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Konfrontation mit der Vergangenheit

Der greise Clemens Westerhoek ist ein erfolgreicher Architekt der Nachkriegszeit. Doch der Stararchitekt ist nicht jener, für den ihn alle Welt hält. Bis 1945 könnte er eine hohe Nazicharge gewesen sein.

Von Florian Felix Weyh | 17.07.2012
    Man sollte meinen, Baustellen seien gefährliche Orte: Gerüste tragen nicht unbedingt ein Geländer, Steine können einem auf den Kopf fallen, und Wind wie Wetter setzen der Gesundheit zu. Architekten also dürften im Durchschnitt nicht sonderlich alt werden. In Wahrheit aber weist diese Berufsgruppe eine erkleckliche Anzahl Hochbetagter auf, ja eigentlich wird jeder zweite berühmte Architekt über 80 Jahre alt. Bei Vertretern dieser Berufsgruppe sammeln sich also Widerstandskraft und Lebenserfahrung in einer Person – und das kann verlockend sein, wenn man einen Helden für seinen Erstlingsroman sucht:

    "Hat keine Rolle gespielt bei der Auswahl dieses Charakters. Was mich eben an einem Architekten mehr interessiert hat, war natürlich: a) wollte ich immer mal was über Architekten machen, weil ich glaub, viele Schreiber lieben Architektur und irgendwie das Bauen und bewundern das. Und zum Zweiten ist natürlich der Gedanke, dass jemand, der vorher was oder zumindest mitgeholfen hat, was zu zerstören, anschließend das selber wieder aufbaut, der hat mich dann natürlich schon interessiert."

    Clemens Westerhoek, zur Zeit der Erzählung 93 Jahre alt, hat noch den Zweiten Weltkrieg mitgemacht. Sein Ruhm allerdings entstammt der unmittelbaren Nachkriegszeit. Er ist ein Vertreter der gemäßigten Moderne, die in den 50er-Jahren neu bauen wollte. Nicht mehr so verschmockt wie im Kaiserreich oder gar unter den Nazis, aber auch keineswegs radikal konstruktivistisch, wie es die Avantgarde der Weimarer Zeit gefordert hatte. Deswegen gehören Westerhoeks Bauwerke zu jenen Hinterlassenschaften der Fünfziger, die bis heute akzeptiert sind – im Roman wie im Leben, denn eine reale Inspiration für den künstlerischen Teil der Figur gab es auch, sagt Günter Overmann:

    "Ein relativ unbekannter Architekt, der hier im Rheinland gearbeitet hat, der eben ganz viel mit diesen Sandsteingeschichten gemacht hat, von dem auch dieses Lichtband unter dem Dach stammt. Aber mir fällt der Name nicht ein, deshalb kann ich dieses Vorbild im Augenblick nicht nennen. Der ist auch vollkommen unbekannt! Der hat hier halt im Rheinland gebaut, eben auch jemand, der erst nach dem Krieg Architektur studiert hat und eben genauso wie Clemens Westerhoek nicht in die Nazi-Bau-Architekturgeschichte eingegangen ist, sondern eben wie gesagt erst danach und Teil des Wiederaufbaus geworden ist."

    Mit dieser – nun wieder fiktiven – Koryphäe eine Fernsehsendung zu machen, sollte eigentlich eine ziemlich unaufregende Sache sein. Man bespricht Werk und Wirkung, zollt Ehrfurcht und übt sich als journalistisches Gegenüber in Bescheidenheit. Sabine May aber hat einen von unzureichenden – wie sich später herausstellt – Recherchen gespeisten Verdacht: Dieser Stararchitekt Westerhoek, ein höflicher, gebildeter, ja charismatischer Mann, ist nicht jener, für den ihn alle Welt hält. Bis 1945 könnte er eine hohe Nazicharge gewesen sein, SS-Sturmbannführer. Die Stunde null, die es im Kollektiv nie gegeben hat, vollzog sich demnach im Leben dieses Menschen in beispielloser Radikalität: Der SS-Mann wurde zum zivilisierten Ästheten. Vielleicht.

