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Konjunktur der Kulturwissenschaften

Die Orchideenfächer kämpfen an den Hochschulen ums Überleben. Das Kulturwissenschaftliche Institut in Essen hat nun zu einer Tagung über die Zukunft der Geistes- und Kulturwissenschaften eingeladen.

14.06.2005
    Doris Schäfer-Noske: Seit den 90er Jahren gibt es den Trend zur Gründung fachübergreifender kulturwissenschaftlicher Seminare. Ist das denn mehr sein als eine Verteidigungsstrategie der Geisteswissenschaften?

    Wolfgang Ullrich: Ja, es ist einfach auch eine Antwort darauf, dass es in der Gesellschaft so viele Problemfelder gibt, so viele Forschungsfelder gibt, wo Kulturwissenschaften einfach vielleicht doch am meisten Kompetenz haben, erstens mal im Identifizieren dieser Felder und zweitens dann auch im Analysieren dieser Felder, dass das gewiss nicht nur eine Defensivgeste ist.

    Schäfer-Noske: Der Sozialphilosoph Alexandrowitsch hat einmal das Rezept formuliert: Man nehme sechs Achtzehntel Geschichtswissenschaft, drei Achtzehntel Sprachwissenschaft, ein Achtzehntel Politikwissenschaft. In welcher Hinsicht können denn die Kulturwissenschaften mehr sein, als die Summe ihrer Teile? Können Sie da mal ein Beispiel nennen?

    Ullrich: Gut, ich würde natürlich auch noch andere Achtzehntel da gerne hinzufügen, als jemand der selber Kunstwissenschaftler ist. Es gibt so ein Bonmot von Odo Marquard, zu sagen, Kulturwissenschaftler oder Geisteswissenschaftler überhaupt sind Spezialisten für das Allgemeine. Und darin steckt das vielleicht schon, die Fähigkeit von Kulturwissenschaftlern, weit über eine so enge Fachdisziplin auch jeweils hinauszusehen und doch so größere Zusammenhänge zu erkennen. Dass sie nicht unbedingt nur eine Fachkompetenz erwerben, sondern auch - was man vielleicht manchmal mit dem Schlagwort Orientierungswissen bezeichnet - vermittelt bekommen die Fähigkeit, sich in verschiedenen Milieus relativ schnell zurecht zu finden, relativ schnell bei einem Gesprächspartner einzuschätzen, kommt der von der linken Ecke, kommt der aus dem katholischen Milieu, auch schon von ästhetischen Codes ausgehend, sich ein Milieu zu erschließen - das sind Fähigkeiten, die ganz manifest sind und auch ganz zentral und an vielen Stellen einfach auch von ganz hoher Bedeutung.

    Schäfer-Noske: Gibt es denn auch Themen, die an kulturwissenschaftlichen Instituten Themen sind und die sonst, wenn das ganze in die verschiedenen geisteswissenschaftliche Disziplinen zerfällt, nicht Themen an der Hochschule wären?

    Ullrich: Ich glaube schon, dass kulturwissenschaftliche Institute da schneller auf aktuelle Fragen reagieren können, gerade im Bereich Sozialpolitik beispielsweise. Und dass kulturwissenschaftliche Institute da oft eher zu vergleichen sind mit Feuilletons als mit akademischen Institutionen, schnell reagieren und auch meinungsbildend und Stellung nehmend reagieren, also nicht nur die Position des Beobachters einnehmen, sondern auch die Position einnehmen, wo Entwicklungen bewertet werden.

    Schäfer-Noske: Sie haben vorher Sekundärtugenden von Geisteswissenschaftlern beschrieben, die doch sehr in den psychologischen Bereich gehen. Ich sage jetzt mal ein Psychologe, der vielleicht in einer Personalabteilung sofort einschätzen kann, der Mitarbeiter ist gut geeignet oder er ist nicht gut geeignet. Das würde ja die Geisteswissenschaften sehr stark am Marktwert orientieren. Sehen Sie da die Zukunft?

    Ullrich: Nicht die Zukunft aber eine Zukunft beziehungsweise auch nicht nur eine Zukunft, sondern auch schon eine Gegenwart. Es gibt natürlich auch noch Bereiche von Wissenschaft, die kaum öffentlich sind - ich würde das mal fast als Schattenwissenschaft bezeichnen - nämlich zum Beispiel wie sehr sich Unternehmen auch gerade geisteswissenschaftlicher Kompetenzen bedienen und Expertisen schreiben lassen, sowohl zu Bereichen, die man so schlagwortartig Trendforschungen nennt, als auch zum Beispiel zu Fragen, wenn es um Designentwicklungen geht oder natürlich um Imagebildung geht, um Markenforschung. Das sind alles Bereiche, wo Geisteswissenschaftler auch heute schon - natürlich weitgehend versteckt von der Öffentlichkeit, unter Geheimhaltungspflicht - sehr viel Arbeit leisten. Dieser Slogan "Ende der Bescheidenheit", unter dem heute diese Tagung steht in dem Institut hier in Essen, ist vielleicht auch ein Aufruf zu diesem verstärkten Selbstbewusstsein. Und das kann man natürlich jetzt als Reaktion schon auf solche Marktanforderungen beschreiben. Ich sehe es aber insofern nicht als allzu problematisch an, als es nicht heißt, dass sich die Geisteswissenschaft deshalb verändern muss, sich anpassen muss, so dass sie sich selber erst marktgängig deformieren muss. Sondern sie muss nur ihre Marktfähigkeiten auch erkennen und als solche dann auch sichtbar werden lassen.

    Schäfer-Noske: Das war der Kunsttheoretiker, Wolfgang Ullrich, anlässlich einer Tagung zur Zukunft der Geistes- und Kulturwissenschaften in Essen.