Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Konfuzius und die Demokratie

Herzog King von Ts'i fragte Konfuzius nach dem Wesen einer guten Regierung. Konfuzius antwortete: "Der Fürst sei Fürst, der Untertan Untertan, der Vater Vater und der Sohn Sohn." "Vorzüglich" sagte der Herzog. "Wahrlich, wenn der Fürst nicht Fürst, der Untertan nicht Untertan, der Vater nicht Vater und der Sohn nicht Sohn ist, wie käme ich dazu, mein Essen zu genießen, selbst wenn es genug Nahrung gibt?"

Von Inge Breuer | 04.08.2011
    Professor Karl Heinz Pohl, emeritierter Sinologe an der Universität Trier, erläutert die moralischen Grundlagen des Konfuzius.

    "Man sagt ja immer von der Konfuzianischen Ethik, sie sei eine Rollenethik. Ich hab die Rolle als Vater, als Vater verhalte ich mich meinen Kindern gegenüber gütig, erzieherisch, wohlwollend verantwortungsvoll, als Kind verhalte ich mich meinen Eltern gegenüber respektvoll, hilfsbereit usw."


    "Kindliche Pietät ist die Grundlage der Tugend und der Ursprung aller geistigen Kultur. ... Das Rechte tun und auf dem Pfad des Guten wandeln und so einen guten Namen auf die Nachwelt bringen, auf dass die Ahnen geehrt werden, das ist die Krönung der Pietät. Sie beginnt damit, dass man seinen Eltern dient, führt zum Dienst beim König und endet mit dem Gewinn eines Charakters."

    Prof. Heiner Roetz, Sinologe an der Universität Bochum:

    "Worum es hier geht, das ist ein Kodex von Verhaltensregeln, den die Chinesen Li genannt haben. Den kann man sich vorstellen ... nach einer Art eines sehr detaillierten Knigge. Da wird differenziert nach sozialer Stellung, nach Alter, nach Geschlecht, nach Rolle, nach Funktion. Jeweils ganz konkrete Verhaltensvorschriften werden gemacht, an denen man sich orientieren soll."

    Konfuzius war ein Wanderphilosoph in politisch instabilen Zeiten. Er lebte vermutlich von 551 bis 479 vor Christus. Zeitweise verdingte er sich als Lehrer. Zeitweise wirkte er als Berater an verschiedenen Fürstenhöfen, wo er aber regelmäßig wieder in Ungnade fiel. Er selbst schrieb seine Lehre nie nieder.

    "Um Konfuzius ranken sich viele Legenden. Er hat nichts geschrieben. Was wir von ihm haben, ist von Schülern überliefert. Im Wesentlichen eine Aphorismensammlung."

    Konfuzius prägte das chinesische Denken über die Jahrtausende. Mao versuchte zwar, den "Konfuzianismus" als feudales Klassensystem auszurotten. Doch seit der Zeit der wirtschaftlichen Öffnung greift man in China wieder auf die alten Lehren zurück, denn Marx und Mao eignen sich kaum mehr, das augenblickliche politische System zu legitimieren. Im Januar wurde sogar auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens eine Riesenstatue des "Meister Kong", wie ihn die Chinesen nennen, aufgerichtet, nicht weit vom Mausoleum des "großen Steuermanns" Mao entfernt. Mehr und mehr "Konfuzius-Institute" bringen dem Ausland Sprache und Kultur des Riesenreiches näher. Und Umfragen zufolge orientiert sich auch Chinas akademische Jugend zunehmend wieder an den Lehren des alten Meisters.

    "Man operiert sehr stark mit dem Harmoniebegriff, der ja unter anderem aus dem Konfuzianismus stammt und mit dem man jetzt ein Versprechen formuliert, dass die Zukunft Chinas ganz anders aussehen wird als die Gegenwart. Es gibt sehr große Einkommensunterschiede, ein großes Auseinanderklaffen der Chancen, Unterschiede zwischen Stadt und Land. Und man versucht das, mit der Harmonierhetorik zu übertünchen."

    "Der Edle strebt nach Harmonie, nicht nach Gleichheit. Der Gemeine strebt nach Gleichheit, nicht nach Harmonie."

    "Harmonie und Mitte, Gleichmut und Gleichgewicht", sah Konfuzius als höchstes menschliches Ziel an. Der Einzelne begreift sich als Teil eines größeren Ganzen. Und jeder nimmt dann seinen Platz ein – in einem hierarchisch geordneten Gemeinwesen.

    "Das Volk kann man wohl leiten, aber nie zur Erkenntnis führen"

    Karl Heinz Pohl grenzt dieses Denken vom europäischen Denken ab.

    "Wir haben bei uns in Europa, das geht noch nicht so richtig los bei den Griechen, aber vor allem in der Aufklärung, eine Art von Individuum, das abstrakte verrechtlichte Individuum wird in den Vordergrund gestellt. Und die Chinesen stellen den Mensch in seinen Beziehungen in den Vordergrund ... Das ist keine Besonderheit, das war im vormodernen Europa nicht viel anders, dass der Mensch in eine Ordnung eingebettet war, in einer göttlichen Ordnung."

