Dienstag, 19. März 2024

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Kontrollverlust im Netz
"Der Netzwerkeffekt erschwert den Facebook-Ausstieg"

Ein Netzwerk wird für den Einzelnen erst dann nützlich, wenn viele Leute an diesem teilnehmen - daher sei der Ausstieg aus Facebook auch so schwer, sagte der Blogger und Autor Michael Seemann im DLF. In seinem neuen Buch "Das neue Spiel" schreibt er auch über Kontrollverlust und Kontrollgewinn im Netz.

Michael Seemann im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 20.08.2014
    Der Blogger und Internet-Aktivist Michael Seemann
    Der Blogger und Internet-Aktivist Michael Seemann (dpa/picture alliance/Horst Galuschka)
    Stefan Koldehoff: "Leben in der digitalisierten Welt" heißt die Sommerreihe, in der wir in diesem Sommer zu ergründen versuchen, wie sich unser aller Welt verändert hat, seit sie eigentlich nur noch aus 1 und 0, aus Strom und Nicht-Strom, aus digitalen Daten besteht. Wir sprechen mit Medizinern und Pädagogen, mit Künstlern und Wissenschaftlern, mit Warnern und Begeisterten – und heute mit dem Blogger und Autor Michael Seemann, der zurzeit an einem Buch mit dem Titel "Das neue Spiel" arbeitet. Ihm geht es um die Frage, wie der Kontrollverlust, den jeder durch immer mehr öffentliche Daten an sich selbst erlebt, alte gesellschaftliche Prozesse infrage stellt, welche Strategien mit diesem und gegen diesen Kontrollverlust noch funktionieren, welche nicht mehr, und welche neu hinzugekommen sind. Michael Seemann: Was macht denn Kontrollverlust überhaupt aus?
    Verdatung der Welt
    Michael Seemann: Ja, der Kontrollverlust ist in allererster Linie natürlich der Kontrollverlust über unsere Daten, wie wir ihn mehrfach erlebt haben und im großen Stil, die ganze Welt sozusagen – durch die Enthüllungen von Edward Snowden haben wir davon erfahren. Und im Endeffekt ist es aber tatsächlich eine, sage ich mal, eine analytische Betrachtungsweise dieser Phänomene, die ich dort anstelle in dem Buch. Und die sieht dann so aus, dass ich den Kontrollverlust, dass ich da Treiber für entdecke, und diese Treiber sind sozusagen die Antreiber, die die Ereignisse vorantreiben in der Geschichte, und das sind drei unterschiedliche. Und der erste wäre sozusagen die Verdatung der Welt dadurch, dass wir überall auf der ganzen Welt Sensoren abringen, überall Kameras anbringen, mit Kameras und Sensoren die ganze Zeit in der Hosentasche herumlaufen, indem wir beispielsweise jetzt das Internet der Dinge machen, indem wir jetzt sozusagen vernetzte Gegenstände in unsere Haushalte holen, zum Beispiel intelligente Thermostate oder intelligente Stromzähler, solche ganzen Geschichten. Das heißt, wir verdaten die Welt und plötzlich wird alles aufgezeichnet, was auf der Welt passiert. Das ist der erste Treiber.
    Der zweite Treiber wäre, dass das Internet selbst von seiner Konstitution her also ein Rechnernetzwerk ist und als Rechnernetzwerk vor allem eins tut: Daten kopieren, immer hin- und herkopieren in einem riesengroßen Maßstab, und zwar in einem Maßstab, der sich praktisch jedes Jahr verdoppelt, also die Datenmenge des Internets verdoppelt sich alle ein bis zwei Jahre, und das ist halt der zweite Treiber. Und der dritte Treiber ist, dass diese Daten dann auch noch gut verknüpft werden können, und zwar mit immer besserer Technologie, mit immer besserer Datentechnologie, wir haben das alles schon mal gehört, Big Data, das heißt also, aus bestehenden Datenmengen lassen sich immer mehr Erkenntnisse herausziehen, Erkenntnisse, von denen man nicht gedacht hätte, dass sie in den Daten drinstecken. Und das passiert uns auch ständig, dass wir Daten von uns preisgeben, von denen wir denken und die so aussehen, als ob sie total harmlos wären, aber die in Wirklichkeit eine ganze Menge über uns verraten.
