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Konkretes Denken im Meer der Ungewissheiten

Der Knacks ist kein Sachbuch, das eine überprüfbare These entwickelt. Es ist ein Essay aus lauter Fragmenten, eine hoch reflektierte Versuchsanordnung über das Leben. Mit anderen Worten: es ist ein existentialistisches Buch. Das heißt, es wagt ein so komplexes wie konkretes Denken im Meer der Ungewissheiten. Dass wir nicht wissen, wer wir sind, das ist nicht bloß eine Negation, verweist nicht alleine auf eine Abwesenheit: unser Blindflug ist real und konkret.

Von Walter van Rossum | 18.12.2008
    Roger Willemsen gruppiert seine Beobachtungen um ein Wort, das er als Kategorie zu entwickeln versucht: Der Knacks. Vor diesem Knacks jedoch, der dem Buch auch seinen Titel gibt, muss man den Leser ein wenig warnen, denn der Knacks erweist sich eher als Irritation in der ansonsten brillanten Willemsenschen Prosa. Zunächst verbreitet allein das Wort ein vollkommen unangemessenes semantisches Aroma, eine Mischung aus Amateurtrauma und neckischer Verniedlichung. Wahrscheinlich wollte Willemsen einfach den hohen Ton aus Pathos und Pathologie vermeiden. Überdies scheint das Wort ein Ereignis anzuzeigen, während Willemsen tatsächlich einen Prozess meint:

    "Im Unterschied zum Bruch tritt der Knacks nicht an die Oberfläche, er wird nicht im Schock geboren. In seinem Kern ist der Knacks der Beginn einer Entwicklung im Fluss der Entwicklungen. Zwei Liebende, die sich im Bett zum ersten Mal voneinander wegdrehen, um lieber ihrer Einsamkeit zugewandt einzuschlafen. - Etwas trennt sich, ermüdet, verliert Farbe, scheitert, gibt auf. Es ist dieser an der Wurzel kaum greif- und schon gar nicht beherrschbare Vorgang, dieser am Ich vollstreckte, nicht auf Entscheidungen zurückzuführende Vollzug, von dem mehr Beunruhigung ausgehen kann als vom Schock mit all seinen therapeutischen Offerten."

    Es finden sich noch etliche Umkreisungen des Knackses in diesem Buch, aber alle lesen sich wie etwas überanstrengte Bemühungen, dem Buch eine fassliche thematische Mitte zu geben. Der Knacks bietet sich als analytischer Schlüssel an, taugt aber allenfalls als Chiffre:

    "Im Knacks schlägt sich eine Erfahrung nieder, die amorph besteht, aber nicht als Gegenstand erkannt wird. Will man die Bauprinzipien, nach denen sich Persönlichkeiten bilden - also diese Kette von Ereignissen, aus der man die Plausibilität des Charakters ableitet und diesen auch entschuldigt -, verlassen, kommt man auf die andere Seite. Dann merkt man die Unmerklichkeit von Prozessen des Übergangs, der Disqualifizierung, des Nicht-mehr-Seins, des Lebensentzugs, des Brechens, der Enttäuschung, des Maschine-Werdens."

    Überliest man die etwas zwanghaft anmutenden Systematisierungsversuche, dann erscheint das Großartige: Wie nämlich Willemsen die gängige Rhetorik des Lebens unterläuft und stattdessen funkelnde und weg gelebte Ungewissheiten zu Tage fördert. Dabei beginnt Willemsen zwar autobiographisch, nämlich mit dem frühen Tod seines Vaters, aber er versagt es sich, daraus ein traumatisches Begründungsereignis zu machen, aus dem sich folgerichtig die Realität seiner Person ableiten ließe. Im Gegenteil: Er beschreibt diesen Verlust nicht als ein einmaliges Ereignis, was sein Leben entweder in der Arbeit des Bewältigens strukturiert habe oder aber als Trauma fortdauert, sondern er entdeckt den Verlust des Vaters als andauernde Veränderung der Erlebnisqualität und der Erfahrungsschärfe.

    "Die Krankheit war zähflüssig, sie ließ ihn ertrinken, aber ihr Rhythmus beschleunigte sein Leben so lange, bis er kaum mehr den Kopf heben konnte. Sprache hatte ich kaum. Immer war ein Dritter im Raum, sein Tod, der redete mit oder ließ uns nicht einmal zu Wort kommen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns noch etwas hätten sagen müssen. Mein Vater hinterließ mir keinen Auftrag, keine Imperative. Stattdessen sah er mich inständig an. Aber auch dieser Ausdruck blickte durch mich hindurch in die eigene Existenz, von der er nicht lassen konnte. 'Nicht fertig, nicht fertig! Muss noch leben!', hat Anastasius Grün, der Lyriker des Vormärz, auf seinem Sterbebett geflüstert. Dieses Flüstern hörte ich unablässig, auch ohne dass sich seine Lippen bewegten."

    Doch es ist nicht so, dass Willemsen den Geheimnissen seines Lebens auf die Spur kommen will, um sie therapeutisch auszuleuchten, er sichtet vielmehr seine unbeherrschbaren Komplexe.

    Das mag nach einem vage impressionistischen, leicht klebrigen Spiel mit dem Innenleben klingen. Doch mit Sicherheit verschont uns Willemsen mit privaten autobiographischen Enthüllungen. Er stellt bloß eine so simple wie naiv wirkende Frage: Wer sind wir eigentlich? Und was entscheidet unser Leben? Wenn wir uns diese Frage stellen, fällt uns in der Regel nicht viel ein außer Episoden. Oder wir verfallen in die Rhetorik des Therapeutischen, in die Ordnung des Psychopathologischen. Zwischen dem Anekdotischen und der Krankengeschichte verlieren wir uns aus den Augen. Willemsen sucht nach einer Erzählform des Lebens, nicht nach einer Technik der Selbstabrichtung oder der Effizienzsteigerung. Und je länger wir ihm bei seinen Beobachtungen folgen, um so deutlicher spüren wir, wie sehr uns jede Perspektive des Existentiellen abhanden gekommen ist.

    Existentiell heißt nicht nur, die eigene Existenz oder die Existenzweise des Menschen zu reflektieren, es heißt auch, von der eigenen Existenz auszugehen. Ich kann versuchen, mich aus der Perspektive eines Historikers, eines Biologen, eines Ökonomen, eines Soziologen, eines Philosophen, eines Psychologen zu rekonstruieren, immer werde ich mich nur als Fall eines Gesetzes verstehen. Jede dieser Perspektiven zeigt mir einen anderen Menschen, und keiner bin ich. Mein konkrete Realität überschreitet die beliebigen Ordnungen dieses Wissens.

    "Denn ein Leben setzt sich nicht zusammen aus aufgerissenen Augen und abgeworfenen Pelzen, stehengelassenen Gesprächspartnern zugeschmissenen Türen und treffenden Antworten."

    Und so sucht Willemsen das Leben auf litauischen Parkbänken, in grau gewordenen Beziehungen, in Helden und Verlierern, in der Kunst und ein paar Todesfällen, aber nie im Prinzipiellen. Man ist fasziniert von dieser Beobachtungskunst, vom offenbarten Reichtum des Konkreten. Gelegentlich möchte man widersprechen. Doch auch im Widerspruch geht man über das hinaus, was man bislang zu wissen glaubte, zu sehen sich traute.

    Roger Willemsen: "Der Knacks", S. Fischer Verlag. Frankfurt a. M. 2008