Dienstag, 19. März 2024

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Kopatchinskaja und Currentzis
Musik mit Wodkanote

Patricia Kopatchinskaja und Teodor Currentzis sind zwei Ausnahmemusiker mit Eigenwilligkeit und Charisma. Gemeinsam mit dem von Currentzis gegründeten Ensemble MusicAeterna haben sie Peter Tschaikowskys Konzert für Violine und Orchester sowie Igor Strawinskys "Les Noces" eingespielt. Bei beiden Werken geht es um eine wilde Feier.

Von Jochen Hubmacher | 10.01.2016
    Der Dirigent Teodor Currentzis
    Der Dirigent Teodor Currentzis (picture alliance / dpa / Mudrats Alexandra)
    Die CD, die ich Ihnen heute vorstelle, ist diese Woche beim Label Sony erschienen und so viel sei schon jetzt verraten, sie legt die Messlatte ziemlich hoch für all das was 2016 noch kommen wird an Aufnahmen klassischer Musik. Die Protagonisten sind zwei im positiven Sinne "Musikverrückte", die durch Eigenwilligkeit und Charisma regelmäßig Außergewöhnliches zustande bringen: Patricia Kopatchinskaja und Teodor Currentzis.
    Der griechische Dirigent Teodor Currentzis studierte in St. Petersburg. Er hat als Musikchef maßgeblich für die fast schon wundersamen künstlerischen Höhenflüge der Opernhäuser in Nowosibirsk und Perm gesorgt.
    In Nowosibirsk gründete er auch sein MusicAeterna-Ensemble, bestehend aus Chor und Orchester. Beide Formationen sind auf der vorliegenden Aufnahme zu hören. Zunächst das Orchester im Violinkonzert von Peter Tschaikowsky. Solistin ist die aus Moldawien stammende Ausnahmegeigerin Patricia Kopatchinskaja. Von Teodor Currentzis ließ sie sich überreden, für die gemeinsame CD-Produktion, Darmsaiten auf die Violine aufzuziehen. Beim Thema Schuhe ist sie höchstwahrscheinlich keine Kompromisse eingegangen und spielte das Tschaikowsky-Konzert wieder barfuß, wie üblicherweise bei ihren Bühnenauftritten. Die Prise Exzentrik sieht man Patricia Kopatchinskaja angesichts ihrer geigerischen Fähigkeiten und ihrer überragenden Musikalität jedoch gerne nach.
    Peter Tschaikowsky: Konzert für Violine und Orchester D-Dur, op. 35, 3. Satz: Finale. Allegro Vivacissimo
    "Eine Weile bewegt es sich maßvoll, musikalisch und nicht ohne Geist, bald aber gewinnt die Rohheit Oberhand. Da wird nicht mehr Violine gespielt, sondern Violine gezaust, gerissen, gebläut", meinte einst der Kritiker Eduard Hanslick.
    "Ob es überhaupt möglich ist, diese haarsträubenden Schwierigkeiten rein herauszubringen, weiß ich nicht. Das Adagio mit seiner weichen slawischen Schwermut ist wieder auf bestem Wege, uns zu versöhnen, zu gewinnen. Aber es bricht schnell ab, um einem Finale Platz zu machen, das uns in die brutale, traurige Lustigkeit eines russischen Kirchweihfestes versetzt. Wir sehen lauter wüste, gemeine Gesichter, hören rohe Flüche und riechen den Fusel. Tschaikowskys Violinkonzert bringt uns zum ersten Mal auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könne, die man stinken hört."
    Hanslick: "Stinkende Musik"
    Eduard Hanslicks Kritik zur Uraufführung des Tschaikowsky-Violinkonzerts 1881 in Wien ist Legende. Sein polemisches Urteil "stinkende Musik" traf den Komponisten hart. War es doch gerade die Arbeit an diesem Werk, die Tschaikowsky wenige Monate nach dem Scheitern seiner Ehe wieder in einen Zustand versetzte, den man heute als Flow bezeichnen würde.
    "In einer solchen Phase des geistigen Lebens verliert das Komponieren den Charakter der Arbeit. Es ist reines Vergnügen. Während man schreibt, merkt man nicht wie die Zeit vergeht. Und wenn niemand unterbrechen würde, könnte man den ganzen Tag dabei bleiben", schreibt Peter Tschaikowsky im März 1878, also kurz vor Fertigstellung seines Violinkonzerts in einem Brief an seine Gönnerin Nadeshda von Meck.
    Auch wenn Eduard Hanslick mit seiner Kritik verbal weit übers Ziel hinausschießt, so erfasst er das Wesen von Tschaikowskys Violinkonzert doch sehr genau. Der Hörer erlebt eine sinnenfrohe und gnadenlos authentische Musik.
    "Im Finale fließt der Wodka in Strömen", so sieht das auch die Solistin der vorliegenden Aufnahme Patricia Kopatchinskaja.
    Und Hanslicks Zweifel, ob dieses Stück überhaupt spielbar ist, waren ebenfalls berechtigt. Zumindest für die damalige Zeit. Gut drei Jahre dauerte es von der Fertigstellung bis zur Uraufführung des Stücks. Nicht zuletzt, weil namhafte Geiger es mit dem Vermerk "unspielbar" erstmal zur Seite legten. Patricia Kopatchinskaja gibt im Booklet der neuen CD zu, dass auch ihr das Tschaikowsky-Violinkonzert lange Zeit fremd blieb. Jedoch nicht aus technischen Gründen.
