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Krieg und Medien
Das Unfassbare beschreiben

Wenn man über Krieg und Gewalt berichtet, gibt es Grenzen - sowohl beim Erzählen als auch beim Verstehen der oft unfassbar grausamen Fakten. In ihrem Buch "Weil es sagbar ist" thematisiert die Kriegsreporterin und promovierte Philosophin Carolin Emcke genau diesen Widerspruch.

Von Ralph Gerstenberg | 25.11.2013
    Carolin Emcke
    Carolin Emcke reflektiert in ihrem neuen Buch über ihre Arbeit als Reporterin in Krisengebieten (picture alliance / dpa-Zentralbild)
    Am Anfang des zentralen Essays über "Zeugenschaft und Gerechtigkeit" in Carolin Emckes Buch steht ein Zitat von Anna Achmatowa aus dem Jahr 1957:
    "In den schrecklichen Jahren des Justizterrors unter Jeshow habe ich siebzehn Monate mit Schlange stehen in den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Auf irgendeine Weise 'erkannte' mich einmal jemand. Da erwachte die hinter mir stehende Frau mit blauen Lippen, die meinen Namen natürlich niemals gehört hatte, aus jener Erstarrung, die uns allen eigen war, und flüsterte mir ins Ohr die Frage (dort sprachen alle im Flüsterton): 'Und Sie können dies beschreiben?' Und ich sagte: 'Ja'. Da glitt etwas wie ein Lächeln, über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war."
    Vor circa 20 Jahren hat Carolin Emcke diese Sätze Anna Achmatowas über das Vermögen, Gewalt, Terror und Unterdrückung in Worte zu fassen, zum ersten Mal gelesen. Seitdem beschäftigt sie die Frage nach der Verantwortung, die aus dieser Möglichkeit erwächst. Wenn die Opfer keine Worte für das Unbegreifliche finden, sie in ihrer Sprachlosigkeit eingeschlossen bleiben, haben sie keine Chance auf Gerechtigkeit. In dem Lächeln der Frau, die Anna Achmatowa beschreibt, äußert sich die Hoffnung darauf, wahrgenommen zu werden, darauf, dass jemand das eigene Leid benennt, für das sie keinen Ausdruck findet. In den Jahren, in denen Carolin Emcke als Reporterin im Kosovo, in Afghanistan oder im Irak unterwegs war, hat sie oft diese Hoffnung in den Augen von Menschen gesehen, die ihr, einer völlig fremden Person, ihre Geschichte anvertrauten.
    "Erst mit der Zeit begann ich zu ahnen, dass sie mich nicht allein darum baten, weil sie das Unrecht und Leid, das ihnen widerfahren war, bestätigt und erinnert wissen wollten, sondern auch, weil sie als die Person bestätigt und vergewissert werden wollten, die sie waren, bevor ihnen all das widerfuhr: jemand, die es wert ist, wahrgenommen zu werden, als Individuum, als menschliches Subjekt."
    In ihrem Essay spürt man das starke Bedürfnis der promovierten Philosophin, ihre Tätigkeit als Berichterstatterin aus Kriegs- und Krisengebieten zu reflektieren, die eigenen Erfahrungen zu relativieren und den schwierigen Prozess des Erzählens von Leid und Unrecht zu durchdringen. So beschäftigt sich Carolin Emcke auch mit den Widerständen, den Zweifeln an dem, was erzählbar ist, wenn die zu schildernden Erlebnisse unfassbar erscheinen. Anhand von Zeugenberichten unterschiedlichster Art zeigt sie, wie traumatisierte Menschen mit ihren extremen Erfahrungen umgehen. Ein gedemütigter und misshandelter Kosovo-Albaner klammert in seiner Erzählung die traumatischen Erfahrungen aus und berichtet stattdessen immer wieder von den neuen teuren Schuhen, die er nun nicht mehr an den Füßen hatte.
