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Krankenkassen-Verträge mit Ärzten
"Hier besteht eine Manipulationsanfälligkeit"

Der sogenannte Gesundheitsfonds der Krankenkassen, aus dem diese Geld bei schweren Erkrankungen ihrer Mitglieder abrufen können, sei anfällig für Manipulationen, sagte der Gesundheitsökonom Gerd Glaeske im DLF. Hier seien die Aufsichtsbehörden gefordert. Es müsse geprüft werden, was eigentlich die Patienten von diesem System hätten.

Gerd Glaeske im Gespräch mit Dirk Müller | 12.10.2016
    Gerd Glaeske, Professor für Gesundheitsökonomie an der Uni Bremen.
    Gerd Glaeske, Professor für Gesundheitsökonomie an der Uni Bremen. (dpa/Privat/Universität Bremen/Zentrum für Sozialpolitik)
    Dirk Müller: Es geht um viele hundert Millionen Euro. Zahlreiche Krankenkassen wollen Ärzte offenbar dazu bringen, für Patienten möglichst viele Diagnosen zu dokumentieren, vielleicht viel mehr als die eigene Diagnose, die eigene ärztliche Überzeugung so hergibt. Denn bei mehreren Krankheitsbildern des Patienten gibt es mehr Geld für die Krankenkassen aus dem sogenannten Strukturfonds und einen kleinen Bonus für die Ärzte gibt es noch dazu. Viele Gesundheitsexperten halten das für kriminell, die Krankenhäuser sprechen sogar von Abrechnungsbetrug im großen Stil, und viele fordern auch, dass die Justiz nun langsam einschreiten muss. - Am Telefon ist nun Gesundheitsökonom Professor Gerd Glaeske von der Universität in Bremen. Guten Morgen!
    Gerd Glaeske: Ja guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Herr Glaeske, ist das Bestechung?
    Glaeske: Es ist, glaube ich, haarscharf daran vorbei. Wir haben ja Verträge, Bestechungen passieren ja oftmals sozusagen im Dunkeln und ohne, dass es jemand mitkriegt. Aber hier geht es um Verträge, die mit Ärzten abgeschlossen werden, zusammen mit den Krankenkassen und auch den Kassenärztlichen Vereinigungen. Das heißt, die Verträge sind da, man könnte sie lesen, man könnte sich fragen, was steckt dahinter, und insofern ist etwas vertraglich geregelt, was wir allerdings als problematisch erkennen, nämlich dass Ärzte angehalten werden, relativ weitgehend bestimmte Diagnosen zu stellen und dafür ein gesondertes Honorar zu kassieren. Das Ganze heißt dann Betreuungs-Strukturverträge und es soll sich den Anschein geben, dass dort innerhalb dieser Verträge die Patienten bei bestimmten Diagnosen besser versorgt werden. Ob das stimmt, wage ich zu bezweifeln. Es scheint doch eher etwas zu sein, was zur Diagnoseoptimierung dient, weil dadurch Krankenkassen mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds bekommen.
    Müller: Also könnte man sagen vertragstreue Bestechung?
    "Das ist vertragstreue Bestechung"
    Glaeske: Es ist eine vertragstreue Bestechung. Es ist etwas, was tatsächlich dann dazu führt, dass man aus dem Katalog der 80 Erkrankungen sind es ja, die im morbiditätsorientierten Risiko-Strukturausgleich - ein Wortungetüm - dann auch gezahlt werden. Das heißt, man weiß sehr genau, bei welchen Diagnosen die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds an die Kassen fließen, und dass in diesem Bereich versucht wird, möglichst viele Diagnosen zu bekommen, möglichst häufig diese Abrechnung mit dem Gesundheitsfonds durchführen zu können, möglichst viel Geld letzten Endes in die Krankenkassen zu bringen, das ist etwas, was wir schon seit vielen Jahren beobachten. Aber dass es jetzt vertraglich geregelt ist seit einigen Jahren, das ist allerdings neu und das hätten die Aufsichtsbehörden merken müssen.
    Müller: Wenn wir das versuchen, ganz kurz auf den Punkt zu bringen - das ist eine komplexe Materie. Aber könnte man sagen, dass die Krankenkassen etwas davon haben, wenn der Patient kränker ist als er ist?
    Glaeske: Das wäre die kurze Formel. Das ist in der Tat richtig. Bei diesen 80 Krankheiten geht es eigentlich darum, dass sehr schwere Krankheiten eine Rolle spielen, Dialyse, onkologische Erkrankungen, Krebserkrankungen, oder auch ganz schwere Erkrankungen, wo Operationen notwendig sind. Das heißt, wir haben eine Situation, wo eigentlich es richtig ist, dass es diesen Ausgleich gibt zwischen den Kassen, weil die Kassen unterschiedliche Versicherte haben, unterschiedlichen Alters, unterschiedlichen Geschlechts, die auch unterschiedliche Krankheiten haben und unterschiedlich häufig Krankheiten haben. Nur es gibt auch Krankheiten innerhalb dieses Katalogs, die am Rande sozusagen so etwas ausfransen. Da kann ich mir überlegen, muss ich diese Diagnose stellen, oder kann ich sie stellen, und das ist natürlich dann ein Punkt, wo die Krankenkassen dann offensichtlich doch mehr darauf drängen, dass man dieses "kann ich sie stellen" in den Vordergrund stellt und damit auch die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds abrufen kann. Das ist der Aspekt an dieser Stelle.
    Müller: Können Sie uns da einige Beispiele geben, Krankheiten am Rande? Was sind das, Erkältungen oder?
    Es geht um Krankheiten, die man nicht unbedingt behandeln muss
    Glaeske: Nee nee, Erkältungen sind natürlich da nicht drin, weil es in diesem Morbi-RSA um schwerwiegende, um chronische Krankheiten geht. Es geht zum Beispiel um milde Depressionen, es geht zum Beispiel um Bluthochdruck, den man codieren kann, aber den man nicht codieren muss, weil er noch sich im sehr weit unteren Bereich befindet. Es geht darum, dass man bei Depressionen zum Beispiel weiß, dass man leichte Depressionen nicht unbedingt behandeln muss, also auch nicht unbedingt dann codieren muss, sondern dass man im Prinzip schwere Depressionen meint, die dann auszugleichen sind. Das heißt, wir haben eine ganze Reihe von sogenannten Volkskrankheiten, die dann genutzt werden, um sie letzten Endes breit zu diagnostizieren, und da liegt jetzt im Prinzip die Versuchung, wenn man so will, auch der Krankenkassen, hier die Ärzte doch etwas stärker anzureizen, hier genauer und optimiert zu diagnostizieren.
    Müller: Sie sagen codieren. Damit meinen Sie feststellen, diagnostizieren und damit dokumentieren?
    Glaeske: Das ist richtig. Man muss eine Diagnose dokumentiert haben, eine Diagnose nach einem bestimmten Diagnoseschlüssel. Der steht dann in den Patientenakten und das ist etwas, was dann letzten Endes von den Krankenkassen gegenüber dem Gesundheitsfonds dargestellt werden kann, dass ihre Versicherten diese Diagnosen haben, die in den 80 Krankheiten erwähnt sind, und dadurch auch die Möglichkeiten dann in Gang gesetzt werden, Geld aus dem Gesundheitsfonds abzufordern.
    Müller: Wir hören vielleicht einmal, was Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery zu den Vorwürfen gesagt hat:
    O-Ton Frank Ulrich Montgomery: "Wir bekommen sehr viele auch verstörte Anrufe von Kolleginnen und Kollegen, die sich darüber beklagen, dass die Krankenkassen mit allen Methoden, mit Call Centern, mit Drückerkolonnen versuchen, Ärzte zum Upcoding zu bewegen."
    Müller: Upcoding hat er als Verb genommen. Da haben wir uns gefragt, was ist das. Wir haben das gerade geklärt. Es geht darum, wir haben es ja gerade gesagt, das festzuhalten und zu dokumentieren. Jetzt sagt Montgomery im Grunde, die Krankenkassen sind schuld, weil sie so viel Druck auf die Ärzte ausüben. Stimmt das?
    "Daraus ist ein Dominospiel geworden"
    Glaeske: Na ja. Der Druck muss ja von irgendwo herkommen und irgendjemand hat zunächst mal einen Vorteil davon, und das sind in der Tat die Krankenkassen. Das hat ja auch der TK-Chef, Herr Dr. Baas, noch einmal deutlich dargestellt, übrigens in erstaunlicher Offenheit, denn er hat sich ja selber auch mit gemeint. Es geht letzten Endes darum in diesem System, dass er auch das Gleichnis gewählt hat, und ich fand das sehr gut, dass, wenn jemand im Kino vor Ihnen aufsteht und Sie nichts mehr sehen, sie irgendwie gezwungen sind, auch mit aufzustehen. Das bedeutet, wenn irgendjemand begonnen hat, in diesem System genau diese Betreuungs-Strukturverträge mit den Ärzten abzuschließen, können die anderen praktisch gar nicht anders als nachziehen. Insofern ist daraus ein Dominospiel geworden. Man hat angefangen und die Steine fallen der Reihe nach um. Alle Krankenkassen versuchen, solche Verträge abzuschließen. Insofern ist es tatsächlich so, wie Herr Montgomery sagt, dass tatsächlich die Krankenkassen im Prinzip so etwas haben oder unterhalten wie Diagnosereferenten. Die Pharmaindustrie hat Pharmareferenten, die Krankenkassen haben Diagnosereferenten, die dann bei den Ärzten versuchen, genau diese Codierung oder dieses Upcoding oder dieses Diagnose-Optimierungssystem zu nutzen, um dann mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu bekommen.
    Müller: Aber dann wären die Ärzte in dem Fall arm dran. Sie werden unter Druck gesetzt. Auf der anderen Seite kassieren sie pro Coding, pro Codierung, wenn wir das richtig verstanden haben, zehn Euro Prämie dafür. Das kann sich ja auch im Laufe des Jahres durchaus lohnen.
    Glaeske: Das lohnt sich auf alle Fälle. Die zehn Euro sind nicht versichert bei allen diesen Verträgen, es gibt auch weniger Geld. Insofern ist das, was die AOK in ihrer Pressemitteilung gesagt hat, ein Arzt würde doch nicht für dieses Geld eine bestimmte Diagnose aufschreiben, natürlich an der Realität vorbei. Wenn man das zusammenaddiert - und das gibt es in Niedersachsen auch -, dann ist so eine Grenze bei acht Diagnosen, die man dann stellt. Dann kriegt man 45 Euro offensichtlich, so sagen manche Verträge. Das läppert sich dann schon zusammen.
    Müller: Pro Patient ist das jetzt?
    "Die Krankenkassen nehmen die Diagnose, um im Gesundheitsfonds Geld abzuziehen"
    Glaeske: Das ist dann pro Patient, wenn jemand dann acht Diagnosen hat. Und wenn man das denn zusammenrechnet, dann bin ich überzeugt, dass da eine Milliarde Euro im Jahr von Versichertengeldern genutzt wird, um diese Verträge zu finanzieren. Das heißt, eine Milliarde fehlen uns im Prinzip. Wenn nämlich jeder Euro im Gesundheitssystem nur einmal ausgegeben werden kann, dann heißt das an dieser Stelle, diese Milliarde Euro kann nicht irgendwo anders für Versorgung ausgegeben werden, sondern dient allein dazu, das Honorar für diese Verträge abzudecken.
    Müller: Machen wir das noch einmal etwas plastisch, vielleicht spekulieren wir ein bisschen darüber, Herr Glaeske. Wenn ich jetzt zum Arzt gehe und der Arzt denkt, er müsste sich ein bisschen noch was dazuverdienen, und hat den entsprechenden Vertrag mit den Krankenkassen abgeschlossen, worüber wir gerade geredet haben, dann komme ich auf jeden Fall vom Arzt zurück und habe zumindest einen höheren Blutdruck.
    Glaeske: Das kann durchaus sein, dass man dann die Diagnose Bluthochdruck bekommen hat, der im Prinzip noch nicht krankhaft sein muss, aber wenn man in der Versuchung ist, eine bestimmte Diagnose zu codieren, und möglicherweise auch das noch rechtfertigen kann, weil es sich im unteren Bereich befindet, obwohl man dort vielleicht nur beobachten müsste, mit Ihnen darüber sprechen müsste, wie Sie Ihren Lebensstil verändern, wie Sie auch den Blutdruck ohne Arzneimittel, ohne sonstige Behandlung regulieren könnten, dann wäre der Bluthochdruck eventuell für den Arzt wichtig zu erinnern, wenn Sie beim nächsten Mal zurückkommen, aber er muss es nicht codieren. Sobald er codiert ist kann es sein, dass diese Kaskade losgeht und die Krankenkassen diese Diagnose dann nehmen, um im Gesundheitsfonds Geld abzuziehen.
    Müller: Jetzt ist der Arzt mein Vertrauensmann, die Ärztin meine Vertrauensfrau. Da muss ich mich doch verlassen können, dass das alles stimmt, mache ich mir große Sorgen, wenn ich jetzt plötzlich Bluthochdruck habe. Warum gehen die Ärzte dieses Risiko ein beziehungsweise warum machen die das?
