren haben sich nicht verändert."
    Die unveränderte Position der Landesregierung lautet: Religionsunterricht muss erteilt werden, so steht es in Artikel 7 des Grundgesetzes. Von Ethikunterricht ist da nicht die Rede - und der kostet Geld. Auf Nachfrage versichert die bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im baden-württembergischen Landtag:
    "Wir halten die Einführung des Ethikunterrichts mit Blick auf die gesellschaftlichen und sozialen Herausforderungen für dringender denn je."
    Im Koalitionsvertrag mit der CDU gibt es tatsächlich eine Vereinbarung zum Fach Ethik: Ab dem Schuljahr 2019/20 soll Ethikunterricht demnach an verschiedenen Schularten in Mittelstufenklassen eingeführt werden. Ethikunterricht an Grundschulen liegt - in Baden-Württemberg jedenfalls - noch in weiter Ferne.
    Rechtsanwalt Thomas Heinrichs angesichts derartiger juristischer und politischer Eiertänze:
    "Natürlich ist das an der Stelle eine Diskriminierung. Man wird benachteiligt, weil man nicht religiös ist, weil man sich eben nicht irgendwie organisiert, und bekommt daher für seine Kinder vom Staat etwas nicht, hier eben einen spezifisch moralischen Unterricht, den Religiöse bekommen."
    Anna Ignatius will Ungleichbehandlung und langwierige Vertröstungen nicht hinnehmen. Ihr Anwalt wird eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen.