Donnerstag, 18. April 2024

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Kosmos von Interferenzen
Per Nørgards Orgelbuch

Per Nørgard prägt in Dänemark nicht nur kulturelle Debatten, seine Kompositionen stehen ebenso für ein Suchen nach Erkenntnis. Sein Orgelbuch greift auf alte dänische Hymnen zurück und bewegt sich in geistlichen Kontexten. Der Komponist hat sechzig Jahre lang daran gearbeitet.

Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre | 25.02.2018
    CD Per Nørgård "The Organ Book"
    CD Per Nørgård "The Organ Book" (Frank Kämpfer)
    Nørgard, Jahrgang 1932, fühlt sich von östlichen Klangvorstellungen inspiriert und sucht zugleich nach unendlichen Verbindungen zwischen allem sucht. Seine Musik fragt aus existentieller und ästhetischer Perspektive, immer getrieben von einer inneren Notwendigkeit. Hier geht es um Orgelmusik aus der Feder Per Nørgards, eingespielt von Jens E. Christensen. Die CD ist beim Label DACAPO erschienen und über den Vertrieb von NAXOS erhältlich.
    Impulse von Jean Sibelius und Pierre Boulez
    Als Kompositionsstudent am Königlichen Konservatorium in Kopenhagen steht Nørgard zunächst im Bann der Sinfonik von Jean Sibelius, dessen Kraft ihn fasziniert. Mit der internationalen Avantgardeszene kommt er erstmals während der Studienjahre in Paris ab 1956 im Umfeld von Nadja Boulanger, Pierre Boulez und David Tudor in Berührung. Nørgard entwickelt schnell eigensprachliche Prinzipien struktureller Gestaltung. Die Harmonik ist dabei ausgerichtet auf die natürlichen Gesetzmäßigkeiten der Obertonreihe. Die Melodik folgt den sich selbst generierenden Impulsen der 'Unendlichkeitsreihen' und die rhythmische Ebene nimmt die Proportionen des Goldenen Schnitts als Ausgangspunkt.
    In einem Gespräch beschreibt Per Nørgard sein Komponieren als eine, aus Interferenzen bestehende Welt: "Es ginge nicht darum, eine neue Art von zweistimmigem Kontrapunkt zu schreiben, sondern um das Ausdrücken einer Dimension der Interferenz. Diese ist das Resultat der Wirklichkeit zweier musikalischer Gestalten und bewegt sich vor allem auf der Ebene der Gefühle und Wahrnehmung."
    Unter dem dänischem Titel "Orgelbogen", also: Orgel-Buch, komponiert Per Nørgard zwischen 1955 und 2014 zahlreiche Präludien und Choralphantasien für Orgel. Dieses Orgelbuch begreift er selbst als Ergänzung zu seinen größeren Orgelwerken. Es handelt sich vorwiegend um einfache Stücke in sakralen Kontexten. Auch wenn es Anknüpfungspunkte an die dänischen Hymnen gibt, so geben die Werke Einblick in das musikalische Universum von Per Nørgard.
    Der Anfang, "Preludio Festivo", 1956 komponiert anlässlich der Hochzeit von Freunden, verfügt über eine hohe Ausdrucksintensität, die hier über Halbtonschrittbewegungen auf der Ebene von Akkorden, besonders im Wechsel zwischen großen und kleinen Terzen entsteht.
    Musik: Per Nørgard - "Preludio Festivo" aus: "The Organ Book"
    Bezüge zu Bach
    Zu den frühesten komponierten Orgelstücken von Per Nørgard gehören die "5 Orgelchoräle" op.12 aus dem Jahr 1955. Er greift hier auf bekanntes Material aus Melodien des Dänischen Hymnen-Kanon zurück, der im Zuge der Luther’schen Reformation nach Dänemark gelangte. Eine Nähe zum Choralschaffen von Jóhann Sebastian Bach ist unüberhörbar und so sind die Stücke auch dementsprechend inspiriert.
    Weitreichende stilistische und expressive Breite bestimmt die Ausarbeitung, wobei das Moment des Schwebenden, Unvorhersehbaren und Ungreifbaren ein durchgehendes Charakteristikum ist. Kompositorische Bewegungen spielen oft auf mikrotonaler Ebene. Nørgard’s eigenen Aussagen zufolge dominieren Schwingungen und Interferenzen auf der Basis immer neu zu erkundender Räume. Christoph Schlüren beschreibt ihn als einen "zeitlosen Wanderer, für den es vom Banalen bis zum Hochkomplexen keine Begrenzung gibt, durch die er sich schützen würde." Ein Beispiel: der 5. Choral "opstanden er den Herre Krist".
    Musik: Per Nørgard - "Opstanden er den Herre Krist" aus: "Five Organ Chorals" op.12
    Prinzip des Fortschreitens
