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Krieg zwischen Egoismus und Altruismus

Der Medienhype um das neue Werk von Jonathan Franzen war riesig. In "Freiheit", einem rund 30 Jahre umfassenden Epochenporträt, steht die amerikanische Familie und ihre Befindlichkeit im Vordergrund.

Von Martin Ebel | 12.09.2010
    Jonathan Franzen liebt Vögel. Sein Hobby, mehr noch: Seine Leidenschaft ist das Vogelbeobachten. Wie man hört, geht er überall, wo er sich aufhält und eingeladen wird, also auf Lesereisen oder auch kürzlich bei der Tübinger Poetik-Dozentur, mit einem guten Fernglas auf die Pirsch. Vogelbeobachter – Bird Watcher – versuchen, die beobachteten Exemplare zu bestimmen. Sind sie sportlich veranlagt, zählen sie die verschiedenen Arten. Franzen soll schon bei tausend angekommen sein.

    Für den Autor, der seit den "Korrekturen" als literarischer Heilsbringer behandelt wird, dem gar die Bürde des Retters der Literatur vor dem Internet oder des Retters der kultivierten Welt vor der universalen Zerstreuung auferlegt wird: Für diesen Autor ist das Vogelbeobachten mehr als eine meditative Ablenkung. Was es für ihn ist, hat er in einem Essay erläutert, der auf Deutsch in dem Band "Unruhezone" erschienen ist. Es ist nämlich gewissermaßen die unschuldige Handlung an sich. Ein Ausweg oder vielleicht auch nur eine Übersprungshandlung für jemanden, den das Schuldgefühl fast umbringt, zu einer Menschheit zu gehören, die sehenden Auges auf die selbst verschuldete Katastrophe zulebt. Wer Vögel beobachtet, tut nichts Böses. Das ist eine reichlich defensive Moral, aber wenigstens eine unangreifbare.

    Auch Walter Berglund, eine der zentralen Figuren des neuen Romans "Freiheit", liebt die Vögel. Fast am Ende des Buches, nach 700 Seiten, sehen wir ihn in einen sonderbaren Krieg mit seinen Nachbarn am Canterbridge-See verstrickt. Diese Nachbarn, brave amerikanische Bürger, die sich mit billigen Krediten ihre Eigenheime finanziert haben (mit Krediten, die, wie man weiß, ihnen bald den Hals umdrehen werden), halten nicht nur Kinder, sondern auch Katzen. Und Katzen bringen Vögel um, nicht aus Hunger, sondern aus Instinkt, einfach so. Eine Million Singvögel am Tag allein in den USA, nach niedrigen Schätzungen, weiß Walter. Und so macht er die Runde bei den Eigenheim-Besitzern und bittet sie, die Katzen im Haus zu lassen. Auf Widerspruch und Empörung stößt er mit seinem Ansinnen bei Linda Hoffbauer, einer rechtschaffenen Familienmutter, an der Sarah Palin ihre helle Freude hätte. Ihr Bobby gehört zur Familie, also kann er tun, was er will, auch Vögel töten. Als Walter darauf hinweist, dass Katzen in Nordamerika ursprünglich nicht vorkamen und die einheimischen Vögel also keine Schutzmechanismen entwickelt haben, antwortet sie:
    "Dann müssen die Vögel sich eben einen anderen Ort für ihre Nester suchen. Bobby liebt es, draußen frei herumzulaufen. Es wäre gemein, ihn im Haus zu lassen, wenn das Wetter schön ist."

    Als alle Bitten und ökologische Argumente nichts fruchten, fängt Walter den Kater kurzerhand ein und bringt ihn – nein, nicht um, sondern in ein städtisches Tierheim, wo er keinen Schaden anrichten kann. Linda besorgt daraufhin drei neue Katzen. Dieser Krieg ist für Walter nicht zu gewinnen. Es ist der Krieg zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen Freiheit und Verantwortungsgefühl. Er bestimmt den ganzen Roman, und in der Katzenepisode verdichtet ihn Jonathan Franzen noch einmal parabolisch. Franzen hasst die Egoisten, die den Freiheitsbegriff missbrauchen; aber dass es mit dem verantwortlichen Handeln auch nicht so einfach ist, weiß er auch – und lässt es seine Personen schmerzlich erfahren. Es reicht nicht, Schädliches zu vermeiden, also den Müll zu trennen oder etwa, wie Walter es am Anfang des Romans tut, auch im Februarschneetreiben mit dem Fahrrad zu fahren. Gesellschaftlich-ökologisches Bewusstsein erfordert unentwegt Entscheidungen gegen etwas, was gang und gäbe ist. Zum Beispiel beim Restaurantbesuch. Wieder trifft es Walter, den sensiblen Umweltschützer, gequält vom Bewusstsein um die Schadenszusammenhänge:
    "Er bedeutete der Kellnerin, einen weiteren Martini zu bringen, und durchlitt sodann die Lektüre der Speisekarte. Zwischen dem Grauen des Rindermethans, den Seen aus Exkrementen, die von Schweine- und Hühnerfarmen hervorgebracht wurden und ganze Wassereinzugsgebiete kontaminierten, der katastrophalen Überfischung der Ozeane, dem ökologischen Albtraum gezüchteter Garnelen und Lachse, der Antibiotika-Orgie in den Milchkuh-Fabriken und dem durch die Globalisierung der Erzeugnisse verschleuderten Treibstoff gab es außer Kartoffeln, Bohnen und Tilapia aus Aquakultur nur wenig, was er guten Gewissens bestellen konnte."

