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Konzerte im Kino
Fader Abklatsch oder neue Kunstform?

"Distant Sky" heißt der Konzertfilm mit Nick Cave, der heute Abend weltweit in vielen Kinos gezeigt wird - für einen einzigen Abend. Länger schon werden Konzertfilme wie einmalige Events aufgeführt. Unter Umständen könne man dabei einen besseren Eindruck vom Geschehen bekommen, sagte Musikkritiker Jens Balzer im Dlf.

Jens Balzer im Gespräch mit Christoph Reimann | 12.04.2018
    Nick Cave bei seinem Konzert im Oktober 2017 in der Max-Schmeling-Halle
    Nick Cave bei seinem Konzert in der Max-Schmeling-Halle in Berlin (imago stock&people)
    Christoph Reimann: Nick Cave gilt als Meister der Düsternis – und vielleicht gilt er bald auch als Pionier des Konzertfilm-Marketings. "Distant Sky – Nick Cave & The Bad Seeds Live in Copenhagen", so heißt der Film, der heute Abend in vielen Kinos weltweit gezeigt wird. Das ist keine Liveübertragung eines Konzertes – trotzdem soll wohl dieser Eindruck erweckt werden. Und darüber habe ich vor der Sendung mit dem Musikkritiker Jens Balzer gesprochen. Herr Balzer, erstmal Ihre Meinung als Musikkritiker: Sollte man sich das ansehen?
    Jens Balzer: Um erstmal auf diesen konkreten Fall einzugehen, also Nick Cave und diesen "Distant Sky"-Film, der heute Abend gezeigt wird: Ich glaube, das lohnt sich unbedingt, ohne den Film jetzt gesehen zu haben, da ist ja ein großes Geheimnis darum. Aber ich war tatsächlich auf einem Konzert der Tour – da wurde im Oktober 2017 in Kopenhagen aufgenommen. Und auf der Tour hat Cave vor allem die Songs aus seinem da gerade erschienenen Album "Skeleton Tree" und von dem Vorgängerwerk "Push the Sky Away" gespielt. Und natürlich auch diverse Songs aus den früheren Phasen seiner Karriere, aber wer da war, der weiß, dass Cave jetzt als Musiker gerade so zirka im 40. Jahr seiner Karriere die Zeit seines Lebens hat.
    "Ein Priester, der die Zwiesprache mit seinen Gläubigen sucht"
    Ich hatte mich eine ganze Zeit in den Nullerjahren von ihm entfremdet und finde ihn jetzt wirklich großartig wieder. Das liegt an seiner hervorragenden Band zum einen natürlich, mit der er seit ein paar Jahren zusammen spielt: mit dem Geiger und Pianisten Warren Ellis als musikalischem Direktor. Er hat aber auch wirklich eine erstaunliche Größe als Performer erreicht. "Skeleton Tree" ist ja nach dem Tod seines Sohnes entstanden – das ist ein wirklich herzzerreißendes Werk von großer Intimität und Verletzlichkeit. Und bei dem Konzert, das ich hier in Berlin in der Max-Schmeling-Halle ebenfalls im Oktober 2017 gesehen habe, war das interessanterweise so, dass man dachte: Gerade jetzt, wo die Musik so intim und verletzlich geworden ist, da hat er irgendwie auf der Bühne erstmals das Publikum entdeckt. Man kennt ja von Cave diese Pose des unnahbaren, bösen, seelengepeinigten Priesters – das hat er immer noch. Aber zugleich ist er jetzt ein Priester, der die Zwiesprache mit seinen Gläubigen sucht. Also der hält quasi "Call and Response-Chöre" im Gottesdienst. Das war im Konzert äußerst eindrucksvoll. Ich bin wirklich gespannt, wie der Film von David Bernard das einfängt – also gerade die Überschreitung des Grabens zwischen Bühne und Publikum.
    Reimann: Also im Konzert äußerst eindrucksvoll. Da sprechen Sie ja gerade das entscheidende Problem an: Kann denn so ein Konzertfilm überhaupt die Atmosphäre eines Konzertes wiedergeben? Da geht doch eigentlich das Live-Erlebnis total flöten?
    Balzer: Natürlich ist das was anderes, ob ich in einem kleinen Club direkt vor der Bühne stehe und ganz nah an den Musikern dran bin, oder ob ich in einem Kinosessel vor einer Leinwand sitze. Andererseits spielt ja zum Beispiel Nick Cave auch nur noch in großen Hallen und auf Open-air-Bühnen – also da ist man dann auch nicht besonders nah dran, wenn man sich im Konzertpublikum befindet. Insofern kriegt man vielleicht sogar einen besseren Eindruck vom Geschehen, wenn man sich das auf der großen Leinwand ansieht.
    "Wirkung von Filmen größer als die des Originalereignisses"
    Reimann: In ein paar Hundert Kinos weltweit wird dieser Film heute Abend gezeigt – und danach nicht wieder. Dadurch soll der Konzertfilm diesen selben Konzertcharakter kriegen wie ein Konzert. Von Opernaufführungen kennt man das schon länger – fangen dann jetzt auch die Popmusiker an, ihre Konzerte live weltweit in Kinos zu übertragen? Und lösen Konzertfilme auf Dauer die Konzerte vielleicht ab?
