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Kongeniale Zusammenarbeit

Das Orchestre Symphonique de Montréal unter der Leitung von Kent Nagano hat gemeinsam mit dem Bariton Christian Gerhaher Lieder Gustav Mahlers eingespielt. Der Dirigent und der Bariton zeigen einen faszinierenden, facettenreichen und bestürzenden Mahler fernab von Schwülstigkeit und Romantizismus.

Von Klaus Gehrke | 10.11.2013
    Im Mittelpunkt der Sendung steht heute eine Einspielung von Liedern Gustav Mahlers mit dem Bariton Christian Gerhaher und dem Orchestre Symphonique de Montréal unter der Leitung von Kent Nagano, die beim Label Sony Classical erschienen ist.

    Musik 1: Mahler, Gesellen-Lieder, Nr. 1

    Lieder spielten für das kompositorische Schaffen Gustav Mahler zeitlebens eine wichtige Rolle: Sie dienten als Experimentierfeld oder als thematisches Material für seine Sinfonien und sind dabei ganz eigene Werke, in denen der Komponist seine literarischen und realen Erlebnisse oder auch seine Sicht auf die Welt in Musik umsetzte. Heiter geht es in Mahlers Liedern eher selten zu: Das zeigt bereits sein erster 1885 vollendeter Zyklus der ‚Lieder eines fahrenden Gesellen‘.

    Ursprünglich umfasste der Zyklus sechs Lieder, von denen Mahler zwei wieder strich. Und er hatte einen realen Hintergrund: In seiner Zeit als Musikdirektor am Kasseler Theater verliebte Mahler sich leidenschaftlich in die Sängerin Johanna Richter, die seine Gefühle jedoch nicht erwiderte. Seine Verzweiflung darüber brachte er in den ‚Liedern eines fahrenden Gesellen‘ zum Ausdruck, die dramaturgisch ähnlich wie Franz Schuberts ‚Schöne Müllerin‘ oder die ‚Winterreise‘ angelegt, aber wesentlich kompakter sind. Den dramatischen Höhepunkt darin bildet das dritte Lied ‚Ich hab ein glühend Messer‘, dessen ganze Wucht in der von Mahler um 1895 vorgenommenen Orchestrierung noch deutlicher hervortritt.

    Musik 2: Mahler, Gesellen-Lieder Nr. 3

    Eigentlich, so verriet der Bariton Christian Gerhaher kürzlich in einem Interview, ziehe er die ursprüngliche Fassung der ‚Lieder eines fahrenden Gesellen‘ mit Klavierbegleitung der späteren mit Orchester vor. Das gelte auch für die fünf Lieder nach Texten von Friedrich Rückert, die Mahler zwischen 1901 und 1902 komponierte und die Gerhaher bereits mit dem Pianisten Gerold Huber auf CD eingespielt hat. Diese sogenannten Rückert-Lieder bilden keinen Zyklus, sondern sind eher eine Sammlung, die gewissermaßen Einblick in Mahlers private Welt zu geben scheinen: ‚Blick mir nicht in die Lieder‘ etwa weist auf dessen Unwillen hin, öffentlich über seine Kompositionswerkstatt zu reden. Das Lied ‚Liebst du um Schönheit‘ war ein Geschenk an Ehefrau Alma und sollte zunächst nicht veröffentlicht werden. Als einziges der Rückert-Lieder wurde es nicht von Mahler instrumentiert, sondern vom Leipziger Kapellmeister Max Puttmann. Allerdings fand diese Fassung die Zustimmung des Komponisten.

    Musik 3: Mahler, Rückert-Lieder Nr. 4

    Während Mahler die Rückert-Lieder sowohl für Klavier- als auch Orchesterbegleitung konzipierte, hatte er für die so genannten ‚Kindertotenlieder‘ von vornherein eine Orchesterbesetzung eingeplant. Auch hier dienten Gedichte von Rückert als Textvorlage. Doch während dieser 1834 darin den Schmerz über den plötzlichen Tod zweier seiner Kinder zu verarbeiten suchte, vertonte Mahler sie im Sommer 1904 in einer privat sehr glücklichen Zeit, in der auch seine zweite Tochter zur Welt kam. Allerdings ereilte ihn drei Jahre später das gleiche Schicksal: Seine ältere Tochter starb an einer Diphterie-Erkrankung. Was Mahler an der Vertonung der Kindertotenlieder so gereizt hat, ist nicht bekannt: Möglicherweise war es der Schmerz über die Welt, der neben der Trauer aus den Texten spricht und für den der Komponist zeitlebens sehr empfänglich war. Für beides sind die ‚Kindertotenlieder‘ ein erschütterndes musikalisches Zeugnis. Das zeigt beispielsweise das dritte Lied ‚Wenn dein Mütterlein‘.

    Musik 4: Mahler Kindertotenlieder Nr. 3

    Rührselige Sentimentalität hat in Christian Gerhahers Interpretationen der Lieder Gustav Mahlers keinen Platz; eher setzt der Bariton auf Transparenz und messerscharfe hintergründige Analyse. Kent Nagano und das Orchestre Symphonique de Montréal sind zudem kongeniale Partner: Sie arbeiten die Farbigkeit und Poesie, aber auch die Dramatik und beklemmende Dunkelheit der Partituren deutlich heraus. 2009 hatten Gerhaher und Nagano mit dem ‚Lied von der Erde‘ ihre sehr bemerkenswerte Zusammenarbeit in Sachen Mahler begonnen. Deren Fortsetzung dokumentiert die nun veröffentlichte Aufnahme eines Konzertmitschnittes vom Januar 2012 aus dem Konzerthaus in Montreal. Wieder präsentieren der Dirigent und der Bariton einen faszinierenden, facettenreichen und bestürzenden Mahler fernab von Schwülstigkeit und Romantizismus. Einziger kleiner Wermutstropfen an dieser Aufnahme ist für mich das letzte der ‚Kindertotenlieder‘: Während Nagano mit dem Orchestre Symphonique de Montréal ein Mahlertypisches bedrückend spukhaftes Wetterleuchten entfacht, fällt Gerhahers Gestaltung des von fast wahnsinniger Verzweiflung geprägten ersten Teils des Textes zu nüchtern und distanziert aus.

    Musik 5: Mahler, Kindertotenlieder Nr. 5

    Ein absolutes Highlight ist dagegen die melancholisch abgeklärte Interpretation des letzten der ‚Rückert-Lieder‘: ‚Ich bin der Welt abhandengekommen‘. Musikalisch gesehen nahm Mahler hier die späteren Klangwelten des ‚Liedes von der Erde‘ bereits vorweg.

    Musik 6: Mahler Rückert-Lieder, Nr. 5

    Das war ein Ausschnitt aus dem letzten der ‚Rückert-Lieder‘ von Gustav Mahler mit Christian Gerhaher und dem Orchestre Symphonique de Montréal unter der Leitung von Kent Nagano. Deren neue CD mit Mahlers ‚Liedern eines fahrenden Gesellen‘, den ‚Kindertotenliedern‘ und den Rückert-Liedern‘ ist beim Label Sony Classical erschienen.

    Vorgestellte CD:
    Gustav Mahler: Lieder eines fahrenden Gesellen, Kindertotenlieder, Rückert-Lieder
    Christian Gerhaher, Bariton, Orchestre Symphonique de Montréal, Kent Nagano
    Sony Classical 888837013321