    "Die neuen Schuhe ... sind symptomatisch für die Verstörungen traumatischer Erfahrung. Die vertraute Ordnung der Dinge zerfällt, und das Bewusstsein über die veränderte Lage hinkt der Wirklichkeit hinterher. Einmal im Strudel solch dramatischer Prozesse, hält die Sprache fest an der gerade verlorenen Welt. So tauchen plötzlich Sätze auf, die aus der Zeit gefallen sind. Diese verschobenen Gedanken und Worte sind Zeichen für die Verfasstheit einer Person, die sich noch dagegen wehrt, in ihrer neuen Rolle in der neuen furchtbaren Welt anzukommen."
    In ihrem Nachdenken über die Entmenschlichung des Individuums, über Strategien des Überlebens, das Klammern an Gewohnheiten und Gegenständen, über physische und psychische Entäußerungen als Gegenreaktionen auf Gewalt und Entrechtung bezieht sich Carolin Emcke neben eigenen Beispielen auf Berichte von Primo Levi, Jean Améry, Hertha Müller, Jan Philipp Reemtsma, Murat Kurnaz und anderen. Am Ende wird ihr Essay zu einem Plädoyer für das Erzählen, für "das Erzählen trotz allem". Dazu gehört es, dass diejenigen, an die sich diese Berichte richten, die "Ungeprügelten", wie es bei Carolin Emcke heißt, Brüche und Unstimmigkeiten, Auslassungen und Verschiebungen nicht nur zulassen, sondern als notwendigen Bestandteil der Erzählung begreifen.
    "Das Erzählen trotz allem kann nur gelingen, wenn es die Verstörungen nicht objektivieren oder normalisieren will. Es ist nicht an den 'Ungeprügelten', die Halbwertzeit des moralischen oder psychischen Entsetzens der Überlebenden festzulegen. Oder zu bestimmen, was als eine gelungene, eine angemessene Beschreibung des Schreckens gelten darf."
    In anderen Texten des Buches, die von der Unbedingtheit des Titel gebenden Essays etwas in den Schatten gestellt werden, geht es um moderne Formen der Islamfeindlichkeit, den Begriff der Heimat oder das Reisen in Katastrophengebiete. Zum Schluss schildert Carolin Emcke ihre Eindrücke von Haiti nach dem Erdbeben von 2010 und greift mit der Frage "Wie von Haiti erzählen?" die zentrale Thematik des Buches noch einmal auf. Von Haiti zu erzählen sei deshalb so schwierig, meint sie, weil sich die Quantität des Leides, der Hoffnungslosigkeit, der Zerstörung, des "heil-losen Elends" nicht mit Worten und Bildern vermitteln lasse, weil es schier unbegreiflich sei, woher die Menschen nach den vielen Katastrophen und Staatsstreichen angesichts der Massen von Trümmern und Toten die Kraft zum Weiterleben finden.
    "Von Haiti zu erzählen ist deswegen so schwer, weil die Trostlosigkeit dort die eigene Vorstellungskraft übersteigt. Weil es jenseits unserer Erfahrung liegt und jenseits aller Erfahrung, die ein Mensch erleiden sollte. Weil es einen fassungslos zurücklässt (...). Es lässt sich so schwer verstehen, weil man es nicht verstehen will. Die Psyche sperrt sich, das moralische Empfinden sperrt sich, das Bewusstsein sperrt sich."
    Das mit Sprachlosigkeit einhergehende Nichtverstehen empfindet die engagierte Journalistin als Herausforderung. Sie werde wieder nach Haiti fahren, schreibt sie. Zum "Erzählen trotz allem" gibt es für sie keine Alternative. Carolin Emckes Fähigkeit zu Empathie und Reflexion, ihre Beharrlichkeit und ihr Nichtzufriedengeben mit einfachen Antworten machen dieses Buch ebenso lesenswert wie ihre Reportagen.