    Ein autoritärer Führungsstil erscheint dann als nahezu naturgegeben. Im Namen von Konfuzius grenzen sich die heutigen Politiker Chinas vom westlichen Individualismus ab, der letztlich den Egoismus des Einzelnen fördere. Und so ließ sich gar die Verhaftung des chinesischen Künstlers Ai Weiwei legitimieren, sei dieser doch ein Außenseiter der chinesischen Gesellschaft, der "seinen Weg allein" – also gegen die Gemeinschaft – "gehen will".

    "Es wird häufig damit operiert, dass der Westen ein atomistisches Menschenverständnis habe. Und in China soll es kein atomistisches Menschenbild geben, sondern ein gemeinschaftliches ... Und daraus wird mehr oder weniger ein Primat von Gemeinschaftsinteressen gefordert, in dessen Namen dann die klassischen Menschenrechte eingeschränkt werden."

    In seinem berühmt gewordenen Buch über den "Clash of civilizations" beschrieb Samuel Huntington die Kultur des Konfuzianismus als Gegenmodell zur westlichen Lebensform. Dies vor allem wegen des Vorrangs der Gruppe vor dem Individuum, wegen seiner familienbezogenen und patriarchalischen Traditionen und des Fehlens eines Rechtssystems, welches über dem Staat steht. Auch unter Sinologen ist die Meinung verbreitet, Konfuzius und seine Schule kenne den Begriff eines Individuums nicht, das als Träger von Rechten gegen den Staat infrage käme. Und selbst chinesische Intellektuelle sahen nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs im Jahr 1911 in der konfuzianischen Tradition den Grund für das Scheitern des eigenen Landes.

    "Das hat man sich die Frage gestellt, weshalb sind wir dem Westen gegenüber so schwach, obwohl wir ja eigentlich immer die Zivilisation dargestellt haben, die für die umliegenden Länder maßgebend war. ... Es ist so, dass ... der Laden von Konfuzius zerschlagen werden sollte, das war die Einstellung der führenden Intellektuellen der Zeit."

    Noch heutige Bürgerrechtler wie der inhaftierte Träger des Friedensnobelpreises 2010 Liu Xiaobo vertreten die Auffassung, dass die chinesische Tradition wenig mehr hervorgebracht habe als eine konformistische Sklavenmoral. Liu Xiaobo bekennt sich deshalb ausdrücklich zu einer Art westlichem Werteimport. Heiner Roetz, Chinawissenschaftler an der Uni Bochum, findet das verständlich, zugleich aber auch überflüssig.

    "Nun ich bin kein radikaler Gegner solcher Argumente, man muss sich ja nicht an seiner Tradition orientieren. Ich würde nur meinen, dass es in China nicht nötig ist, die Tradition den Feinden zu überlassen, sondern man kann etwas daraus machen, indem man die Tradition neu rekonstruiert und die nicht hierarchischen Argumente in den Vordergrund rückt."

    Für Heiner Roetz liegt in den Lehren des Konfuzius ein Doppeltes: Zweifelsohne gibt es darin die Idee einer hierarchisch geordneten Gesellschaft von "Edlen" auf der einen und "Gemeinen" auf der anderen Seite. Doch zugleich lasse sich in der Ethik des "Meister Kong" durchaus auch die Idee eines autonomen moralischen Wesens finden, dass vor aller politischen Belehrung selbst zwischen richtig und falsch unterscheiden könne. Denn erstmals wird dort auch jene "Goldene Regel" formuliert, die sich in der Folge dann in allen praktischen Ethiken finden lässt:

    Zigong, ein vertrauter Schüler, fragte seinen Meister einmal: "Kann man mit einem Wort sagen, was das [Wichtigste] ist, wonach man sich ein ganzes Leben lang richten sollte?" An dieser Stelle antwortet Konfuzius zunächst: "Wie wäre es mit 'shu', mit gegenseitiger Rücksichtnahme?" Und dann fügt er hinzu: "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg' auch keinen anderen zu."
    "Also diese Wechselseitigkeit, die dort angenommen wird, die führt über das bloße hierarchische Denken hinaus. In der goldenen Regel wird der andere als solcher angesprochen und nicht als jeweils bestimmter, der sich auf einer höheren oder niedrigeren Position in der Hierarchie befindet."

    Vor allem aber bei Konfuzius' Nachfolger Menzius gebe es, so Heiner Roetz, das Ideal einer "Menschlichkeit", die jeden unabhängig von Stand und Herkunft betreffe. Ein Mitleiden mit dem anderen Menschen, weil er wie ich ein Mensch ist. Und zudem wohne jedem einzelnen, so Menzius, die natürliche Fähigkeit zum moralischen Urteil inne. Radikal gesprochen: der Träger von Moral ist der einzelne Mensch, nicht das Kollektiv oder ein Staat, die über das Richtige befinden.
    "Ich habe ja gerade Menzius genannt und er hat zum Beispiel die Ansicht vertreten, dass jeder einzelne Mensch die Ansätze zum moralischen Urteilen in sich hat. Und er braucht dazu keine äußere Belehrung: und da ist ein Bezug zum Individuum im Spiel. Es gibt sogar den Begriff der Würde bei Menzius, der sagt, dass diese moralischen Grundlagen, die dem Menschen angeboren sind, etwas Würdiges in ihm ausmachen und er muss sich entsprechend verhalten."

