Donnerstag, 25. April 2024

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Krieg und Zivilgesellschaft

Lange Zeit sind Auslandseinsätze deutscher Soldaten nicht weiter aufgefallen, obwohl die Bundeswehr bereits auf eine über 40-jährige Tradition humanitärer Hilfeleistungen zurückblicken kann. Ihr Spektrum an Einsätzen reicht von Hilfeleistungen nach dem Erdbeben in Marokko 1960 und nach Hochwasserkatastrophen in Peru und Tunesien 1970. Die Bundeswehr half auch bei Dürrekatastrophen wie 1973 im Sudan und im Niger oder bei Waldbränden in Griechenland. In den letzten Jahrzehnten wurde in zahlreichen Ländern Hilfe geleistet, wobei die Einsätze bis 1990 nicht unter dem Mandat der Vereinten Nationen standen, sondern auf bilateraler Basis erfolgten.

Essay von Dierk Spreen | 02.03.2008
    Hinzu kommen die in der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet gebliebenen Einsätze von Angehörigen der Nationalen Volksarmee der DDR in Entwicklungsländern. Die NVA leistete humanitäre Hilfe, unterstützte pro-sozialistische Länder und Befreiungsbewegungen mit zivilem und militärischem Material und organisierte den Transfer von Wissen und Know-how. Bei "steingrauen" Auslandseinsätzen jedoch, die NVA-Angehörige in bewaffnete Auseinandersetzungen hätte verwickeln können, hielt sich die DDR-Führung zurück, weil sie dadurch die internationale Anerkennung des zweiten deutschen Staates gefährdet sah.

    Insofern war der Kampfeinsatz von Verbänden der Bundesluftwaffe im Kosovokrieg 1999 ein historisches Novum. Denn erstmalig seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nahmen deutsche Streitkräfte an bewaffneten Auseinandersetzungen in einem Krieg teil. Dabei stach ins Auge, dass der Einsatz der NATO-Streitkräfte und der Bundesluftwaffe nicht unter einem Mandat der Vereinten Nationen stand und deshalb legalist betrachtet eine Übertretung des Völkerrechts darstellte.

    Musste der Einsatz dsehalb auch als illegitim gelten? Bedeutete er vielleicht den ersten Schritt zu einer Militarisierung der Außenpolitik Deutschlands? Haben wir es gar mit der bedenklichen Tendenz zu tun, dass sich die Politik "Step-by-step" aus ihrem rechtlichen, genauer: völkerrechtlichen Rahmen herauswindet? Zeichnet sich eine neue Art von Politik ab - ein Regieren im Ausnahmezustand, jenseits rechtlicher Kontrolle?
    Kritiker werden nicht müde, solche gewichtigen Überlegungen vorzutragen und vor ftatalen Konsequenzen zu warnen.
    So stellten die "Blätter für deutsche und internationale Politik" 1998 die provokante Frage:

    "Kann es denn sein - zugespitzt gefragt -, dass im Fall Kosovo die ältesten Demokratien der Welt, aus deren Rechts- und Politikentwicklung das moderne Völkerrecht hervorgegangen ist, sich in eine Art kriminelle Vereinigung zur Zerstörung desselben verwandeln?"

    Doch wie außenpolitisch flexibel ist eine vorwiegend legalistische Position, um auf politische und ethische Herausforderungen zu reagieren. Denn kein Zweifel: Die reale Welt ändert sich häufig schneller, als die Rechtsnormen neuen Herausforderungen angepasst werden können. Im Falle des Kosovo-Krieges hätte eine militärische Zurückhaltung die "ethnischen Säuberungen" durch das postjugoslawische Milosevic-Regime nicht aufhalten können. Wäre es ethisch vertretbar gewesen, darauf zu verzichten, ein im großen Maßstab angelegtes rassistisch anmutendes Verbrechen vor der eigenen Haustür zu verhindern? Vor diesem Hintergrund stellt sich die politische Lage des Kosovo-Krieges komplexer dar. Zweifellos handelte es sich um eine moralische Selbstermächtigung der NATO-Staaten zum militärischen Handeln. Diese blieb aber sehr wohl an einen normativen Rahmen gekoppelt. So rechtfertigte Jürgen Habermas die militärische Operation als "Vorgriff auf einen künftigen kosmopolitischen Zustand, der zugleich befördert werden soll. Noch weiter ging damals Friedensforscher Dieter Senghaas:

    "... das Gewaltverbot ist nicht der einzige Inhalt zwingenden Rechts [...]. Das derzeitige Völkerrecht kennt weitere zwingende Normen [...] Zu diesem Grundbestand an zwingenden Normen bzw. Verpflichtungen erga omnes gehören nicht nur das Gewalt- oder Aggressionsverbot im Sinne der UN-Charta, sondern auch das Verbot des Völkermords, des Sklavenhandels, der Rassendiskriminierung - insbesondere der Apartheid -, das Verbot der Verbrechen gegen die Menschlichkeit - im Sinne von Ausrottung, Versklavung, Deportation, ethnischer Säuberung - und auch das Verbot von Kriegsverbrechen im Sinne des humanitären Völkerrechts."

    Ausgehend von diesen Normenbündel, so Senghaas, sei die "Intervention im Kosovo nicht nur erlaubt, sondern geboten gewesen. Für den Weltsicherheitsrat bestehe eine Art von Rechtspflicht zu intervenieren. Dieser Rechtspflicht sei der Weltsicherheitsrat aus politischen Interessen einiger seiner ständigen Mitglieder nicht nachgekommen. Daraus folgert Senghaas konsequent:

    "Der Rechtsskandal betrifft ... nicht das Verhalten derjenigen, die den Opfern zu Hilfe eilen. Skandalös ist vielmehr das Verhalten desjenigen Organs, von dem ... zu erwarten wäre, dass es gegen den Bruch des Völkerrechts ... angemessen vorgeht."

    Die Argumentation von Senghaas wie von Habermas beweist einmal mehr: Der Kosovo-Krieg war keine pure exekutive Machtaktion. Vielmehr stand er in einem normativen Kontext, d. h. die militärische Machtäußerung der NATO erfolgte nicht allein aus rein geopolitischen Interessen heraus, sondern ist ganz wesentlich in einem wertevermittelten Zusammenhang zu sehen. Von einem "kriminellen" Vorgehen kann insofern nur schwerlich gesprochen werden.

    Allerdings blieb der "robuste" Militäreinsatz westlicher Streitkräfte ohne Mandat des Weltsicherheitsrates kein Einzelfall. Die Realität des Krieges und die politische Präsenz des Militärischen nisteten sich in den westlichen Zivilgesellschaften ein. Nach den massiven Angriffen auf das Kernland der USA durch islamistische Terroristen 2001 folgte zunächst der Krieg in Afghanistan, der sich gegen Al-Qaida und die sie unterstützenden Taliban richtete. War dieser Krieg noch gedeckt durch das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta, so kann dies vom Angriff der USA auf den sogenannten "Schurkenstaat" Irak nicht mehr behauptet werden.

    Die amerikanischen Versuche, den Weltsicherheitsrat von der Zusammenarbeit zwischen Saddam Hussein und Al-Qaida und der Aufrüstung des Irak mit Massenvernichtungswaffen zu überzeugen, scheiterten kläglich. Der Krieg fand dennoch statt. Hinzu kommt, dass die Kriege im Kosovo, in Afghanistan und im Irak eine bis auf weiteres andauernde Präsenz regulärer westlicher Truppen und Polizeiverbände sowie privater Sicherheitsanbieter in den Krisengebieten zur Folge hatten. Von einer grundlegenden Beruhigung der Lage kann zumindest in Afghanistan und im Irak derzeit noch nicht die Rede sein.

    Auch was die zukünftige Entwicklung angeht, gibt es Gründe skeptisch zu bleiben. So will der Bremer Demografie-Forscher und Soziologe Gunnar Heinsohn im Irak und in Afghanistan eine bedenkliche demografische Aufrüstung ausgemacht haben. In beiden Regionen rolle auf die recht gering bezifferten westlichen Truppen ein "youth bulge" zu. In diesen mit Hilfsgütern, Lebensmitteln und Bildung vergleichsweise gut versorgten Gesellschaften kommt es zu hohen Geburtenraten mit einer Vielzahl nachgeborener Söhne, die keine Chance auf eine angesehene und befriedigende gesellschaftliche Position haben.

    Deshalb gehen Heinsohn zufolge viele junge Männer den Weg der vermeintlich einzigen Option: Sie greifen zur Waffe. Ein armierter biopolitischer Großangriff aus Jünglingen aber drohe die westlichen Truppen zu verschlingen. Nach zurückhaltenden Schätzungen sei allein in Afghanistan bis 2020 mit einer jährlichen Zuwachsrate von ca. 350.000 jungen Kämpfern zu rechnen.

    "Gegen die steht eine Nato-Truppe in der Gesamtstärke von 35.000 Mann. Jeder westliche Soldat [...] muss also zu jedem 1. Januar auf zehn weitere Krieger vorbereitet sein."

    Wenn man sich die bisherige Entwicklung vor Augen führt, dann ist es eher unwahrscheinlich, auf eine rasche Normalisierung der Lage in Afghanistan und im Irak zu setzen. Es fällt schwer, im schlichten Rückzug der westlichen Truppen eine Lösung zu sehen, weil nach deren Abzug die sozialen Möglichkeiten der nur grundversorgten Perspektivlosen in den Krisengebieten ganz sicher nicht besser werden.

    In der hochverdichtet kommunizierenden Weltgesellschaft sind Terrorismus und Gewalt auch nicht einfach lokal eingrenzbar. Für soziale Gewalt gilt das Gleiche wie für den Klimawandel. Der Hindukusch liegt gewissermaßen im Sauerland. Hinzu kommt, dass in der südwestasiatischen Region
    Atomwaffen gelagert sind; eine fundamentale Destabilisierung Pakistans und vielleicht sogar Indiens durch sich selbst überlassene "heiße" Gesellschaften wäre daher automatisch eine große Bedrohung der Weltsicherheit und damit auch der Sicherheit in Europa.

    Krieg und militärische Fragen der Sicherheit werden - dass kann man daher prognostizieren - die westlichen Zivilgesellschaften auch in der absehbaren Zukunft beschäftigen.

    Die neue Gegenwärtigkeit eines als Normalität wahrgenommenen Krieges ist für die Selbstwahrnehmung der westlichen Zivilgesellschaften ein manifestes Problem. Kritiker sehen nämlich in dieser Tendenz einen fundamentalen Strukturwandel der Demokratie. Der Westen verabschiede sich vom Rechtsstaat; statt dessen halte wieder das Ausnahme- und Kriegsregime Einkehr in die Politik.

    So diagnostiziert der italienische Philosoph Giorgio Agamben "die willentliche Schaffung eines permanenten Ausnahmezustandes":

    "Der permanente Ausnahmezustand ist inzwischen eine der geläufigen Praktiken der heutigen Staaten, einschließlich der sogenannten demokratischen, geworden und bildet das vorherrschende Paradigma des Regierens in der zeitgenössischen Politik [...]. Diese Überführung einer provisorischen und ausnahmsweisen Maßnahme in eine normale Regierungstechnik ist unter unseren Augen dabei, den Sinn und das Wesen der demokratischen Verfassungen radikal zu verändern."

    Nach Agamben konstruiert die US-amerikanische Außen- und Innenpolitik einen "Weltbürgerkrieg" zwischen Staat und Terrorismus:

    "Mittels einer strategischen Verknüpfung der beiden Paradigmen des Ausnahmezustands und des Bürgerkrieges definiert sich die neue amerikanische Weltordnung als eine Lage, in der der Notstand nicht mehr von der Norm unterschieden werden kann und in der sogar die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden - wie auch die zwischen äußerem Krieg und Bürgerkrieg - unmöglich wird. [...] Denn in dieser Perspektive bilden Staat und Terrorismus am Ende ein einziges System mit zwei Gesichtern, in dem jedes der Elemente nicht nur dazu dient, die Handlungen des anderen zu rechtfertigen, sondern jedes sogar vom andern ununterscheidbar wird."

    Diese These Giorgio Agambens behauptet nichts Geringeres als ein sich abzeichnendes Ende der Zivilgesellschaft. An ihre Stelle trete die permanente globale Kriegführung, d. h. der "Weltbürgerkrieg" gegen Terroristen, Warlords und Kriminelle, der die westlichen Gesellschaften in Kriegsgesellschaften zu verwandeln drohe.

    Zeichnet sich hier eine bedrohliche Umwandlung des zivilgesellschatlich verfassten Westens ab?

    So konstatiert der Kriminalwissenschaftler Peter-Alexis Albrecht, dass wir es derzeit mit der konsequenten Durchsetzung einer Sicherheitsorientierung innerhalb westlicher Gesellschaften zu tun hätten, die vom unilateralistischen Bestreben der zur Zeit herrschenden Administration in den USA geprägt sei.

    "Es geht nur noch um die Vervielfältigung reiner Sicherungsmaßregeln, die von der Mehrheit der Bevölkerung sogar begrüßt werden. In dieser Entwicklung liegt freilich ein Modell klarer Rechtsnegation bis hin zur Rechtsvernichtung."

    Sind also die westlichen Gesellschaften also "auf dem Weg zu einer globalen Sicherung von Herrschaftsansprüchen ohne Recht"?

    Der Kulturkritiker Walter van Rossum hat sogar im Deutschlandfunk die Redaktion der Tagesschau attackiert, weil sie im Rahmen ihrer Berichterstattung über Afghanistan den Krieg zur Normalität umgedeutet habe:

    "Mit dem Abstand einiger Monate kann man deutlich erkennen, wie die Bundeswehr sukzessive immer mehr in eine Ausweitung des Kriegs in Afghanistan verstrickt wird - in einen Krieg, der mit dem ursprünglichen und parlamentarisch genehmigten Einsatz fast nichts mehr zu tun hat. Und die Tagesschau hilft nach Kräften dabei, die dramatische Kursänderung des Bundeswehreinsatzes als den normalen Lauf der Dinge auszugeben."

    Auch wenn bundesdeutsche Leitmedien wie die Tagesschau kaum der Kriegstreiberei oder unsensiblen Entdramatisierung zu bezichtigen sein mögen, so stellt sich dennoch die Frage, ob Kriege von der Politik und den Medien mittlerweile nicht als gesellschaftliche Normalität aufgefasst werden. Findet gar eine mediale Mobilisierung für einen permanenten gewaltförmigen Konfliktzustand statt?

    So ähnlich argumentieren neben Walter van Rossum auch andere Kulturwissenschaftler. Tom Holert und Mark Terkessides zum Beispiel untersuchen den "massenkulturellen Krieg" im Kontext der neuen Kriege und konstatieren:

    "In den Produkten und Praktiken der Massenkultur - in Film, Musik, Mode, Videospielen - wird dem Individuum stets der Einzelkämpfer als Modell angeboten. Die symbolische Aufrüstung zwischen Cargo-Hose, Waschbrettbauch und Four-Wheel-Drive macht ‚fit' für die Durchsetzung der eigenen Interessen und verleiht ein Gefühl von Sicherheit. Zudem wird das Feld der Massenkultur beherrscht von dem Mittel des Krieges par excellence - der Gewalt."

    Leben wir also in einer Art von Kriegskultur? Wird unser Alltag von einer totalen medialen Mobilmachung bestimmt, weil Computer-Spiele wie Blitzkrieg oder Call of Duty es jedem Spieler ermöglichen, seinen persönlichen "Mythos Wehrmacht" auferstehen zu lassen? Holert und Terkessides
    neigen zu dieser Auffassung.

    "Der Krieg als Massenkultur suggeriert einen permanenten Ausnahmezustand, mit dem man im Rahmen eines legalen Systems scheinbar nicht mehr adäquat umgehen kann. Mehr und mehr tritt die bloße Rechtfertigung an die Stelle des Gesetzes, was die westlichen Regierungen zunehmend in die Logik von Warlords hineindrängt."

    Da mit einem umfassenden globalen Friedenszustand in nächster Zeit nicht zu rechnen ist, dürfte ein "robustes" militärisches Engagement der westlichen Nationen auch in Zukunft auf der politischen Tagesordnung stehen. Deshalb entfaltet auch die analytische Behauptung eine gewisse Plausibilität, die vom Übergang zu einem permanenten Kriegs- und Ausnahmezustand samt seiner binnengesellschaftlichen Folgen ausgeht.

    Vor solcher Plausibilität mag es einem frösteln, wenn man darüber nachdenkt, woher die politische Theorie des permanenten Ausnahmezustands kommt und worauf sie in ihrem Kern zielt. Sie stammt nämlich von Carl Schmitt, dem Staatsrechtslehrer und Kronjuristen des Dritten Reiches. Gesellschaftliche Ordnung - so Schmitt - gründet letztlich nicht im Recht bzw. in Normen, sondern in der Macht. In seiner berühmt-berüchtigten Politischen Theologie schreibt er über den Ausnahmezustand:

    "Nicht jede außergewöhnliche Befugnis, nicht jede polizeiliche Notstandsmaßnahme oder Notverordnung ist bereits Ausnahmezustand. Dazu gehört vielmehr eine prinzipiell unbegrenzte Befugnis, das heißt Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung. Ist dieser Zustand eingetreten, so ist klar, dass der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt. Weil der Ausnahmezustand immer noch etwas anderes ist als eine Anarchie und ein Chaos, besteht im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung. Die Existenz des Staates bewährt hier eine zweifellose Überlegenheit über die Geltung der Rechtsnorm. Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut. Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft seines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt. [...] "

    " Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten. Hier sondert sich die Entscheidung von der Rechtsnorm, und [...] die Autorität beweist, dass sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht."

    Dieser Ausschnitt lässt erkennen, was das Ausnahmeregime meint: Bezogen auf das politische System impliziert der Ausnahmezustand das Außerkraftsetzen der rechtlichen Beschränkungen exekutiver Macht, der Gewaltenteilung, des repräsentativen Parlamentarismus, des Föderalismus und des Pluralismus. Der "permanente Ausnahmezustand" markiert daher den totalen Maßnahmestaat, in dem Regierung, Gesetzgebung und Rechtsprechung in der Exekutive zusammenfallen. Der permanente Ausnahmezustand ist der Normalzustand des "totalen Staates", in dem die politische Führung von allen rechtlichen und parlamentarischen Bindungen frei gestellt wird und sich in ständiger existenzieller Verteidigungsbereitschaft befindet. Im Januar 1933 notiert Carl Schmitt über die "Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland":

    "Der totale Staat in diesem Sinne ist gleichzeitig ein besonders starker Staat. [...] Ein solcher Staat lässt in seinem Innern keinerlei staatsfeindliche, staatshemmende oder staatszerspaltende Kräfte aufkommen. Er denkt nicht daran, die neuen Machtmittel seinen eigenen Feinden und Zerstörern zu überliefern und seine Macht unter irgendwelchen Stichworten, Liberalismus, Rechtsstaat oder wie man es nennen will, untergraben zu lassen. Ein solcher Staat kann Freund und Feind unterscheiden."

    Für Carl Schmitt stellte die Verwirklichung des totalen Staates paradoxerweise eine normative Forderung dar, die sich aus einem "Lebensrecht des Volkes" ergebe.

    1934 rechtfertigte er damit das mörderische Vorgehen Hitlers gegen Röhm und die SA-Führung. Der "Führer" schaffe - so Schmitt - "kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht". Hier fließen also nicht nur Judikative und Legislative zusammen, sondern sie gehen in der Exekutive auf.

    Führt man sich den historischen, politischen und theoretischen Kontext der Rede vom "permanenten Ausnahmezustand" vor Augen, so wird rasch klar, dass der permanente Ausnahmezustand weder als Begriff noch als Metapher taugt, die derzeitige politische Situation in den westlichen Zivilgesellschaften zu kennzeichnen. Denn weder wird die Gewaltenteilung aufgehoben noch der politische und gesellschaftliche Pluralismus eingeschränkt.

    Selbst Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten im Namen der "Sicherheit", wie die hochproblematische staatliche Überwachung der Online-Kommunikation oder die Gruseldebatte über die Legalisierung der Folter als Mittel zur Gefahrenabwehr rechtfertigen es kaum, von einer Verwandlung der Zivilgesellschaft in eine Kriegsgesellschaft zu sprechen. Bei jener Behauptung, es ginge der Politik wesentlich darum, einen permanenten Ausnahmezustand herzustellen, handelt es sich wohl eher um einen moralisierenden Nazi-Vergleich in Nadelstreifen. Er entstammt zum Teil einer gesellschaftstheoretischen Tradition der Neuen Linken, die bereits in den sechziger Jahren eine "Transformation der Demokratie" hin zum sogenannten Notstandsstaat heraufziehen sah. Doch solcher Alarmismus verfehlte damals und verfehlt heute den antitotalitären und pluralistischen Charakter moderner Zivilgesellschaften. Anders ausgedrückt: Ein bisschen "Militainment" macht noch keine "totale Mobilmachung".

