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Konstruktion und Dekonstruktion des Buchenwald-Mythos

Die Schilderung des antifaschistischen Widerstands in der DDR und das Gedenken an die Opfer: Beides war stets auch ein Instrument im sogenannten Klassenkampf und untermauerte den Gründungsmythos der DDR. Ein wichtiger Baustein in dieser Selbstdarstellung war der 1958 erschienene Roman "Nackt unter Wölfen", der jedem DDR-Bürger ein Begriff war. Es geht um die dramatische Rettung eines kleinen Jungen aus den Klauen der SS im KZ Buchenwald. Der britische Autor Bill Niven hat nun ein Buch über dieses reale "Buchenwaldkind" verfasst.

Von Henry Bernhard | 16.02.2009
    Hörspiel + Lesung Roman "Nackt unter Wölfen”

    " Kameraden – der Sieg ist da, die Faschisten sind geflohen! wir sind frei! Frei! Frei!
    Wo ist das Kind? Wo habt ihr das Wurm? Komm her, du Menschenbündel!"

    Voller Pathos, aber auch voller Glück endet der Roman "Nackt unter Wölfen" von Bruno Apitz, einem DDR-Schriftsteller, der selbst acht Jahre im KZ Buchenwald überlebt hat. Ein vierjähriger Junge, der über Monate von Kommunisten vor der SS versteckt worden war, wird in dieser Schluss-Szene von einem Häftling aus dem befreiten Lager getragen. Kurz zuvor haben bewaffnete Häftlinge die SS-Wachmannschaften in die Flucht geschlagen.

    Ganz so hat es sich nicht abgespielt am 11. April 1945 auf dem Ettersberg bei Weimar. Wahrscheinlich ist es aber zumindest ähnlich gewesen. "Das Buchenwaldkind. Wahrheit, Fiktion und Propaganda" versucht, die Rettungs-Geschichte des jüdischen Kindes Stefan Zweig anhand verschiedener Quellen objektiv darzustellen und Klarheit in verschiedene Phasen der Geschichtsklitterung zu bringen.

    "Ich denke, die DDR ist ein Staat, die irgendwie antifaschistisch entstanden ist, also durch den Kampf gegen Hitler. Buchenwald ist natürlich der ideale Ort dafür, da wurde Hitler auch bekämpft, da wurde Hitler auch besiegt, direkt im Lager – wenn es wirklich eine Selbstbefreiung war. Und wir haben innerhalb Buchenwalds sozusagen auch einen neuen Staat aufgebaut, den wir dann in die Welt hinausgetragen haben – oder zumindest in die DDR hinaus. Da hängt die Geschichte Buchenwalds sehr eng mit einem Gründungsmythos der DDR zusammen. Und die Idee auch der Kindesrettung – das hat was Humanistisches auch. "Wir sind nicht nur harte Kommunisten, hin und wieder sind wir bereit, sogar die Parteidisziplin zur Seite zu stellen, wenn das sein muss, weil der Humanismus uns doch wichtiger ist als die Partei." So könnte man den Roman auch interpretieren. Und aus all diesen Gründen war es für die DDR eine sehr wichtige Geschichte, ein sehr wichtiger Mythos, wenn man will."

    Zum realen Hintergrund: Der jüdische Anwalt Zacharias Zweig aus Krakau kam im August 1944 mit seinem dreijährigen Sohn Stefan in Buchenwald an. Die illegale kommunistische Gefangenenorganisation beschloss gerührt, das Kind in ihre Obhut zu nehmen. Der Vater, der seinen Sohn schon in Jahren des Ghettolebens findig beschützt hatte, willigte ein – was für ihn aber auch eine Trennung von seinem Kind bedeutete. Stefan wurde wohl umsorgt, von Häftlingen, aber manchmal sogar von einem SS-Mann!

    Trotzdem war sein Leben oft in Gefahr. Seine drohende Deportation verhinderten die Kommunisten, indem sie einen Zigeuner-Jungen auf die Transportliste setzten. Willi Blum, so hieß er, starb in Auschwitz. In den letzten Tagen des Lagers Buchenwald war es allerdings wieder der Vater, der sich – und damit auch seinen Sohn Stefan – durch Mut und Geistesgegenwart das Leben rettete. Insgesamt überlebten in Buchenwald einige Hundert Kinder und Jugendliche.

    "Es ist auch so, dass dieses Kind an verschiedenen Orten versteckt worden ist und es ist wohl auch so, dass sehr viele involviert waren in seine Rettung. Und irgendwann wurde er auch symbolisch: für das Überleben, für den Kampf."