    "Ich glaube, dass sich auch Westerhoek in einer bestimmten Weise überhaupt nicht verändert hat. Sondern einfach nur seiner eigenen Energie andere Ziele gesetzt hat. Aber der interne Mechanismus dieses Menschen hat sich eigentlich nicht verändert, zwischen 1940 und 2000 oder 2005."

    Es ist der Mechanismus des Erfolgs, der Westerhoek verdächtig macht: Zielstrebigkeit, Durchsetzungskraft und ein gutes Quäntchen Rücksichtslosigkeit, vor allem gegenüber der eigenen Familie. Üblicherweise werden diese Eigenschaften als Sekundärtugenden gescholten. Die Großvätergeneration besaß sie im Übermaß, während sie den Enkeln, die heute um die 40 sind, zutiefst missfallen. Im Milieu der Medien, in dem sich die Journalistin bewegt, ist eher Opportunismus karrierefördernd. So prallen zwei Prototypen aufeinander.

    "Ich glaube, dass bestimmte Figuren sozusagen unter jeder Regierungsform und unter jeder Regierung erfolgreich sein können und andere eben nicht. Und die beiden habe ich versucht, in dem Buch aufeinander zu hetzen"

    , erklärt Günter Overmann und treibt seine Helden in einen moralischen Zusammenprall hinein. Sabine May, die verbiestert wirkende Journalistin, ist sich ihrer berechtigten Verweigerung jeglicher Absolution vollkommen sicher. Aber sie hält Westerhoek gegenüber keine Fakten in der Hand, und so ärgerte sie ihre Machtlosigkeit umso stärker, je näher die eigentliche Frage auf sie zukommt: Wie schlimm muss etwas gewesen sein – eine Handlung, eine Ideologie –, dass man ihr sein Leben lang nicht mehr entrinnen kann, dass die Nachgeborenen voller Empörung lebenslänglich auf einen zeigen dürfen?

    "Oder umgekehrt formuliert: Was zählt eigentlich? Diese im Fall von Westerhoek ja eben sechs oder acht Jahre, wo er ein SS-Mann war oder ein verantwortlicher SS-Mann, der auch sicher schlimme Dinge getan hat? Oder eben die 60 Jahre danach? Also ist natürlich die zentrale und wahrscheinlich dann irgendwo sogar eine christliche Frage: Kann man etwas wiedergutmachen?"

    Tatsächlich ist die christliche Motivik kein Zufall. Nicht nur, weil die Geschichte im katholischen Rheinland spielt, sondern auch, weil ihr Kern einer Legende folgt. Der Gründer des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola, soll solch eine Saulus-Paulus-Wandlung durchgemacht haben, und sie grub sich Günter Overmann schon als Kind ein. Der fromme Jesuitengründer war nämlich eigentlich ein rechter Haudrauf, ein rauer Söldner, den Schergen des 20. Jahrhunderts nicht unähnlich.

    "Der dann eben verwundet in ein Kloster eingeliefert wurde und eigentlich Ritterromane lesen wollte, weil er sich langweilte, aber es gab in diesem Kloster keine Ritterromane. Und dementsprechend hat er dann die Bibel zur Hand genommen und war sozusagen von dem Tag an ein anderer bzw. auch eben genau nicht! Weil er letztlich das Gleiche gemacht hat, was er vorher getan hat, nur jetzt unter anderen Vorzeichen, nämlich für Gott oder für den Papst dann ja vor allen Dingen."