    Vor diesem Hintergrund scheint es wichtig, sich der Funktion und Bedeutung jener Sicherheitskriege - wie dem Golfkrieg, dem Kosovo-Krieg, dem Krieg in Afghanistan und letztlich sogar dem Irak-Krieg - für die Normalität des Zivilgesellschaftlichen im beginnenden 21. Jahrhundert zu vergewissern.

    Dabei macht es Sinn, statt von einem "Weltbürgerkrieg" als Ausdruck eines nahenden Regimes des Ausnahmezustands von "globaler Sicherheit" als neuem Weltnomos der Zivilgesellschaft zu sprechen. Das Machtdispositiv der globalen Sicherheit ist wesentlich ein zivilgesellschaftliches und nicht ein kriegsgesellschaftliches.

    Im Rahmen des globalen Sicherheitsdispositivs meint der politische Begriff der Sicherheit nicht das Gleiche wie der klassische Begriff des vom Kriege unterschiedenen Friedens. Eine Differenz zwischen diesen beiden Begriffen deutet sich bereits in der Wortwahl der Charta der Vereinten Nationen ab. Dort wird als Zweck der UNO neben der Förderung der "Menschenrechte und Grundfreiheiten" insbesondere die Wahrung und gegebenenfalls Wiederherstellung des "Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" durch "wirksame Kollektivmaßnahmen" bestimmt. Bei dieser Formulierung fällt bereits auf, dass "Weltfrieden" und "internationale Sicherheit" offenbar nicht ganz dasselbe meinen.

    Überdies wird in der UN-Charta hervorgehoben, dass kollektive Sicherheitsmaßnahmen sich bereits auf "internationale Streitigkeiten oder Situationen" beziehen können. Sicherheitsorientiertes politisches Handeln im Rahmen der global security setzt daher bereits ein, wenn sich Bedrohungen und Risiken abzeichnen. Solches Handeln umfasst zumindest dem Anspruch nach auch die Beseitigung struktureller Kriegsursachen. Damit unterläuft das Sicherheitsprinzip die klassische Differenz zwischen den Rechtszuständen "Krieg" und "Frieden". Sicherheit kann bedroht sein und Gegenmaßnahmen können notwendig sein, obwohl es noch gar nicht zu einer manifesten Aufhebung des Friedenszustandes gekommen ist. Sicherheitspolitik meint damit mehr als Friedenswiederherstellung. Sie hat auch einen vorbeugenden Charakter und versucht, mögliche Friedensbrüche und ihre Ursachen zu bearbeiten.

    Die Entwicklung zur politischen Praxis "globaler Sicherheit" zeitigt eine Reihe normativer Verschiebungen im internationalen System. Drei Aspekte sind dabei besonders hervorzuheben:

    Zunächst ist das globale Sicherheitsdispositiv durch eine zunehmende Verrechtlichung der internationalen Beziehungen gekennzeichnet. Das Staatspolitische wurzelt immer weniger in einer selbstherrlichen Souveränität, sondern unterliegt einer zunehmenden Normierung. Die Grenze zwischen den sogenannten "innere Angelegenheiten" eines Staates und der globalen Ebene wird unscharf. Innere Angelegenheiten unterliegen daher auch verstärkter Normierung durch global wirksame Institutionen.

    Nach wie vor ist zwar der Staat die zentrale Instanz, die Recht und Ordnung und damit das zivile gesellschaftliche Leben garantieren kann. Im Zuge der Verschiebung zum Prinzip globaler Sicherheit weicht allerdings der staatliche "Souveränitätspanzer" - so eine Formulierung des Rechtswissenschaftlers Ulrich K. Preuß. Er schreibt:

    "Wo die staatliche Gewalt noch nicht einmal im Ansatz ihre primäre Funktion des Schutzes der elementaren Rechte der Bevölkerung erfüllt, sondern selbst zur Quelle für Entwürdigung, Gewalt, Unterdrückung, Mord und Vertreibung wird, dort entfällt die ungeschriebene Voraussetzung der internationalen Achtung der Unabhängigkeit und Integrität des Staates."