    "Honorar fließt, ohne dass es eine Gegenleistung gibt"
    Glaeske: Na ja, das ist eine wichtige Frage an dieser Stelle. Ich glaube, man darf die Ökonomie nicht unterschätzen. Man darf nicht die finanziellen Anreize unterschätzen. Ich bin auch sicher, dass sich viele Ärzte wehren. Ich höre immer wieder, dass viele Ärzte sagen, sie sprechen gar nicht mit diesen Repräsentanten der Krankenkassen, weil sie sagen, das ist unanständig, was da passiert in diesem Bereich. Aber es gibt möglicherweise andere, die diese Honorare dann mitnehmen als Zugewinn, wenn man so will, pro Monat. Ich glaube, dass hier ähnlich wie bei der Pharmaindustrie, ähnlich wie dort auch Anreize geschehen, im Grunde genommen dann Ökonomie eine wichtige Rolle spielt und dass solche Honorare auch verführerisch sind. Insofern wird letzten Endes das über solche Verträge erreicht, was die Kassen auch möchten, dass nämlich ganz bestimmte Diagnosen dazu führen, dass mehr Geld fließt. Und das ist eigentlich der Gesichtspunkt, den sich Ärzte sehr gut überlegen müssen: Gibt es eine Gegenleistung für den Patienten durch diese Verträge. Unser Eindruck ist, wenn wir diese Verträge anschauen und wenn wir sehen, was dann passiert, dass die Versorgung für die Patienten nicht unbedingt in jedem Fall besser wird, und insofern bleibt es übrig, dass im Prinzip das Honorar fließt, ohne dass es eine Gegenleistung gibt, und das ist das Problematische an dieser ganzen Lösung und letzten Endes auch an dieser Geldausgabe. Im Grunde genommen eine zum Teil gigantische Verschwendung, die da passiert.
    Müller: Der Hippokratische Eid ist null und nichtig?
    Glaeske: Das ist in der Tat dann tatsächlich zu konstatieren und insofern glaube ich tatsächlich, dass diese Praxis wirklich durchleuchtet werden muss und dass die Aufsichtsbehörden, das Bundesversicherungsamt und die Länderaufsichtsbehörden, sich diese Verträge genau anschauen sollten und sich genau anschauen sollten, was beim Patienten letzten Endes ankommt. Da glaube ich, dass man dann doch mit erheblicher Kritik diese Verträge begleiten wird.
    Müller: Weiß der Gesundheitsminister davon? Der ist doch auch dafür verantwortlich.
    "Dieses System ist nicht für Ärzte und Krankenkassen gemacht worden"
    Glaeske: Na ja, das hoffe ich einfach. Und wenn er es nur aus der Presse weiß. Das Problem ist, dass wir das und ich persönlich auch das seit vielen Monaten problematisiere und dass ich darüber auch publiziert habe und das auch beim Bundesversicherungsamt bei einem Besuch deutlich gemacht habe, dass hier eine Manipulationsanfälligkeit besteht, nachdem ich ja auch jemand war, der den ersten Aufschlag bei dem wissenschaftlichen Beirat mit dem Morbi-RSA mit verantwortet habe und wir seinerzeit schon gesagt haben, na seien wir vorsichtig, dass nicht bestimmte Regelungen, die dort getroffen werden, auch ausgenutzt werden können. Und man hat das Empfinden, dass es auch so gekommen ist und dass man da zu wenig Aufmerksamkeit auf diese mögliche Manipulationsanfälligkeit gelegt hat.
    Müller: Auch weil Sie das System ein bisschen stören und verstören, sind Sie ein unangenehmer Mahner?
    Glaeske: Das ist wahrscheinlich so. Vielleicht ist das auch meine Aufgabe. Ich betrachte es jedenfalls als meine Aufgabe zu schauen, was kommt bei Patienten an, wofür bezahlen Patienten in diesem System, was sind ihre Versichertenbeiträge wert, und da geht es wirklich nicht darum, dass dieses System für die Ärzte und für die Krankenkassen gemacht worden ist, sondern für die Patientinnen und Patienten. Und ich will wissen, für welche Leistungen zahlen wirklich Patienten berechtigterweise und bei welchen Leistungen habe ich eher das Empfinden, dass die interessierten Akteure im System viel Versichertengeld abgreifen, was eigentlich nie bei den Patienten als Leistung ankommt.
    Müller: Bei uns im Deutschlandfunk heute Morgen der Bremer Gesundheitsökonom Professor Gerd Glaeske. Danke herzlich, dass Sie Zeit für uns gefunden haben. Ihnen noch einen schönen Tag.
    Glaeske: Ja danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.