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Konkrete Begebenheiten und scheinbare Nebensachen

Ob als Erzähler, Denker, Filmer oder Fernsehmann - Kluge widmet sich dem jeweiligen Metier immer mit ganzer Leidenschaft, nicht ohne jedoch zugleich die dazugehörigen Konventionen gründlich umzukrempeln. Das jüngste Beispiel dafür sind die "Geschichten vom Kino", die rechtzeitig zu seinem 75. Geburtstag erscheinen.

Von Eberhard Falcke | 14.02.2007
    Überblickt man Alexander Kluges vielfältiges Wirken, dann könnte man ihn ohne Übertreibung als Ein-Mann-Denkfabrik bezeichnen. Allerdings haben Kluges Methoden nichts von der abgedichteten, wenn nicht gar gepanzerten Geschlossenheit, die der amerikanische Ausdruck Think Tank evoziert.

    Ebenso wenig produziert er fertige Theorieware. Im Gegenteil: Kluge ist auch als Denkfabrik - wie in allem, was er anpackt - das ganz Andere des Etablierten. Doch genau darin manifestiert sich eines seiner frühen Grundprinzipien, dem er so treu geblieben ist, wie nur selten einer. Ob als Erzähler, Denker, Filmer oder Fernsehmann - Kluge widmet sich dem jeweiligen Metier immer mit ganzer Leidenschaft, nicht ohne jedoch zugleich die dazugehörigen Konventionen gründlich umzukrempeln.

    Das jüngste Beispiel dafür sind die "Geschichten vom Kino", die rechtzeitig zu seinem 75. Geburtstag erscheinen. Der Band enthält Gedanken zum Film und seiner Geschichte, Anekdoten, sowohl historischer als auch persönlicher Art, theoretische Überlegungen, Dokumente, Streiflichter und manche Rückblicke. Trotzdem hat das Buch nichts von jenen Erfahrungsschatzkästchen, in denen oftmals in die Jahre gekommene Profis ihr Wissen und ihre Weisheiten zur Ruhe betten. Bei Alexander Kluge wird weitergedacht und alles bleibt unablässig in Bewegung: Sichtweisen, die Widersprüche, die Suche nach Perspektiven. Das beginnt schon mit seiner Vorstellung vom Kino, die auf Entgrenzung und Erweiterung angelegt ist.

    Zitatsprecher:
    "Ich möchte auch gleich klarstellen, daß es mir in diesen 120 Geschichten um das ‘Prinzip Kino’ geht. Ich halte dieses ‘Kino’ für unsterblich und für älter als die Filmkunst. Es beruht darauf, daß wir etwas, das uns ‘innerlich bewegt’, einander öffentlich mitteilen. Auch wenn die Kinoprojektoren einmal nicht mehr rattern, wird es, das glaube ich fest, etwas geben, ‘das wie Kino funktioniert’".

    Und wie funktioniert Kino? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, benutzt Kluge hier nicht zum ersten Mal einen Kunstgriff. Er geht mit der ihm eigenen Vorliebe für die frühe Filmgeschichte zurück zu den Anfängen, als man noch keine feste Vorstellung davon hatte, wie das neue Medium zu nutzen wäre und noch ziemlich anarchisch mit den Elementen des Filmens herumprobiert wurde.

    Diese Zerlegung des Phänomens Kino in seine ursprünglichen Bestandteile erlaubt kühne und überraschende Überlegungen, die sonst nur schwer nachvollziehbar wären. Zum Beispiel die Idee vom KOSMISCHEN UNIVERSALKINO. Sie geht auf den Juristen Felix Eberty zurück, der 1846 das Buch "Die Gestirne und die Weltgeschichte" publizierte.

    Zitatsprecher:
    "Richtigerweise nahm er an, daß ein Lichtstrahl, der die Erde am Karfreitag des Jahres 30 n.Chr. Geburt verlassen hat, sich noch immer im Kosmos vorwärtsbewegt, und zwar von uns weg. Insofern sei alle Vorgeschichte im Weltall aufbewahrt auf den Schienen des Lichts. Die ganze Weltgeschichte sei folglich als BEWEGTE BILDERFOLGE (das Wort Kino kannte Eberty nicht) im Kosmos unterwegs."
    Welch berauschende Idee! Sie setzt beim Lesen sogleich das Kopfkino der Imagination in Gang, über das sich der Autor einige Seiten davor bei dem Gehirnforscher und Nobelpreisträger Prof. Dr. Kandel erkundigt hat.
    Man kann ihn bei der Lektüre geradezu hören: den eigentümlichen Tonfall, mit dem Kluge in seinen Fernsehgesprächen die eingeladenen Kapazitäten aus den unterschiedlichsten Fach- oder Lebensbereichen zu befragen pflegt. Wie er mit leisem, hyper-sachlichen Insistieren das Gespräch lenkt, dabei stets auf der Lauer, welche ungeahnten Schlussfolgerungen sich aus den Mitteilungen der Gesprächspartner wohl ziehen lassen.