    "Tauchgang" nimmt diese Reminiszenz zwar auf, doch den entscheidenden Impuls erhielt Overmann nicht beim kindlichen Kirchgang, sondern durch ein Lektüreerlebnis:

    "Dass es dann eben um so eine Figur aus der Nazizeit ging, habe ich eigentlich auch wieder einem Zufall zu verdanken, dass ich über ein Buch gestolpert bin von Claus Leggewie. Das heißt "Von Schneider zu Schwerte" und geht um einen Aachener Germanistikprofessor, Hans Schwerte, der eigentlich Schneider hieß und der als SS-Mann seinen Namen geändert hat, dann ich glaube sogar Ordinarius für Germanistik in Aachen war und sehr stark die Verstrickungen der Germanistik in den Nationalsozialismus erforscht hat. Also so einen großen Schwerpunkt auf Fachgeschichte gelegt hat. Und als ich das las, da gab's halt plötzlich eine Figur, die das gemacht hatte! Die ihr Leben neu erfunden hat."

    Obwohl im Kern ein Gesprächsduell, geht man fehl, wenn man hinter diesem Roman handlungsarme Literatur argwöhnt. Overmanns Hauptberuf als Fernsehserienautor …

    "Also das ist, man kann's ja sagen, 'Sturm der Liebe' auf der ARD. Also jetzt gerade, wo wir reden, läuft eine Folge von mir. (lacht) Das muss man auch nicht kennen! Das ist halt Handwerk, ehrbares Handwerk."

    ... schützt ihn bei allem Interesse an moralischen Fragen vor den Verstiegenheiten allzu intellektueller Schreibweisen. Gerade in den historischen Rückblenden ist "Tauchgang" szenisch orientiert, besticht durch plastische Schilderungen und einen spannenden Plot. Bis zum Schluss weiß der Leser nie so genau, ob die Figur des historischen SS-Mannes tatsächlich mit der des späteren Architekten identisch ist. Fast ein bisschen perfide hat Overmann den greisen Baumeister in der Art eines schlohweißen Ernst Jünger gestaltet: ein Mann, dem man auch noch in seinen Neunzigern abnimmt, dass er körperliche Gebrechen bei sich selbst ignoriert und sich der Frage von Schuld und Verstrickung mit dem jüngerschen Bild der "Häutungen" entziehen könnte. Eine moralisch mehr oder minder verwerfliche Häutung oder eine simple Personenverwechslung? Das bleibt lange offen. Laut Overmann verdankt sich diese gewollte Unsicherheit durchaus seiner "trivialen" Fernseharbeit:

    "Wenn Sie eben sagen, dass es wirklich gelungen ist, dass man bis zum Ende nicht genau weiß, ob Westerhoek nun dieser Nazi ist oder nicht, dann ist das eben genau so einer Schule zu verdanken, dass ich gelernt habe: Wie baue ich das auf, wie halte ich das in der Schwebe, wo setze ich was dagegen? Und so weiter. Also insofern befruchtet sich das unbedingt."

    Zwischen psychologischem Kammerspiel und Geschichtsthriller angesiedelt, ist dieser historische "Tauchgang" durchaus keine Geisterfahrt durch die deutsche Geschichte, sondern nicht zuletzt einem großen Geschichtsbelletristen des 20. Jahrhunderts verpflichtet. Als junger Regieassistent durfte Günter Overmann mit George Tabori arbeiten und lernte von ihm, dass man Tabus zwar ernst nehmen muss, sich aber von ihnen nicht erdrücken lassen sollte.

    "Eines meiner absoluten ... wie soll ich sagen? ... Lebensmotto stammt von Tabori. Und das ist: "Wir haben wenig Zeit, wir müssen ganz langsam arbeiten!"

    Und so arbeitete es auch in Clemens Westerhoek sehr langsam. Am Ende von Buch und Leben wirkt er zumindest für den unbefangenen Leser mit dieser Art von Vergangenheitsentsorgung wesentlich authentischer als die hysterische Anklägerin aus dem Journalistenmilieu. Es ist ein Sieg nach Art des Ignatius von Loyola.

    Günter Overmann: "Tauchgang". Elster Verlag, 216 Seiten, 28 Euro