    Bruno Apitz’ Roman "Nackt unter Wölfen" erschien 1958. In einigen entscheidenden Punkten weicht die Rettungsgeschichte erheblich von der Realität ab: Stefan heißt Jerzy und kommt als Waisenkind in Buchenwald an. Der unermüdliche Vater, der seinen Sohn am häufigsten rettete, wird entsorgt. Aus dem Juden wird ein Pole. Das massenhafte Leiden und Sterben vor allem der Juden im KZ wird fast ausgeblendet zugunsten der Darstellung heldenhafter Kommunisten. Es gibt keine Grauzone des Verhandelns zwischen Häftlingen und SS. Bill Niven wägt hier sehr klug ab, was literarische Freiheit und was politisches Kalkül ist. Und er kommt zu folgendem, bitteren Ergebnis.

    "Nackt unter Wölfen" ist eine Aufforderung an Millionen Leser, die Zeit des Nationalsozialismus quasi auf einer Brücke zu überqueren, deren Pfeiler die mutigen Taten des Antifaschismus sind; es gibt eigentlich keine Veranlassung, in den Abgrund des Holocaust hinabzuschauen. Am Ende ist aus dem Kind de facto ein politischer Häftling geworden."

    Der Roman verkaufte sich weltweit über eine Million mal, Hunderttausende sahen die DEFA-Verfilmung, und es regte sich allerorten der Wunsch, den wirklichen Stefan alias Jerzy kennenzulernen, sein Schicksal nach der Befreiung weiter zu verfolgen. Man fand Vater und Sohn schließlich 1963 in Israel beziehungsweise Frankreich, wo Stefan studierte. Ein paar mal besuchte Stefan Zweig die DDR, hofiert und gehuldigt als lebender Beweis für den Gründungsmythos der DDR.

    "Stefan und Vater Zacharias verstanden, dass von ihnen erwartet wurde, den ausschließlich heroischen Blick der DDR auf den kommunistischen Widerstand in Buchenwald zu authentisieren und zu bekräftigen."

    Stefan Zweig blieb sogar in der DDR, um zu studieren, und heiratete eine FDJ-Funktionärin. Er zog zwar acht Jahre später nach Österreich, blieb der DDR und den Kommunisten immer dankbar verbunden. Er ging öffentlich aber auch immer wieder auf das Schicksal der Juden im Nationalsozialismus ein.

    Nach der Wende in der DDR wurde der Antifaschismus als Staatsdoktrin geschleift. Erstmals wurde öffentlich, dass Stefan Zweig auch überlebt hat, weil ein anderer für ihn nach Auschwitz geschickt wurde.

    "Es ist auch eine Geschichte eines Namensaustausches, und diese Geschichte muss erzählt werden. Und gewiss gab es auch Kommunisten, die das Kind wirklich retten wollten. Wie sie es letztlich gemacht haben in diesem Fall, ist schlimm. Aber trotzdem: Man muss sagen, dass sie es versucht haben. Aber vor allem tat es mir leid wegen des Vaters. Es ist eigentlich eine Geschichte von väterlichem Mut; es ist eine Geschichte von jüdischem Widerstand – weg! Es ist nur noch ein Namenstausch."

    Der Autor stellt kenntnisreich und gut gegliedert die Konstruktion und die Dekonstruktion des Buchenwald-Mythos mit Hilfe der halb-authentischen Rettungsgeschichte dar. Niven findet eine sehr klare Sprache und wertet präzise und differenziert. Sowohl die Geschichtspolitik der DDR als auch unsere aktuelle, die er als antikommunistisch diffamiert, würdigt er sehr kritisch und streitbar. Ein spannendes, anregendes Buch über die beständige Umformung von Geschichte nach den Erfordernissen der Gegenwart.

    Das war zum Schluss Henry Bernhard über Bill Niven: Das Buchenwaldkind. Wahrheit, Fiktion und Propaganda. Erschienen im Mitteldeutschen Verlag - mit 300 Seiten zum Preis von 24,90 €.

    Das war Andruck – das Magazin für politische Literatur im Deutschlandfunk an diesem Montag. Alle Rezensionen können sie in Kürze im Internet nachlesen und nachhören unter: www.dradio.de. Die Musik kam heute vom Trio Rusconi aus der Schweiz – ihr neueste Album heißt "One up down left right". Am Mikrophon verabschiedet sich Thilo Kößler – ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend