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"Krankenzimmer Nr. 6"

Schmerz entsteht im Kopf. Aber wenn Schmerz nur eine Art schmerzender Gedanke ist, ein elektrischer Impuls in Neuronen, wie kann man ihn dann als wirklich existent betrachten? Mit dieser Frage beschäftigen sich heutzutage Hirnforscher und Philosophen, doch lange vor ihnen hat das auch Anton Tschechow getan - in seiner Erzählung "Krankenzimmer Nr. 6".

Von Michael Laages | 27.02.2010
    Von der Verführung zum Mitleid erzählt diese kleine Geschichte aus Tschechows letzten Jahren; und von der Erkenntnis, die bereit steht für alle, die sich einzulassen vermögen auf das Mitleiden. Eine ziemlich vergammelte Baracke im hintersten Eckchen eines Krankenhauses in hinterster Provinz beherbergt nur mehr Übriggebliebene, Überflüssige, Kranke an der Seele, die die Verwaltung der Anstalt vermutlich längst vergessen hat.

    Nikita, der Aufseher, sorgt für Zucht und Ordnung; und von einem Gefängnis, einem Gulag gar, ist diese Baracke, ist dieses Krankenzimmer kaum zu unterscheiden. Ab und an schaut aber immerhin ein Arzt vorbei und macht mit den Patienten kleine Entspannungsübungen – bis einer der Vergessenen, Verlassenen und Ausgestoßenen diesen Arzt (vielleicht den Doktor Tschechow) hineinzuziehen beginnt in die verquere Gedankenwelt dessen, den die normale Welt für "krank" zu halten gewöhnt ist. Ein großes Referat über die Wirklichkeit des Schmerzes hält der Kranke – und infiziert sozusagen den Mediziner. Bald ist der einer von ihnen – und fühlt nun tatsächlich selber (Test: ein in der Tür gequetschter Finger) den Schmerz, den er zuvor nur zu therapieren meinte. Das ist –natürlich- sein Ende; ausgestoßen von der Wirklichkeit "draußen", stirbt er bald in der Gesellschaft seiner neuen Leidensgenossen. Das Leben aber geht weiter, mit neuem Frühling irgendwo weit weg von der bewohnten Welt.

    Dimiter Gotscheff und Ivan Pantelejev, dramaturgischer Berater des Regisseurs und wie der offenbar ein echter Tschechow-Spezialist, möbeln das schmale Geschichtchen auf zum faszinierenden Tschechow-Pandämonium; denn in das "Krankenzimmer Nr. 6" hat sich nicht nur der Tuba-Spieler Philipp Haagen verirrt, der dem monströsen Blas-Instrument einen zauberhaften Flickenteppich aus unter anderem Motiven der Jazz-Suiten von Dmitri Schostakowitsch und alle Tier- und Menschen-Motive aus Sergej Prokofjews Märchen "Peter und der Wolf" entlockt, sondern hier trifft sich auch eine Menge von Tschechow-Figuren, aus "Onkel Wanja" und dem "Kirschgarten", aus "Möwe und "Drei Schwestern".

    Pantelejew und Gotscheff haben Monolog-Stellen montiert, und wer die alle kennt, darf sich vor allen anderen freuen. Aber auch wer nun nicht gleich jeden Text all der Ranjewskajas und Arkadinas ordentlich zuordnen kann, gerät womöglich in den Sog sonderbar aus aller Zeit und jeder Welt gefallener Lemuren, deren wesentlichste Mitteilung an die Welt ist, dass in ihr offenbar kein Platz mehr ist für Menschen wie sie. Dabei beharren Tschechows Figuren allerdings mit großem Ernst darauf, dass diese Welt doch eigentlich die ihre ist oder wenigstens bis vor kurzem noch war und dass Glück verdammt noch mal möglich sein müsste. Doch der Doktor Tschechow hat es stets besser gewusst.

    Darüber hinaus kommt "Krankenzimmer Nr. 6" ohne eigentliche Handlung aus; das Kollektiv der Verlorenen zelebrieren virtuos die Mitglieder von Gotscheffs kleiner Theaterfamilie, Samuel Finzi als Arzt, der zum Patienten wird, Wolfram Koch als Schmerztheoretiker und Almut Zilcher als Diva, die immer noch nicht lassen kann vom verführerischen Bustier und Tütü früherer, größerer Zeiten, aber auch Katrin Wichmann, Harald Baumgartner und Andreas Döhler. Margit Bendokat schließlich begleitet diese ewigen Untergeher als bitterbös-verschmitzte, beinebaumelnde Nikita-Wächterin. Wie so oft vervollständigt ein szenischer Effekt der Bühnenbildnerin Katrin Brack das Kunst-Stück eines Gotscheff-Abends – sie lässt nämlich die komplette Scheinwerfer-Garnitur aus dem Bühnenhimmel bis haarscharf über die Köpfe des Ensembles herunter fahren; und wie im bedrängenden Scheinwerferlicht eines Kriminal-Kommissars bei der Befragung von Verdächtigen werden nun so die Tschechow-Passagen aus den Seelen-Kranken hervor gepresst.

    Zum Weinen wäre das alles, meint Nikita im letzten, poetischen Tschechow-Wort vom beginnenden Frühling, einer neuen Zeit, die irgendwo weit weg, wo wir nicht sind, beginnt – und dennoch ist die Fabel von der Gemeinschaftlichkeit des Krankseins, des Schmerzes, den all die allzu Sensiblen erleiden in der Gesellschaft, wie sie war (und ist), einer der heitersten Gotscheff-Abende seit langem. Zwischendrin –zugegeben- erschöpft er sich auch ein wenig im Zitatensalat aus Tschechow-Stücken – aber dem andauernd verführerischen Mitleidston, diesem tiefsten Kern des Tschechow-Theaters, kam vielleicht lange niemand mehr so nahe wie die Patienten im "Krankenzimmer Nr. 6".