Freitag, 29. März 2024

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Krieg im Theater
"Front" inszeniert von Luk Percevals

Das Sterben im Ersten Weltkrieg lässt sich nicht in Szene setzen. Daher ist die Entscheidung Luk Percevals, in dem mehrsprachigen Stück Text vortragen zu lassen und das Spiel zu vernachlässigen, nachzuvollziehen. Die Koproduktion von "Front" zwischen dem Thalia Theater und dem Theater NT Gent ist trotzdem von tiefer Wirksamkeit.

Von Michael Laages | 23.03.2014
    Die Schauspieler Patrick Bartsch (als Albert Kropp, l-r), Bernd Grawert (als Paul Bäumer), Katelijne Verbeke (als Mutter Seghers) und Benjamin-Lew Klon (als Müller) spielen am 20.03.2014 in Hamburg bei der Fotoprobe für das Stück "Front" auf der Bühne des
    Premiere von "Front" nach "Im Westen nichts Neues" von Remarque am Thalia Theater. (dpa / Axel Heimken)
    Wer im Theater vor allem Theater erwartet, das heißt: Szene und Spiel, also irgendwie "Kunst" in der Begegnung zwischen lebendigen Menschen und Text, der mag nach - sagen wir mal - der ersten Viertelstunde skeptisch fragen, ob das jetzt die ganze Zeit so weiter gehen soll, so un-lebendig, mit knapp einem Dutzend Darstellerinnen und Darstellern hinter Notenpulten nahe der Bühnenrampe, an denen sie Text sprechen. Ja, so geht das weiter; die Rede ist ja vom Leiden, vom Sterben, vom Tod, von der zerstörten Menschheit. Da ist Luk Percevals Entscheidung für die beinahe nur "szenische Lesung" umstandslos nachvollziehbar. Nichts wird hier wirklich gezeigt, der Gipfel szenischer Gefühle sind derwischhafte Kreiselbewegungen bis fast zum Umfallen sowie eine Art Fußballspiel, mit einem schwarzen Etwas als Ball, das auch ein Totenschädel sein könnte -, aber sonst?
    "Wir sehen Soldaten laufen, denen beide Füße weggefetzt sind; auf splitterndern Stümpfen humpeln sie zum nächsten Loch. Wir sehen Soldaten ohne Mund, ohne Kinn, ohne Gesicht."
    Vergegenwärtigung des Grauens
    Nie und nirgends könnte so etwas "gespielt" werden; aber schon von derlei Grauen, wie es damals war, zu sprechen, fällt Menschen, hier dem Schauspieler Burghart Klaussner, merklich schwer. Klaussner ist ein deutscher Klang-Teil in dieser Polyphonie; generell geht's viersprachig zu.
    Einmal werden französische gegen deutsche Hymnen gejohlt, "Kein schöner Land" hier wie dort; zur deutschen Geschichte um den Soldaten Paul Bäumer, wie Remarque sie erzählte, kommt die flämische um den Rekruten Emiel Seghers samt Mutter und Schwester, zudem die vom Korporal van Outryve, der in die pflegenden Hände einer englischen Krankenschwester gerät, die früh schon den Mann im Flieger verloren hatte – Texte von Mary Borden, Ellen Newbold LaMotte und Guillaume Apollinaire, Passagen aus "Le Feu" von Henri Barbusse und "Erziehung vor Verdun" von Arnold Zweig durchziehen Remarques Geschichte.
    Und so fängt diese Montage das ganze Panorama ein vom europäischen Armageddon, wie es noch heute nachzuspüren ist in den Gedenkstätten überall an den Grenzen zwischen Deutschland, Frankreich und vor allem Belgien, der Heimat des Regisseurs Perceval; die Hamburger Arbeit wurde mit gemischtem Ensemble (und kluger Übertitelung) koproduziert für das Theater in Gent. Und gerade weil sie sich so gründlich allem vordergründigen Spiel verweigert, kann sie überall zum Fanal von und für heute werden.
    "Jeder Soldat bleibt nur durch Zufälle am Leben. Und jeder Soldat glaubt und vertraut auf den Zufall."
    Auch wenn da gerade wieder Burghart Klaussner Remarques Figur des alten Kriegsmanns Katschinsky spricht, so sind selbst die an sich ganz klaren Rollen, bei Remarque wie allen anderen Autoren, aufgelöst. Sehr oft bleibt unklar, wer gerade spricht. ES spricht; besser: ER. Der Krieg.
    Donnergrollen schwebt darüber
    Dahinter hat Annette Kurz eine Wand aus Stahlblechen gehängt. Auf die werden originale Fotos von damaligen Soldaten projiziert, auch wabernde Wellen etwa beim Giftgasangriff - aber vor allem bearbeitet der Musiker Ferdinand Försch die Donnerbleche im unteren Teil dieser Wand; und zwar so fein und filigran, dass aller Schrecken und alle Gewalt des Krieges auch über den Gesamt-Klang des Abends vermittelt werden. Und so ist dies auch ohne alles "Theater" ein großer, bewegender Abend. Er kann auch zutiefst traurig stimmen – angesichts der Beiläufigkeit, mit der gerade im Augenblick allüberall wieder nach dem Krieg gefragt wird; und manchmal ganz so, als wäre er nur ein weiteres Mittel der Politik. Oder gar "der Vater aller Dinge".
    Da war die Welt schon mal weiter. "Front" erinnert daran.