    An der normativen Einschränkung des Souveränitätsprinzips lässt sich darüber hinaus illustrieren, dass das Prinzip globaler Sicherheit nicht auf das UN-System eingrenzbar ist. Darauf gründet sich auch die Leitidee in der US-amerikanischen Außenpolitik. Die National Security Strategy der Vereinigten Staaten von 2002 schränkt das Prinzip der Unantastbarkeit der Souveränität anderer Staaten ein.

    Sie definiert drei Bedrohungen, die "preemptive actions" unter Umständen auch ohne Zustimmung des Weltsicherheitsrates möglich machen: Terrorismus, Genozid und Massenvernichtungswaffen.

    Neben die Normierung der Souveränität tritt die Ächtung des Angriffskrieges bzw. des "naturgegebenen" Rechts zum Kriege, das nach dem Westfälischen Frieden von 1648 dem Staat zugesprochen wurde. Freilich hat die Abschaffung des souveränen Rechts zum Krieg keine Abschaffung des gerechtfertigten Krieges zur Folge. Insbesondere kann es sich als notwendig erweisen, zum Zwecke einer humanitären Intervention auf militärisches Engagement zurückzugreifen.

    Aus der Normierung des Staatspolitischen folgt die Möglichkeit zur gerechtfertigten militärischen Intervention zum Schutze der Menschenrechte. Ähnlich verhält es sich mit anderen Völkerrechtsverstößen, durch die die internationale Sicherheit bedroht werden könnte. Damit wird kriegerische Gewalt zu einem Mittel der globalen Sicherheit - gemeinsam mit anderen, friedlichen Mitteln. Pointiert gesprochen: Krieg und Sicherheit schließen einander nicht aus.

    Die Doppelung aus Legitimation und öffentlicher Kritik ist typisch für Sicherheitskriege. Sie ist nicht einfach die Folge widersprüchlicher moralischer und völkerrechtlicher Imperative, denn auch wenn völkerrechtliche Legitimität eindeutig besteht, wie im Falle des Golfkrieges 1991, kommt es zu teilweise heftigen öffentlichen Protesten. Zustimmung zum kriegerischen globalen Sicherheitsengagement versteht sich nicht von selbst; es handelt sich vielmehr um ein strukturelles Legitimationsproblem. Weil es nicht um totale Verteidigungskriege geht, erscheint die Notwendigkeit des Krieges in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit immer fraglich.

    Die westlichen Gesellschaften sind eben keine Kriegsgesellschaften, die sich in einem permanenten Ausnahmezustand befinden. Vielmehr sind sie strukturell zivile und postheroische Gesellschaften, die auch - gewissermaßen am Rande ihres Weges - militärische und gewaltsame Mittel zu ihrer Sicherheit einsetzen. Diese Mittel bleiben in der öffentlichen Wahrnehmung aber prinzipiell problematisch. Postheroischen Dispositionen erscheint alles Kriegerische suspekt. Dazu sagt der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler:

    "Postheroische Gesellschaften [...] haben eine gewisse Tendenz, sich selbst als Zielgerade der gesellschaftlichen Entwicklung zu interpretieren, aber daraus ziehen sie nicht die Konsequenz, dass es jetzt noch einmal auf die Mobilisierung aller Energien ankomme, sondern sie neigen dazu, sich auf der erreichten Wegstrecke dauerhaft einzurichten. Wenn sie notwendige Reformen thematisieren, dann in einer Metaphorik, die Veränderungen auf das Drehen von Stellschrauben begrenzt."

    Diese drei normativen Aspekte - Normierung der Souveränität, Diskriminierung des Krieges und strukturelles Legitimationsproblem - vergegenwärtigen ein konstitutives Spannungsverhältnis zwischen Macht und Norm. Politische Macht kann nicht einfach nach Belieben schalten und walten.

    Vielmehr orientiert sie sich an den normativen Rahmenbedingungen von Zivilgesellschaften. Kennzeichen von Sicherheitskriegen ist daher, dass sie nicht nur ihrem Anspruch nach im Dienst der Zivilgesellschaft stehen, sondern dass sie die zivilgesellschaftliche Normalität lediglich begleiten.