    Per Nørgard wächst als Sohn eines Textilkaufmanns für Brautmoden in einem Arbeiterviertel in Kopenhagen auf. Das Klavierspiel begleitet ihn bereits als Jugendlichen, das Improvisieren fasziniert ihn und das Komponieren hat er schnell als Beruf im Visier. Das eigene musikalische Denken als Komponist kreist um Unendlichkeitsreihen. Er streift alle musikalischen Gattungen zwischen Tradition und Improvisation. Dazu entwickelt er als persönliche Handschrift die "series infinities", eine Methode, bei der er dieselben musikalischen Strukturen immer wieder neu auf verschiedenen Ebenen entfaltet. Von einem beliebigen Intervall ausgehend vermag eine solche Reihe durch ein geregeltes Prinzip der Fortschreitung einen endlosen Linienzug geben.
    Über eine der ältesten Melodien im Buch der Dänischen Hymnen schreibt Nørgard 1976 die Fantasie "Christ stod op de dode". Ein Werk, das Nørgard selbst vergessen hatte und das auch nicht in seiner Werkliste auftaucht, erst 2013 in einer Bibliothek. Nørgard überarbeitete ein Jahr später diese Version und kombiniert jetzt Oberon reiche Harmonien mit dem Oster-Hymnus.
    Musik: Per Nørgard - "Krist stod op de dode"
    Nørgard sei ein Meister in allem, was er schafft - so der dänische Rundfunk über den Komponisten, dem auch oft das Attribut Ohrenmensch zu Teil wird, weil er immer wieder die Vision schaffe, dass das Potential der Musik größer sei, als man denkt. Mit gut 300 Kompositionen in vielen Genres knüpft Nørgard an die musikalische Tradition Skandinaviens an und sucht Verbindungsmöglichkeiten zu anderen Komponenten der Musikgeschichte.
    Vorliebe für Unendliches
    Der Begriff der Unendlichkeit steht im Mittelpunkt des musikalischen Denkens von er Nørgard. Vor diesem Hintergrund beschäftigt ihn die Entwicklung der Technik sogenannter "infinity series", also Unendlichkeitsreihen - sie sind geprägt und entstanden durch sein Interesse an mathematischen Fragen. Musikalische Strukturen sollen sich immer wieder neu auf musikalischen Ebenen entfalten. Vielschichtige Klangräume sucht Nørgard für sich zu erschließen. Die Begegnung mit Gemälden des Schweizer Malers Adolf Wölfli konfrontiert ihn mit neuen Ausdruckswelten, die Nørgard nachhaltig beschäftigen und faszinieren. "Plötzlich war es unvorhersehbar, wie der Rhythmus sich entwickelte und neue rhythmische Formen ergaben sich, wie ich sie in der Geborgenheit meines strahlenden Universums nicht entdeckt hätte", so Nørgard.
    Per Nørgard hat in seinem Orgelbuch verschiedentlich eigene Werke bearbeitet bzw. in anderen Kontexten wieder aufgegriffen, so auch die Toccata aus seinem Stück "Libra" für Chor und Instrumente. Ursprünglich für Gitarre geschrieben, hat er 2013 das Werk zu einem ausgedehnten Orgelstück transponiert und erweitert, deutlich anknüpfend an Bachs "Präludium" aus dem "Wohltemperierten Klavier" Teil I und Maurice Ravels "Bolero".
    Musik: Per Nørgard - "Toccata. Libra"
    Der Interpret dieser aktuellen Einspielung mit Orgelwerken von Per Nørgard ist Jens E. Christensen, seit 1989 Organist der in Kopenhagen und ausgewiesener Spezialist für das Repertoire dänischer Komponisten, wobei seine Programme bevorzugt auf die Interaktion zwischen Neuer und Alter Musik setzen. Die Vielfalt seines Repertoires belegen über 20 CD-Einspielungen, darunter auch zahlreiche Erstaufführungen. Christensen spielt an der Orgel der Erlöserkirche in Kopenhagen. Das Instrument stammt aus von 1698, verfügt noch teilweise über Originalpfeifen und wird wegen seiner beeindruckenden Klanglichkeit auch als "Stradivarius unter den Orgeln" bezeichnet.
    Orientiert am Goldener Schnitt
    Aus dem Jahr 1991 stammt das "Summer Prelude" als Teil eines größeren Orgelwerkes. Nørgard verweist hier erneut aus sein Gefühl, dass Musik aus einer Linie besteht und sich im Laufe der Zeit sich verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten herauskristallisieren.
    Musik: Per Nørgard - "Summer Prélude"
    Abschließend fällt der Blick auf das größte eigenständige Orgelwerk aus Nørgard’s Feder, 1971 komponiert. "Canon", so der Titel des großformatigen 7-sätzigen Stückes, basiert auf den für Nørgard charakteristischen "Infinity Series". Es kreist um unterschiedlichste rhythmische und metrische Konstellationen nach dem Prinzip des Goldenen Schnitts, die eine äußerst differenzierte Umsetzung verlangen, um hörbar gemacht zu werden.
    Musik: Per Nørgard - "Canon" - Satz III
    Per Nørgard: The Organ Book
    Jens E. Christensen, Organ
    CD DACAPO 6.220656, LC 49000
    EAN:74731316566