    Ihre Ohren hörten darin keine Musik, die für unsere Zeit relevant wäre. Unnötig durchgekaut von jedem, der nicht zu faul war, Geige zu üben, missbraucht für die Übung der Fingerfertigkeit und ausgespuckt in Wettbewerben. Erst allmählich kam bei ihr die "Sehnsucht nach der Melancholie, dem Leiden, der Zerrissenheit, aber auch nach der süßen Verführung, der lustvollen Virtuosität und der Liebe zur Folklore" in dem Werk.
    Peter Tschaikowsky: Konzert für Violine und Orchester D-Dur, op. 35, 1. Satz: Allegro moderato
    Das Spektakuläre dieser Aufnahme verdankt sich zum einen der Virtuosität der Solistin Patricia Kopatchinskaja, ihrem Mut zum Risiko, dynamische und damit auch klangliche Extreme auszuloten. Hier sucht eine Künstlerin nicht in erster Linie nach Schönheit, sondern nach Wahrhaftigkeit. Und damit bewahrt sie Tschaikowskys Violinkonzert davor, zu einer pappig-süßen, pseudo-romantischen Klangsoße zu werden.
    Hinzu kommt die technische Perfektion des von Teodor Currentzis geformten MusicAeterna-Orchesters. Dessen Streicher spielen wie die Solistin mit Darmsaiten, die Bläser auf historischen Instrumenten. Ein Ensemble, das durch seine hochenergetische Musizierhaltung besticht. Currentzis lässt seine Musiker hörbar auf vorderster Stuhlkante spielen. Oder wie die Bläser von MusicAeterna gleich im Stehen. Currentzis scheint das Vermeiden von Routine zum obersten Prinzip erhoben zu haben.
    Das Ergebnis ist "Starkstrom aus dem Lautsprecher". Musik so authentisch wie das wahre Leben mit allen Ecken und Kanten. Das macht diese Einspielung zu einer Aufnahme mit Referenzcharakter. Oder um es in Abwandlung des eingangs zitierten Tschaikowsky-Briefs auszudrücken: Während man hört, merkt man nicht wie die Zeit vergeht. Und wenn niemand unterbrechen würde, könnte man den ganzen Tag dabei bleiben.
    Igor Strawinsky: Les Noces, 1. Szene
    Es ist eine dramaturgisch kluge Wahl von Dirigent Teodor Currentzis, auf seiner neuen CD dem Tschaikowsky-Violinkonzert Igor Strawinskys Ballettkantate "Les Noces" zur Seite zu stellen. Sie knüpft inhaltlich dort an, wo Tschaikowsky in seinem Violinkonzert aufhört. Auch hier geht es um eine wilde Feier, eine russische Bauernhochzeit. Kurz bevor Strawinsky sich wegen des heraufziehenden Ersten Weltkriegs ins Schweizer Exil begab, stieß er in Kiew auf eine Sammlung volkstümlicher russischer Texte. Sie bilden den Nährboden für "Les Noces".
    "Es kam mir nicht darauf an, die Gebräuche einer ländlichen Hochzeit nachzuzeichnen. Ich hatte keinerlei Vorlieben für ethnografische Fragen. Ich wollte vielmehr selber eine Art szenischer Zeremonie erfinden, und ich bediente mich dabei ritueller Elemente aus jenen Gebräuchen, die in Russland seit Jahrhunderten bei ländlichen Hochzeiten üblich sind. Diese Elemente dienten mir nur als Anregung. Ich bewahrte mir durchaus die Freiheit, sie so zu verwenden wie es mir passte."
    Das schreibt Strawinsky in seinen Lebenserinnerungen. Und so entstand am Ende so etwas wie die zivilisierte Version seines 1913 uraufgeführten "Sacre du Printemps". Die Braut tanzt sich in "Les Noces" zwar nicht in den Tod wie die Jungfrau im "Sacre". Das feierselige Gebaren der Hochzeitsgesellschaft kaschiert jedoch nur oberflächlich, dass es sich hier nicht um eine Liebesheirat handelt. Die Braut opfert sich, weil die Eltern das so für sie beschlossen haben.
    Für Strawinsky war die Arbeit an "Les Noces" sicher auch eine Art Flucht in eine archaisch-russische Traumwelt, deren reales Abbild gerade im Begriff war für immer unterzugehen.
    Zum Chor und den vier Gesangsolisten hatte Strawinsky ursprünglich einen gigantischen Orchesterapparat vorgesehen. In einer ersten Version von 1917, war das Riesenorchester bereits auf die Größe und Besetzung einer russischen Dorfkapelle zusammengeschrumpft. Bei der Uraufführung 1923 in Paris bestand das Instrumentalensemble noch aus vier vielbeschäftigten Pianisten und einem halben Dutzend Schlagzeugern. Eine Entwicklung, die zeigt wie radikal sich Strawinskys ästhetische Ansichten in nur wenigen Jahren verändert haben. Und wie wegweisend sie waren. Mit "Les Noces" lieferte Strawinsky letztlich die klangliche Blaupause für die Carmina Burana von Carl Orff.
    Igor Strawinsky: Les Noces, 4. Szene
    Igor Strawinskys "Les Noces" und das Violinkonzert von Peter Tschaikowsky mit Patricia Kopatchinskaja sowie Chor und Orchester von MusicAeterna unter der Leitung von Teodor Currentzis. Ein erstes CD-Highlight im Jahr 2016 erschienen beim Label Sony.