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Kornblum: Gesundheitsreform sichert Obamas Platz in der Geschichte

Seit den 1930er-Jahren haben US-Präsidenten versucht, eine Krankenversicherung einzuführen - Barack Obama hat es 2012 geschafft. Ein historischer Moment für den amerikanischen Politologen John Kornblum - aber keiner, der die Präsidentenwahl im November entscheiden werde.

Das Gespräch führte Christiane Kaess | 29.06.2012
    Christiane Kaess: Es war US-Präsident Barack Obama selbst, der die Gesundheitsreform als eines seiner wichtigsten Vorhaben bezeichnete, und schon im Wahlkampf war es ein Hauptthema. Eine Grundversicherung soll für die meisten Amerikaner zur Pflicht werden, am Ende sollen rund 300 Millionen von ihnen versichert sein. Über Obamas wichtigstes innenpolitisches Reformprojekt urteilte gestern der Supreme Court, der von konservativen Richtern dominiert ist und die eigentlich davor durchblicken ließen, dass sie vom Kern der Reform, der Versicherungspflicht für alle Amerikaner, nicht überzeugt sind. Gestern aber dann das Urteil: Mit nur einer Stimme Mehrheit erklärten die neuen Richter die allgemeine Versicherungspflicht für verfassungsgemäß. – Am Telefon ist John Kornblum, ehemaliger US-Botschafter in Deutschland. Guten Morgen, Herr Kornblum.

    John Kornblum: Guten Morgen!

    Kaess: Herr Kornblum, hat Sie das Urteil überrascht?

    Kornblum: Ja, es hat mich etwas überrascht. Es hat, glaube ich, viele, viele Leute überrascht. Aber es war ein richtiges Urteil und ich glaube, dass der oberste Richter wusste, dass er eine Verpflichtung hatte, das Land nicht sozusagen ins Chaos zu stürzen durch eine Entscheidung des Gerichtes.

    Kaess: Warum war es richtig und warum denken Sie, es hätte das Land ins Chaos gestürzt, wenn es anders gekommen wäre?

    Kornblum: Es hätte zu einer sehr, sehr tiefen und sehr polarisierten Diskussion geführt, genau mitten im Wahlkampf. Zweitens: Es war die richtige Entscheidung – da zweifeln nur vielleicht die Republikaner dran -, dieses Gesetz von Obama hat eigentlich Wirkung gehabt und es ist sehr wichtig, dass es jetzt in Kraft bleiben kann.

    Kaess: Es hat ja fast zwei Stunden gedauert, bis Obama selbst reagiert hat. Glauben Sie, er war selbst auch überrascht über die Entscheidung?

    Kornblum: Ich glaube, ja. Es gibt sogar Berichte in den Zeitungen heute Morgen, dass er zuerst die Entscheidung nicht verstanden hatte und gemeint hatte, er hat verloren. Danach mussten sie wahrscheinlich ganz genau ihre Reaktion verfeinern und er kam dann sehr zuversichtlich und, ich meine, auch sehr glücklich heraus und hat das dann bestätigt.

    Kaess: Es heißt also jetzt grünes Licht für die Einführung einer Zwangsversicherung für die meisten Amerikaner ab 2014. Sie haben es schon angesprochen: Es gab eine sehr polarisierte Diskussion darüber. Mit welchen Reaktionen rechnen Sie denn jetzt, denn laut Umfragen sind die Gegner der Gesundheitsreform ja in der Mehrheit?

    Kornblum: Ja, es kommt darauf an, welche Frage in den Umfragen gestellt wird. Die meisten Leute sind nicht gegen die Vorteile, die das Gesetz jetzt bringt, sondern sie sind gegen dieses Wort "Pflicht". Das geht sehr tief in die amerikanische Kultur rein, und die Idee, dass die Regierung irgendwelche Verpflichtungen auf uns auflegen könnte, ist vielen, vielen Amerikanern fremd. Aber einige, sogar die Hauptteile der Versicherung, sind von verschiedenen Mehrheiten – kommt darauf an, mit welchem Teil man spricht – befürwortet worden. Ich glaube, wie sehr oft in der amerikanischen Geschichte, wenn das Gericht einmal ein Urteil ausspricht, dann bleibt eine Sache bestehen, selbst wenn es noch eine weitere Debatte gibt.

    Kaess: Es ist ja schon im Vorfeld darüber spekuliert worden, ob dieses Urteil wahlentscheidend im November wird. Wird es das sein?

    Kornblum: Ich glaube nicht. Das ist ein Teil der Diskussion. Aber im Endeffekt wird die Wahl durch die Wirtschaft und die wirtschaftliche Lage entschieden werden. Und die Republikaner – das sieht man schon heute Morgen in den amerikanischen Zeitungen -, die wissen nicht ganz genau, wie sie das überhaupt einbringen sollten. Romney hat am Anfang gesagt, natürlich, wenn ich Präsident bin, dann stürze ich das Gesetz. Na ja, das ist auch sein gutes Recht, wenn er Präsident ist. Aber bis er Präsident ist, wird es schwierig sein, genau den richtigen Ton zu finden - vor allem, weil Romney selber genau das gleiche System, genau das gleiche Gesetz in Massachusetts etabliert hatte, als er Gouverneur war.