    Im häufigen Glücksfall sind das Gedankengänge im Duett, bei denen Ideen und Einsichten hervorgelockt und entfaltet werden. Ganz im Gegensatz zur gängigen Fernsehpraxis des Talk-Gewerbes, das selbst unter dem Titel "Philosophisches Quartett" kaum noch mehr als das Wettkegeln mit Statements erlaubt.

    Das fortwährende Hervortreiben von Ideen und Reflexionen ist Kluges Metier, Dialog und Dialektik gehören dabei zu seinen Mitteln. Schon in "Lebensläufe" war das so, dem ersten bereits völlig charakteristischen Kluge-Buch, mit dem er 1962 als Autor hervortrat. Zwei umfangreiche gesellschaftstheoretische Studien erarbeitete er im Austausch mit dem Soziologen Oskar Negt: "Öffentlichkeit und Erfahrung", 1972, sowie "Geschichte und Eigensinn", 1981.

    Nach der totalitären Formierung der deutschen Gesellschaft im Dritten Reich, die zu Verbrechen und Katastrophe führte, interessierte sich schon der junge Kluge nun vor allem für die Individuen, für ihre Erfahrungen und Beweggründe unterhalb der großen Geschichte mit ihrer Verallgemeinerungsgewalt, in der oft genug sowohl der Einzelne als auch die Einzelheiten des Daseins untergehen. Entsprechend trägt Kluges im Jahr 2000 publiziertes gesammeltes schriftstellerisches Werk programmatisch passend den Titel "Chronik der Gefühle".

    Auch die "Geschichten vom Kino" gehen stets vom Einzelnen, nie vom Allgemeinen aus, von konkreten, zuweilen sonderbaren Begebenheiten, Beobachtungen, scheinbaren Nebensachen. Zum Beispiel von einem Platzregen, der zum Glücksfall wurde.

    Zitatsprecher:
    "Eines der gewaltigsten Sommergewitter erreichte München im Sommer 1987. Sofort brachten wir beide 35-mm-Arriflex-Kameras und eine 16-mm-Kamera in Position ... Daß aber Kameras rechtzeitig einen Guß von solcher Dimension aufnehmen, geschieht in hundert Jahren höchstens zweimal. Der Vorrat an Regen, den wir in dieser Spätnachmittagsstunde erbeuteten, reichte für Rückpro und für Bluebox in den nächsten 15 Jahren."

    So hat es anfangs überhaupt mit dem Filmen begonnen. Bei den ersten Versuchen dokumentierte man Außergewöhnliches und Staunenswertes, die Hinrichtung eines Elefanten, dampfende Lokomotiven, eine Sonnenfinsternis. Kluge machte sich diesen frühzeitlichen Kinoblick schon bald zueigen. Als Assistent von Fritz Lang interessierte er sich weniger für die Dreharbeiten des "Tiger von Eschnapur" als für das Schattenspiel des Sonnenlichts in einem Nebenraum.

    Nur zwei Prozent dessen, was in der Welt geschieht, behauptet der Autor, sei spielfilmtauglich, 98 Prozent dagegen nicht. Darin zeigt sich ein weiterer seiner Wesenszüge: Dieser Filmer interessiert sich für die Welt nicht primär unter dem Gesichtspunkt ihrer Verfilmbarkeit. Stattdessen ist Film für ihn einerseits ein Mittel, andererseits ein Gegenstand der Erkenntnis - neben etlichen anderen.

    Zitatsprecher:
    "Es ist eine ganz falsche Annahme, daß Kreativität im Film irgendwas ‘erfindet’; vielmehr ‘unterscheidet’ die Filmarbeit normale, wirkliche Verhältnisse von ungewöhnlichen. Oder sie sagt etwas voraus und stellt das Aufnahmegerät, wie einen Jäger, an die rechte Stelle, lange bevor etwas passiert. Und wenn alles nichts hilft, stellt sie ‘ungesehene Erfahrung’ her durch Rekonstruktion."

    Differenzieren, nach überraschenden Einblicken jagen, Erfahrung ins Bild fassen: Das praktiziert Kluge beim Filmen, beim Schreiben und im Gespräch. Beobachten, reflektieren, konstruieren, dekonstruieren - wer sich in die Denkfabrik von Kluges Werk begibt, der bekommt auch selbst tüchtig zu tun. Denn, wie gesagt: Hier werden keine fertigen Erkenntnisse hergestellt, sondern die Vorstellungskraft in Schwung gebracht mitsamt jenem kritischen Ahnungsvermögen, das nicht bereit ist, sich mit gängigen Ansichten ohne weiteres abzufinden.

    Alexander Kluge: "Geschichten vom Kino", (Suhrkamp Verlag)