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Konzertsituationen als Forschungsgegenstand
Hören – verkabelt

Fast 50 Plätze hat der Konzertraum im Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik. Eher wie ein kleinerer Kinosaal sieht er aus. Von Bayreuther Enge keine Spur: Gemütliche Sessel bieten Beinfreiheit und gebührenden Abstand zum Sitznachbarn. Doch hier geht es weniger um Musik als um Daten.

Von Torsten Möller | 04.10.2016
    Blick in den Konzertsaal der Philharmonie Köln mit Orchester und Publikum
    Im Fokus der Forscher: das Konzertpublikum (dpa / picture alliance / Oliver Berg)
    Das Forschungsteam des Max-Planck-Instituts organisiert im so genannten ArtLab, dem Kunst Labor, kammermusikalische Konzerte. Nicht primär, um den Besuchern hohe Kunst zu bieten, sondern um Daten zu gewinnen. Möglichst realistische, betont Christoph Seibert, der über Musik und ihre emotionale Wirkung promovierte:
    "Also Ziel ist es grundsätzlich, bei der Nutzung des Saales eigentlich gar nicht so sehr vom normalen Konzert, wie sie es vom eigenen Konzertbesuch her kennen, abzuweichen. Insofern ist es ein Konzert wie andere auch. Aber dazwischen werden vielleicht Fragen an einem Tablet-PC beantwortet, man hat Sensoren an den Fingern kleben, die möglichst nicht den Applaus behindern sollen. Andere Techniken sind auch denkbar: Es gibt immer eine Audio-Aufnahme, ne Video-Aufnahme. Das sind eben die Daten, die man erheben kann. Sonst, vom Ablauf her, sollte das eigentlich wie ein normales Konzert sein."
    Musik: Mozart, Klavierkonzert KV 466, d-moll
    Das "normale" Konzert ist etwas Gewordenes, also Historisches. Andächtig stilles Lauschen, das in sich gekehrte, kontemplative Hören kommt aus der Kunstreligion des 19. Jahrhunderts. Melanie Wald-Fuhrmann findet solch ein streng reguliertes Konzertritual nicht immer angemessen. Die konventionell verordnete Stille bis zum Ende des letzten Satzes hat etwas zu Rigides, sagt die Direktorin des Max-Planck-Instituts, Abteilung Musik. Das Solokonzert des 18. Jahrhunderts lädt doch geradezu ein zu spontanem Applaus.
    "Und wenn wir das heute nicht dürfen, dann merken eigentlich alle, was für eine Dissonanz zwischen jetzt erlerntem Verhalten und Aufforderungscharakter der Musik in diesem Moment das ist. Oder auch nach einer besonderen virtuosen Kadenz in der Mitte. Und da denke ich auch immer: 'Mensch Leute! Wenn ihr klatschen wollt, klatscht doch einfach.' Der Pianist freut sich doch vielleicht auch."
    Heikle Untersuchungen
    Das Phänomen Applaus ist ein Teil der Forschungen: Wann klatscht das Publikum, und warum? Mit solchen Fragen sind andere, ganz grundsätzliche verbunden: Was macht das gemeinsame Erleben eines Konzertes aus? Wie gestaltet sich eine Kommunikation zwischen Hörern und Musikern auf der Bühne? Und: Welche Rolle spielt das Kommunikationsmedium dabei, also die Musik? Es ist ein schwieriges Gebiet, das die von Melanie Wald-Fuhrmann geleitete Forschungsgruppe betritt. Viele Faktoren, auch Unwägbarkeiten, spielen hinein in die Untersuchungen. Wenn ein Versuchshörer das ArtLab betritt, ist er aufgeregt, was Puls und Herzschlag beeinflusst. Dazu kommt, dass kognitive Musikverarbeitung stark abhängig ist von der Vorbildung einer Versuchsperson. Jemand, der keine Erfahrung mit klassischer Musik hat, wird anders reagieren als jemand, der selbst ein Instrument spielt. Melanie Wald-Fuhrmann:
    "Uns wird oft vorgeworfen: Ein Musikerlebnis sei doch so tief und individuell und eigentlich doch mehr so geistig-seelisch. Befragt die Leute doch! Das machen wir natürlich auch. Aber Musikhören ist eben auch eine körperliche Angelegenheit – das geht gerade so im Klassikbereich gerne mal verloren. Fans anderer Musik wissen das noch besser. Aber solche Daten, die wir hier erheben – wenn die uns nicht nur bestätigen, was wir immer schon wissen; wäre auch schön, wenn man das hat, aber ist jetzt nicht jeder so zufrieden mit. Sondern plötzlich auf Zusammenhänge hinweisen, auf die wir vorher nie gekommen wären. Dann ist damit doch ein ernsthafter Erkenntnisgewinn verbunden, den man nur mit 'in sich hinein horchen' und Menschen nach ihrem bewussten Erleben und Wahrnehmen zu befragen nicht gewonnen hätte."
    Viele Perspektiven
    Das Frankfurter Forscherteam steht noch am Anfang, muss noch einige Schneisen schlagen, bevor Untersuchungen ins Detail gehen. Fragen gibt es genug. Welche Rolle beispielsweise die Lektüre eines Programmheftes vorm Konzertbesuch spielt, kann und soll untersucht werden. Oder auch die Frage, wie sich Mimik und Gestik eines Musikers widerspiegeln in den Reaktionen des Konzertbesuchers. All das steht vorm Hintergrund einer Krise des Konzertlebens, die sich wohl – Stichwort "Überalterung des Publikums" – in den nächsten Jahren verschärfen wird. Die Abteilung Musik des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik arbeitet nicht im Elfenbeinturm, will sich einbringen in kulturell-gesellschaftliche Probleme. Kooperationen mit der Alten Oper Frankfurt gibt es schon und mit dem Frankfurter Ensemble Modern. Beide Institutionen stehen alternativen Konzertformen offen gegenüber und erhoffen sich neue Erkenntnisse von den Musiksoziologen, Psychologen und Neurowissenschaftlern des MPI. Wichtig sind die Forschungen des Instituts allemal. Dünn ist bisher das empirische Material, das kaum hinaus geht über Fragebögen der Konzerthäuser oder vereinzelter Musiksoziologen. Offen, zugleich entscheidend, so Melanie Wald-Fuhrmann, bleibt bisweilen...
    "die Frage, die sich dann anschließt: Gehen die Leute nicht mehr ins Konzert, weil das keine attraktive Form des Musikhörens ist, oder gehen sie nicht mehr ins Konzert, weil sie die Inhalte nicht mehr interessieren? Also: Ist die Krise des Konzerts die angebliche Krise der klassischen Musik? Oder nur des Formats?"
    Musik: Mozart, Klavierkonzert KV 466, d-moll