    Selbst der Kosovo- und der Irak-Krieg, die ohne Zustimmung des Weltsicherheitsrates geführt wurden und daher als außerhalb des Völkerrechts stehend anzusehen sind, konnten die Normalität des gesellschaftlichen und politischen Lebens und die Geltung von Recht und Verfassung in den westlichen Nationen nicht aufheben.

    Der binnengesellschaftliche Friedenszustand der westlichen Zivilgesellschaften - die Normalität der alltäglichen Geschäfte - wird also weder vorübergehend für die Dauer eines konkreten Sicherheitskrieges noch in Permanenz im Rahmen einer zeitlich unlimitierten Sicherheitspolitik wie dem "Krieg gegen den Terror" annulliert. Totale Mobilmachung und permanenter Ausnahmezustand bleiben aus.

    Dennoch erleben wir derzeit einen tiefgreifenden Formwandel des Politischen und Gesellschaftlichen. Nationalgesellschaften sind nicht länger in politischer, ökonomischer, kultureller und rechtlicher Hinsicht autonome Einheiten, sondern in vielfältige transnationale und weltgesellschaftliche Vernetzungen und Bindungen eingetreten.

    Globale Sicherheit ist dabei der politische Ordnungsrahmen, der das "Und-so-weiter" der alltäglichen Angelegenheiten in der Zivilgesellschaft ermöglicht und sich dabei auch kriegerischer Mittel und der Differenzierung zwischen Freunden und Feinden bedient. Der gesellschaftliche Wertehorizont dieses Formwandels ist allerdings ein ziviler und postheroischer.

    Die Zivilgesellschaften treten damit in einen andauernden Sicherheitszustand ein. Wie ein aufgeregter Bienenschwarm umkreisen ihre Sicherheitspolitiker und -organe vermeintliche und tatsächliche Sicherheitsrisiken. Dabei wird öffentlich über das "richtige" Verhältnis zwischen hinnehmbaren Risiken und vertretbaren Freiheitseinschränkungen gestritten. Nicht immer werden bei diesem Streit die Argumente sorgsam gewählt und die politischen Entscheidungen nach Augenmaß gefällt.
    Denn es scheint, dass sich die notwendige kritische Perspektive auf die Sicherheitspolitik der Unterscheidungsmöglichkeit zwischen permanentem Ausnahmezustand und andauerndem Sicherheitszustand, zwischen totaler Mobilmachung und zivilgesellschaftlicher Sicherheitspolitik beraubt. Wir leben nicht in einem militaristischen Notstandsregime, sondern in einem strukturell zivilen Sicherheitsregime. Rechts- und Verfassungsgeltung, Pluralismus und Gewaltenteilung werden in ihren Grundsätzen eben nicht in einem "totalen Staat" aufgehoben, sondern vielmehr umgekehrt - "gesichert".

    Es konstituiert sich keine neue Kriegsgesellschaft, sondern Sicherheitskriege und "robuste" Sicherheitsoperationen verbleiben im Rahmen einer postheroischen Normalität. Verliert die kritische Perspektive damit politisch den Boden unter den Füßen? Sie will uns zumindest unglaubwürdig erscheinen, wenn sie bei der Beschreibung der Befugnisse exekutiver Sicherheitsorgane auf die Metaphorik des permanenten Ausnahmezustands zurückgreift.

    Wortgewaltige Behauptungen sind lebensweltlich betrachtet kaum haltbar, die westlichen Gesellschaften befänden sich auf einer immer schnelleren Rutschpartie in die "Sicherung von Herrschaftsansprüchen ohne Recht", politisch werde "Rechtsnegation" und "Rechtsvernichtung" betrieben, das Völkerrecht werde in "krimineller" Absicht zerstört, eine Massenkultur des Krieges sei erkennbar.

    Dem Strukturwandel zum globalen Sicherheitsdispositiv wird mit solchen Behauptungen schlicht das falsche begriffliche Modell unterlegt. Vielmehr kommte es darauf an, wie es der Kriminologe Fritz Sack erst kürzlich gefordert hat, differenzierter zu argumentieren und in staatlichen Institutionen nicht nur den "feindlichen Leviathan" zu sehen, sondern auch die Bereitschaft aufzubringen, "seine Schutzfunktion zu honorieren."