    Kaess: Da hat er immer dagegen argumentiert, das waren schließlich weniger Kosten und war weniger bevormundend, weil es nur um einen Staat ging und nicht um das ganze Land.

    Kornblum: Ja, ja, das kann er sagen. Aber die Tatsache ist, dass das Konzept fast gleich, nicht hundertprozentig, aber fast gleich war und Obama hat von Anfang an gesagt, er hatte ja das Modell von Romney benutzt, um es auch für die Republikaner akzeptabel zu machen.

    Kaess: Herr Kornblum, jetzt ist das zwar ein Sieg für Obama. Aber mobilisiert dieses Urteil jetzt auch die Wähler von Mitt Romney, in der Hoffnung, dass bei dessen Wahlsieg das Gesetz dann wieder gekippt wird?

    Kornblum: Es kann sein. Aber die Leute, die Romney mobilisieren muss, sind nicht seine Wähler, sondern die sogenannten unabhängigen Wähler, und die unabhängigen Wähler werden wahrscheinlich nicht so sehr von diesem Urteil beeinflusst worden sein, selbst die, die vielleicht dagegen sind, sondern für sie ist die Frage der Wirtschaft die einzige Frage, die für die Wahl entscheidend ist. Außenpolitik spielt so gut wie keine Rolle und ich glaube nicht, nachdem der oberste Gerichtshof gesprochen hat, dass das wahlentscheidend sein wird, dass das Krankenversicherungsgesetz wahlentscheidend sein wird.

    Kaess: Aber auf der anderen Seite hat ja die Reform auch zum Entstehen der Tea Party beigetragen. Werden denn die rechten Kräfte, also die, die alle staatlichen Eingriffe ablehnen, durch das Urteil gestern letztendlich gestärkt im Sinne einer Protestbewegung?

    Kornblum: Sie werden sich selber gestärkt fühlen und sie werden wahrscheinlich noch engagierter sein. Aber ich glaube, wie ich eben gesagt habe, diese Gruppe hat er schon. Die Gruppe, die er gewinnen muss, sind die sogenannten Unabhängigen, und in Amerika ist das eine sehr große Gruppe, 30, 40 Prozent der Wähler, und vielleicht sogar ein paar Demokraten, die mit Obama unzufrieden sind. Die Wähler werden teilweise vielleicht auch von dieser Debatte beeinflusst worden sein, aber ich glaube nicht, dass eine Fokussierung auf dieses Gesetz für Romney diese Gruppen bringt, und auch die Kommentare heute Morgen in den amerikanischen Zeitungen bestätigen diese Meinung, dass es sogar gefährlich sein würde für Romney, zu viel Wert auf diese Themen zu legen, weil er dann die anderen wichtigen wirtschaftlichen Themen vernachlässigen würde.

    Kaess: Also vielleicht nicht wahlentscheidend. – Das Gesetz sieht ja vor allem Subventionen für die unversicherte Mittelschicht vor und eine Ausweitung des staatlichen Gesundheitsprogramms für Arme. Kann das denn den Ruf Obamas als Präsident sozialer Gerechtigkeit re-etablieren, denn davon war ja in letzter Zeit nicht mehr viel zu hören?

    Kornblum: Ja, das kann es, und ich würde noch weitergehen. Ich sage, diese Entscheidung des Gerichtshofes wird für Obama seine Rolle in der Geschichte sichern. Man darf nicht vergessen: Dieses Projekt gibt es seit den 30er-Jahren. Harry Truman, ein Präsident, der ja auch sehr hoch geschätzt wird, der ist daran gestolpert, John F. Kennedy konnte es nicht schaffen, Lyndon Johnson etc. etc. Also eine Reihe von sehr wichtigen, fast historischen amerikanischen Präsidenten haben es versucht und haben es nicht geschafft. Für Obama wird das, egal was jetzt im Wahlkampf passiert, seine Rolle als Sozialreformer, als Präsident, der auch für den allgemeinen Wohlstand dastand, befestigend. Er hat am Anfang seiner Amtszeit gesagt, es kann sein, dass ich nur eine Wahlperiode hier überlebe, aber ich möchte meine Agenda durchführen und wenn ich das getan habe, werde ich zufrieden sein. Jetzt kann er zufrieden sein!

    Kaess: Eine Einordnung war das von John Kornblum, ehemaliger US-Botschafter in Deutschland. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen, Herr Kornblum.

    Kornblum: Ja, ich bedanke mich!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Interview mit John Kornblum bei DKultur:

    Früherer US-Botschafter: "Obamacare" ist nicht wahlentscheidend