    Koldehoff: Dann lassen Sie uns über die drei Punkte – über die Verdatung, über die Sensoren, über das Internet der Dinge, über das Internet, das sich dauernd selbst kopiert oder die Informationen selbst kopiert und über Big Data und die Verknüpfung – doch der Reihe nach mal sprechen. Wir tun das ja relativ freiwillig, dass wir kleine Handys in der Tasche haben, die permanent unseren Standort durchgeben, aber auch durchgeben, mit wem wir uns unter Umständen treffen und, und, und. Das Gleiche gilt für die Kameras, die in Großbritannien, aber auch in deutschen Städten zunehmend installiert werden mit der Begründung, das dient unser aller Sicherheit. Wenn Sie jetzt von einem Kontrollverlust sprechen, dann ist es doch eigentlich mehr eine freiwillige Abgabe von Kontrolle, gar nicht so sehr ein Verlust, oder?
    Gewinn einer neuen Form von Kontrolle
    Seemann: Natürlich. Also in Wirklichkeit ist genau der Kontrollverlust. Die Kontrolle verschiebt sich. Sie verschiebt sich an andere Stellen als die, die wir gewohnt sind. Und deswegen fühlt es sich erst einmal so an, als ob wir die Kontrolle verlieren, aber wir gewinnen ja auch auf eine andere Art eine ganz neue Form von Kontrolle zurück. Also beispielsweise können wir uns viel, viel schneller verabreden, wir können halt uns viel, viel schneller koordinieren. Wir haben das gesehen beim Arabischen Frühling, wir haben das gesehen auf verschiedenen anderen Demonstrationen oder im Internet, auch in Deutschland, wo plötzlich Kampagnen aus dem Nichts heraus kamen, wo plötzlich Leute sich aus dem Nichts heraus koordinieren konnten. Das ist ja auch sozusagen eine neue Form der Kontrolle. Das heißt also, wir verlieren Kontrolle über bestimmte Dinge und gewinnen auf der anderen Seite auch Kontrolle hinzu. Das ist sozusagen ein Tauschspiel.
    Koldehoff: Ist demnach Kontrollverlust zunächst mal ein wertneutraler Begriff, steckt da gar keine Wertung mit drin?
    Seemann: Nein, der Kontrollverlust ist ja erst einmal eine Tatsache, die man so erfährt. Also der Kontrollverlust versucht eher, dieses Empfinden nachzuzeichnen. Und ich glaube, dass es für viele Leute auch durchaus eine sehr negative Erfahrung ist, diese Kontrolle zu verlieren, und ich glaube, dass wir aber trotzdem beide Seiten dieser Medaille sehen müssen.
    Koldehoff: Jetzt könnte man ja einigermaßen beruhigt sagen: Wenn ich was verliere, muss ich es mal erst gehabt haben. Die Leute, die diese Kontrolle gar nicht mehr hatten, eine jüngere Generation der heute vielleicht 14-, 15-Jährigen, denen fällt dann auch gar nicht auf, wenn sie es verlieren?
    Seemann: Ja, da gibt es ja unterschiedliche Studien dazu, wie Jugendliche jetzt beispielsweise im Internet mit den Themen Privatsphäre et cetera umgehen. Und was wir dort erleben, ist, dass dort auch tatsächlich vor allem eine Verschiebung stattfindet. Also ich glaube, die jungen Leute sind sich durchaus der grundsätzlichen Beobachtbarkeit durchaus bewusst und versuchen dann eben, ihre Privatsphäre viel gezielter gegen beispielsweise die Erwachsenenwelt zum Beispiel abzuschotten, und denen ist das vielleicht auch weniger wichtig, dass die NSA da mithört, als wenn der Lehrer da mithört.
    Die Gravitation des Netzwerkeffekts
    Koldehoff: Der eigentlich relevante Punkt für mich ist der, den Sie unter zwei und drei beschrieben haben: Das Internet als gigantisches Rechnernetzwerk, das sich immer wieder selbst dupliziert und verdreifacht und vervierfacht, und die Daten, die dabei immer weiter verknüpft werden. Wer macht das eigentlich? Ist das Internet selbst inzwischen Akteur? Gibt es da Automatismen, die überhaupt kein Mensch mehr steuert geschweige denn kontrolliert? Hat sich da was verselbstständigt?
