Donnerstag, 25. April 2024

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Konzertprojekt der Jungen Deutschen Philharmonie
Mit "Un/Ruhe" aus festgefahrenen Strukturen ausbrechen

In dem Projekt "Freispiel" löst sich die Junge Deutsche Philharmonie von konventionellen Konzertformaten und kooperiert auch mit anderen Künsten. Im aktuellen Konzertprogramm "Un/Ruhe" wird auch getanzt. Zudem wurden Werke bewusst ausgewählt, an denen man sich noch abarbeiten kann.

Von Ursula Böhmer | 16.08.2016
    Probenfoto von "Un/Ruhe" - einem Musikprojekt der Jungen Dt. Philharmonie mit Sasha Waltz & Guests im Rahmen der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt
    Liebt unkonventionelle Projekte: die Junge Deutsche Philharmonie (Janina Schmid)
    Musik: Wagner, "Tristan und Isolde"
    Die Pultleuchten sind ausgestellt: Fast im Dunkeln, vor abendrotem Götterdämmerungs-Licht, stimmt die Junge Deutsche Philharmonie den berühmten "Tristan"-Akkord an. Mit diesem rätselhaften, in der Schwebe gehaltenen Akkord legte Richard Wagner 1865 bereits einen Grundstein für die Atonalität, die sich 40 Jahre später entwickelte. Das Vorspiel "Tristan und Isolde" passt also wunderbar ins Finale der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt – ebenso wie Alban Bergs "Lulu-Suite" und natürlich das Violinkonzert "Still" der Zeitgenossin Rebecca Saunders. Die Junge Deutsche Philharmonie hat für ihr "FREISPIEL"-Projekt "Un/Ruhe" bewusst Werke ausgesucht, an denen sie sich noch abarbeiten kann, erläutert Gastdirigent Sylvain Cambreling:
    "Es gibt die Möglichkeit, viele verschiedene Spieltechniken anzuwenden. Außerdem ist es eine andere Art, mit den Ohren zu arbeiten: Die Komplexität des Kontrapunkts bei Alban Berg etwa ist sehr speziell und sehr schwer herauszufiltern! Neues spieltechnisches Vokabular ist es, was Rebecca Saunders Violinkonzert auszeichnet, während bei Wagner wiederum spieltechnische Traditionen eine große Rolle spielen. Das ist der pädagogische Aspekt, den wir hier verfolgen. Außerdem bergen die Stücke eine gemeinsame Herausforderung: die Arbeit an Klängen!"
    Musik: Saunders, Violinkonzert
    Flirrende Flageolettklänge
    Der Kern-Klang, mit dem Rebecca Saunders in ihrem Violinkonzert arbeitet, ist ein skurril-schauriger Triller, der aus geräuschhaften Flageolett-Klängen entsteht. Dabei werden die Finger nur ganz leicht auf eine bestimmte Stelle der Saite angesetzt – Grundtechnik nun für Rebecca Saunders so getauften "Doppel-Flageolett-Doppeltriller".
    "Der zweite oder dritte Finger trillert und der untere Finger bleibt liegend, aber immer als Flageolett. Und dann gibt es stets ein Glissando dazu. Das ist sozusagen eine Spezial-Technik, die aber trotzdem aus dem traditionellen Repertoire heraus entwickelt wurde. Es gibt auch viele virtuose Stellen bei den Orchester-Streichern, wo sie nur Triller spielen! Es ist eine Technik, die schon vorhanden ist - aber sie wurde in einem anderen Zusammenhang weiterentwickelt!"
    Musik: Saunders, Violinkonzert
    Gemeinsam mit der Geigerin Carolin Widmann hat Rebecca Saunders den atmosphärisch flirrenden Doppel-Flageolett-Doppeltriller entwickelt. Ihr 2011 uraufgeführtes Violinkonzert hat sie nun noch um ein "Interludium" erweitert – eigens für das Projekt "Un/Ruhe" der Jungen Deutschen Philharmonie. In diesem neuen Zwischenspiel muss Carolin Widmann auch tanzen – gemeinsam mit Tänzern der Compagnie "Sasha Waltz & Guests". Zeitlupenartig langsam lässt sie sich von ihnen umgarnen, von ihnen stützen, legt sich mit ihnen auf den Boden – das alles mit der Geige in der Hand:
    "Es macht mir Spaß! Weil so oft finde ich in unserer konventionellen Konzertsituation so eine Über-Fokussierung und fast ein Eingemeißeltsein in die eigene Position zwischen Dirigent und Konzertmeister vor. Und wenn man sich bewegen kann dabei und auch ein bisschen ausprobieren kann, wie sich der Klang verändert, ist das spannend: Wenn ich gebückt vornüber stehe oder nach hinten gebeugt, verändert sich ja die Kontaktstelle des Bogens – und das auszugleichen und zu sehen, wie viele Gewichte wo ziehen und etwas auslösen, das macht Spaß!"
    Orchesterprojekt mit Bewegung
    Fernab vom konventionellen Konzertablauf müssen auch die jungen Orchestermusiker hier immer mal wieder beim Spielen aufstehen, sich drohend nach vorne beugen, die Instrumente in die Luft recken - den Himmel sozusagen voller Geigen hängen. Am Ende des Stückes sinken sie dann in sich zusammen wie Blütenkelche, die sich schließen. Neues ausprobieren: Das gehört zum Konzept der "Freispiel"-Biennale, die die Junge Deutsche Philharmonie seit 2008 ausrichtet. Pianistin Magdalena Cerezo und Schlagzeuger David Panzer sind im Organisations-Team dabei:
    "Es ist die einzige Veranstaltung, bei der wir selbst Veranstalter sind. Und die war ursprünglich als Kammermusik-Projekt gedacht – das ist etwas anderes, als immer die großen Orchesterprojekte, weil man da auch als Musiker etwas anderes lernt. Wir sehen uns ja als Zukunftsorchester und ich denke, aus festgefahrenen Strukturen auszubrechen und den Horizont zu erweitern, wird immer wichtiger für die angehenden Orchestermusiker oder freischaffenden Musiker der Zukunft"
    Musik: Berg, "Lulu-Suite"
    "Zukunftsmusik" komponierte einst auch Alban Berg: Spätromantische Einsprengsel treffen auf Walzer-Fragmente und freie Tonalität in seiner 1934 entstandenen "Lulu-Suite". Und die grandiose Ana Durlovski zieht bei den Darmstädter Ferienkursen als männermordende "Lulu" alle Register, mit ihren berückend-schönen Loreley-Hexen-Tönen. Höhepunkt des in jeder Hörsicht beeindruckenden "Freispiel"-Projekts, mit dem die Junge Deutsche Philharmonie nun auch in Berlin und Weimar für wunderbar "un-ruhige" Zeiten sorgen wird.
    Musik: Berg, "Lulu-Suite"