    Balzer: Dass Konzertfilme einen eigenen Event-Charakter besitzen, ist ja nun nicht wirklich neu. Also, manchmal ist die Wirkung von Filmen sogar größer gewesen als die des Originalereignisses. Denken wir an Woodstock, das Festival, das hat nächstes Jahr sein 50. Jubiläum. Und das war ja quasi der große mythische Moment der Gegenkultur und auch der entstehenden international von Bedeutung werdenden Popkulturen. Das hätte diesen mythischen Charakter aber niemals bekommen ohne den Woodstock-Film von Michael Wadleigh aus dem folgenden Jahr. Zum einen wegen der Konzertaufnahmen, denn selbst von den Leuten, die damals dabei waren, waren ja nun wirklich nur die wenigsten nah genug an der Bühne, um, sagen wir mal, Jimi Hendrix wirklich live spielen zu sehen. Und noch beeindruckender und historisch prägender waren natürlich diese Luftaufnahmen, auf denen man die gewaltigen Menschenmengen rund um die Bühne und rund um den Veranstaltungsort sieht. Das war so ein wirklich prägender Konzertfilm.
    Und wenn man mal in die Geschichte zurückblickt, findet man einige, die für ihre Protagonisten prägend waren. Also, was wäre David Bowie gewesen, geworden, ohne den "Spiders From Mars"-Film von D.A. Pennebaker, von '73. Und wie viele Menschen – ich würde mal behaupten: die Mehrheit – haben die Talking Heads erst mit "Stop Making Sense"-Film von 1984 kennengelernt. Beides auch wiederum Beispiele für Künstler, die ihre Shows von vornherein so filmisch und theatralisch inszeniert haben, dass sie eigentlich für die Umsetzung im Kino wie gemacht waren.
    Was man heute wiederum bei den meisten der großen Blockbuster-Konzerte auch findet, nur dass hier das Gefühl, das Kinohafte, die Leinwand, die Projektion noch tiefer in die Bühnenshow selber gewandert ist. Also, wenn man mal in ein Konzert von Beyoncé oder Rihanna geht, da ist die multimediale Inszenierung so wichtig, dass man ohnehin meist auf die großen Videoleinwände guckt, zumal man die echten Menschen auf der Bühne kaum erkennen kann, weil die so weit weg sind. So was wie eine Live-Aura entsteht in solchen großen Konzerten ja ohnehin nicht mehr, auch weil fast alles vom Playback kommt. Und wenn die von vornherein wie Kino aussehen, dann kann man die sich auch gleich im Kino ansehen, finde ich.
    "Im Film an Künstlern näher dran als im Club"
    Reimann: Trotzdem gibt es ja bei diesen Konzerten, die Sie angesprochen haben, noch Instrumente im traditionellen Sinne auf der Bühne. Tatsächlich werden jetzt ja aber auch schon DJ-Sets live im Internet übertragen. Und da wird das Ganze doch ein bisschen absurd: Wenn also ein Techno-DJ auflegt, man guckt zu – und sitzt zu Hause im Sessel, tanzt also gar nicht.
    Balzer: Ja, das klingt so ein bisschen irre. Wie Sie es sagen jetzt ohnehin. Also, es gibt eine sehr erfolgreiche Reihe von Live-Übertragungen, auf die Sie wahrscheinlich anspielen: Das ist dieser "Boiler Room". Da werden DJ-Sets im Internet gestreamt. Man kann natürlich sagen, wenn man zu Tanzmusik nicht tanzt, ist das Quatsch. Aber ich finde es trotzdem interessant, weil man da an den Künstlern näher dran ist als im Club wiederum. Und weil tatsächlich hier so eine Art von Virtuosität gefilmt wird, die man sonst gar nicht zu Gesicht kriegt, wenn man sich dafür interessiert. Also, die Kamera ist dann oft auch oben, also man guckt sich das, was die DJs mit ihren Decks machen aus der Vogelperspektive an – und man sieht dann genau, wie und mit welchen Geräten sie mixen, was für jeden, der sich für Clubmusik von der künstlerischen Seite interessiert, enorm aufschlussreich ist. Und abgesehen davon: Nicht jeder hat ja das Glück, in der Nähe von tollen Techno-Clubs zu wohnen - und mithilfe des "Boiler Room" geht selbst die avancierteste Clubmusik einmal rund um die Welt.
    Und junge Leute an den entlegensten Orten eignen sich, diese Techniken an, entwickeln die weiter und geben sie dann auf ihren eigenen Tanzflächen zurück. Und auch das hat dann wieder eine Aura interessanterweise wie so ein klassisches Konzert, nur dass die Aura des Live-Moments und der gemeinsamen Konzerterfahrung gewissermaßen durch eine andere Aura, nämlich die einer globalen Gleichzeitigkeit, ersetzt wird – in einer Gemeinschaft, die über die ganze Welt verstreut ist und dann nur im Internet zu sich findet. Also vielleicht ist das ja eine neue Form von Authentizität, von musikalischer Erfahrung; und damit können wir den Bogen vielleicht wieder zu Nick Cave zurück schlagen: eine neue Form, die Grenze zwischen Künstler und Publikum zu überwinden.
    Reimann: Sagt der Musikkritiker Jens Balzer. Heute Abend wird in verschiedenen Kinos weltweit der neue Konzertfilm von Nick Cave gezeigt. "Distant Sky" heißt der – einmal kann man sich ihn angucken, danach nie wieder – außer Nick Cave braucht Geld.