    Seemann: Es gibt den sogenannten Netzwerkeffekt, das ist ganz interessant, das sagt eigentlich, dass ein Netzwerk immer nützlicher wird für den einzelnen Teilnehmer, je mehr Leute an dem Netzwerk teilnehmen. Man kann sich das so vorstellen: Wenn man der einzige Mensch ist, der ein Telefon hat, dann bringt einem das Telefon nicht besonders, und der Nutzen steigt extrem, wenn es auch noch einen zweiten Menschen gibt. Also der Nutzen eines Netzwerkes steigt mit der Anzahl der Teilnehmer, und das wirkt dann so ein bisschen ... Wie so eine Gravitation kann man sich das vorstellen. Deswegen ist es auch so schwer, aus dem Internet auszusteigen, aus Facebook auszusteigen und so weiter.
    Denn diese Gravitation hält einen wirklich irgendwie sozusagen auf dem Netzwerk fest, weil es ja einem natürlich auch durchaus Nutzen generiert, dass man halt mit Leuten relativ einfach kommunizieren kann, dass man mit Freunden sich verabreden kann und so weiter. Und dieser Netzwerkeffekt spielt, glaube ich, da eine sehr, sehr zentrale Rolle, warum auch immer mehr Menschen und Daten angesammelt werden. Das ist ja so eine Art positiver Feedback, wie so ein schwarzes Loch zieht es immer mehr Materie an, so zieht das Internet immer mehr Daten an und immer mehr neue Server und neue Rechenkapazitäten.
    Trade-off zugunsten des Internets
    Koldehoff: Aber wer definiert denn den Nutzen oder den Zweck dieses Datensammelns? Also wenn Sie sagen, es ist ganz praktisch, man kann sich besser verabreden, besser organisieren, dann ist da ja ein Ziel definiert, dann weiß man, was man will. Weiß ich das aber noch, wenn ich inzwischen auf jeder Website irgendwas eingeben muss, wenn ich über Cookies Spuren hinterlasse, von denen ich wahrscheinlich noch nicht mal was ahne?
    Seemann: Ja, das sind natürlich Dinge, über die wir dann tatsächlich nur spekulieren können. Aber ich glaube ehrlich gesagt, dass jeder einzelne Internetnutzer für sich diese Rechnung aufmacht, dass er sich auf der einen Seite sagt, okay, Moment, ich gebe hier private Daten frei, ich gebe hier vielleicht auch meine Privatsphäre auf in gewisser Hinsicht, und das dann gegenrechnet mit dem: Aber jetzt kann ich eben schnell mal einen Flug buchen, und da will ich jetzt einfach mal den Flug buchen. Und ich glaube, dass dieser Trade-off, sagt man, also diese interne Rechnung, die man da aufstellt, dass die halt ständig zugunsten des Internets aufgelöst wird, sagt uns eigentlich, dass das Internet durchaus menschliche Bedürfnisse bedient.
    Koldehoff: In den 1980er-Jahren, als wir alle kleine Apple IIe oder Commodore 64 auf dem Schreibtisch stehen hatten, wo man heute sich drüber totlachen würde über die Rechenleistung, die die hatten, da war ein Film in den Kinos, der hieß „War Games", Kriegsspiele. Der handelte davon, dass so ein Rechnernetzwerk sich plötzlich selbstständig machte und eigene Entscheidungen traf. Die Gefahr sehen Sie aktuell beim Internet nicht?
    Seemann: Nein. Also es gibt natürlich die Künstliche-Intelligenz-Forschung, aber das, was wir bei "War Games" gesehen haben, war wirklich Science Fiction. So weit sind die Rechner heute noch nicht und vermutlich die nächsten 10 bis 20 Jahre haben wir da auch noch Zeit dazu.
    Koldehoff: Herr Seemann, was machen Sie denn, um die Kontrolle zu behalten?
    Seemann: Ich habe mich da so ein bisschen mit abgefunden, diese Kontrolle nicht zu haben, lebe sozusagen, wie man so schön sagt, post-privacy. Jeder kann mich sozusagen jederzeit in Echtzeit auf meiner Webseite tracken, kann sehen, wo ich mich aufhalte. Ich veröffentliche auch Dinge aus meinem privaten Leben und diese Dinge können natürlich von anderen gelesen werden. Aber die Tatsache, dass ich dass weiß, dass andere Leute Dinge lesen können, macht es für mich dann sozusagen einfacher, auch mit der Tatsache umzugehen, dass vielleicht dann irgendwelche bösen Mächte auch mitlesen, weil das sind dann halt auch nur sozusagen unter vielen Leser.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.