    Welcher Konfuzius darf es denn nun sein, so möchte man fragen? Jener, der dazu auffordert, seine jeweilige Stellung in der Gesellschaft einzunehmen, um einer höheren Harmonie willen? Oder jener, in dessen Ethik bereits die Möglichkeit des Einzelnen zum Selberdenken und –urteilen angelegt ist?

    Lässt sich aus einer Morallehre, die vor 2500 Jahren entwickelt wurde, bereits so etwas wie eine Utopie von Gleichen, sprich Demokratie, herauslesen, wie Heiner Roetz meint?

    "Die antiken Konfuzianer konnten keine Demokraten sein, weil für einen solchen Gedanken einfach die Voraussetzungen fehlten. Die Konfuzianer sind aber so weit gegangen, dass sie aber das Volk immer als die letzte Basis der Politik immer angesehen haben, nicht den Herrscher. Das Volk ist die letzte Basis, und das geht sehr stark in Richtung möglicher demokratischer Ideen."

    Immerhin, Länder wie Taiwan oder Südkorea, durchaus in den Traditionen des chinesischen Philosophen stehend, haben Demokratisierungsprozesse durchlaufen. Trotzdem: Konfuzius mit Demokratie zu verbinden, sieht der Trierer Chinawissenschaftler Karl-Heinz Pohl skeptisch:

    "Das kann man so sehen, aber das ist doch nicht der Schwerpunkt. Das ist genauso, wie wir heute unsere eigene Tradition aufbürsten und versuchen herauszufinden, was es denn für Ansätze für unser modernes Menschenrechtsdenken bei Sokrates und bei Platon usw. gegeben hat. Die haben nicht in diesen Bahnen gedacht. Klar finden wir bei denen, wenn wir genau hingucken, Vorprägungen, wir finden bestimmte Dinge, die sich als Vorformen dessen sehen lassen, aber so was, das geht doch an den eigentlichen Ideen, die die damals hatten, vorbei."

    In China, so Karl-Heinz Pohl, fehlten die historischen und kulturellen Voraussetzungen "... welche das liberal-demokratische Modell in unseren Breiten zu einer derartigen Erfolgsstory werden ließen." Hinzu kämen demografische und ökonomische Besonderheiten: Es existiere bislang keine breite Mittelschicht, die Bürgerrechte einfordere. Zudem sei ein Land mit 1,3 Milliarden Menschen vor besondere Herausforderungen gestellt, wenn es seine Einheit wahren wolle.

    "Die Demokratie ist natürlich ein westliches Modell und viele Leute haben immer wieder drauf hingewiesen, dass, wenn Demokratien erfolgreich sein wollen, brauchen sie Rahmenbedingungen. Die fehlen in China. Gleichwohl könnte ich mir vorstellen, dass irgendwann in China mal eine Demokratie stattfindet, die sehr chinesische Besonderheiten hat. Insofern muss man sehen, was die Chinesen aus ihrer eigenen Tradition haben und was sie machen werden."

    Letztlich steht hinter der Diskussion, wie "demokratisch" Chinas Erbe ist, die Frage, ob wir unsere eigenen Normen und Werte als universal beschreiben können. Lassen sich humanistische Ideale, Ideen von Freiheit und Gleichheit aller Menschen überall auf der Welt finden? Oder müssen wir kulturelle, religiöse, geschichtliche Besonderheiten berücksichtigen? Ist, pointiert gesprochen, Demokratie eine westliche oder eine globale Idee?

    "Dieses Argument, dass die asiatischen Völker nicht für die Demokratie geeignet seien, das findet sich schon im westlichen Kolonialismus. Und paradoxerweise wird das von den nachkolonialen Eliten im Osten übernommen, um deren Macht zu stärken."

    Dass Traditionen und kulturelle Besonderheiten eines Landes über die Zeiten hinweg prägend bleiben, auch das wusste bereits Konfuzius. Doch ebenso wusste er, dass zu diesen Traditionen immer auch etwas Neues hinzukommen kann. Ob das allerdings dann unsere Werte sind, das mögen wir hoffen. Wissen können wir es freilich nicht.

    "Tse-Tschang fragte, ob man Dinge nach zehn Generationen überhaupt noch wissen könne. Der Meister antwortete: 'Die Yin folgen den Sitten der Hia, und man kann noch erkennen, was sie fortsetzten und was sie hinzutaten. Die Tschou folgten den Sitten der Yin und man kann noch erkennen, was sie fortsetzten und was sie hinzutaten. Mag ein anderes Volk den Tschou folgen, man wird sie nach einhundert Generationen noch kennen."