    Ein gutes Gewissen: Das hätte Walter so gern, und gerade das wird ihm ständig verwehrt. Denn Rücksicht auf die verletzliche Schöpfung ist nur einer der Bereiche, in dem er und wir eigentlich nur Fehler machen können. Das Zweite, ebenso fiaskoträchtige Feld ist das der familiären, freundschaftlichen und amourösen Beziehungen. Und dann verheddern sich die privaten und politischen Motive auch noch auf vertrackte Weise, sodass, wer sich für die Gemeinschaft engagiert, schnell an seinen Kindern sündigt – und umgekehrt.

    Jonathan Franzens neuer Roman mit dem schillernden, unweigerlich ironischen Titel "Freiheit" ist zwar wie sein Vorgänger, "Die Korrekturen", ein Familienroman – schon weil dieser wie von selbst Kontinuität über mehrere Jahrzehnte und motivische Zusammenhänge generiert. Aber er ist auch viel mehr als das. Er stellt hartnäckig die Frage nach dem richtigen Leben. Genauer, und hier darf das zu Tode zitierte Wort Adornos ausnahmsweise einmal fallen: nach dem richtigen Leben im falschen.

    Falsch ist etwa, dass die erschöpfte und ausgeplünderte Erde jeden Monat von weiteren 13 Millionen "großen Primaten" bevölkert wird, die Eigenheime über die Landschaft streuen, benzinfressende Autos fahren und Regenwälder roden, um methanrülpsende Rinder darauf weiden zu lassen. Die Kriege führen im Namen der Freiheit – und ihnen sogar Namen geben wie "Enduring Freedom" -, worunter doch nur das Recht auf ungebremsten Konsum und Zugang zu preisgünstigem Treibstoff zu verstehen ist. Nun ist Jonathan Franzen ein amerikanischer Autor, und das Verhalten bornierter, selbstzentrierter, für globale Zusammenhänge blinder, auf ihren Lebensstil fixierter US-Amerikaner ist es, das er vor Augen hat und attackiert. Die Mittelschicht seines Landes, sein Publikum, ist der ideologische Gegner; aber auch der nur wenig weniger verschwenderisch lebende europäische Leser kann sich getrost an die eigene Nase fassen.

    Soviel zum Falschen. Was aber ist das richtige Leben? Danach sucht Walter sein ganzes, überwiegend unglückliches Leben mit heißem Bemüh'n. Wir lernen ihn in den späten Siebzigerjahren als Anwalt, Ehemann und Familienvater in einem Vorort von St. Paul, Minnesota kennen. Für einen Nachbarn, den Franzen zitiert (der Autor spielt immer wieder gekonnt mit der Erzählperspektive), gehört er ...

    "... zu jener Sorte hyperschuldbewusster Liberaler, die allen anderen verzeihen mussten, damit ihnen ihr eigenes Glück verziehen werden konnte."

    Dieses Glück erhält allerdings schnell kräftige Risse. Walters Sohn Joey zieht ins Nachbarhaus, wo ihm die Tochter Connie in fast hündischer Ergebenheit zugetan ist und die Mutter und deren Liebhaber genau das reaktionär-prollige Milieu verkörpern, das Walter verabscheut. Natürlich tut das Joey nicht nur, aber auch, um seinen Vater zu bestrafen – auch wenn er nicht genau weiß, warum und wofür. Aber so geht es bei Jonathan Franzen zwischen den Generationen zu. Der nächste und tiefste Riss: Walters Frau Patty betrügt ihn mit seinem besten Freund, dem Rockmusiker Richard, der seine etwas schurkenhafte Attraktivität in Pattys Augen der Ähnlichkeit mit dem libyschen Diktator Gaddhafi verdankt.

    Dabei hatte sie einst bewusst den sexuell weit weniger anziehenden, aber "unglaublich anständigen" Walter geheiratet, nicht zuletzt, weil er Patty suggerieren konnte, sie sei eine interessante und vor allem liebenswerte Person. Das hatte ihr noch niemand gesagt – ihre Eltern hatten Patty eher das Gefühl gegeben, sie sei gerade nicht, was sie sich gewünscht hatten. Mit ihrer Entscheidung für Walter, einer Entscheidung gegen das von den Eltern vermittelte Selbstbild, ist Patty wieder beim Falschen gelandet, das das Richtige zu sein meint: Sie macht sich etwas vor über sich selbst, handelt gegen die eigene Natur. Richtig gemeint, aber falsch ist auch ihr Verhalten gegenüber dem Sohn Joey: Den hat sie schon früh zu ihrem Herzensfreund erziehen wollen – natürlich, weil sie selbst von den Eltern vernachlässigt wurde. Ein ganz klein bisschen aber auch, weil sie unbewusst in Joey den Mann wiedererkennt, den sie nicht geheiratet hat. Joey bestraft sie für die unverlangte, unziemliche, übermäßige Nähe mit kalter Ablehnung. Die Familie bei Jonathan Franzen: ein Schlachtfeld, in dem der innere Druck, gut zu sein, lauter böse Taten nach sich zieht.

    Dieser Verstrickung entgeht auch Richard nicht, der unfamiliärsten Figur des Romans. Richard ist vordergründig der Antipode zum Anständigkeits-Dogma seines Freundes. Er steht fast brutal zu seiner künstlerischen Asozialität und seinem privaten Egoismus (sein Verschleiß an Groupies ist erschreckend), weil er ohnehin ein tiefschwarzes Menschen- und Weltbild hat. In seiner Anhänglichkeit an den netten Walter sieht er indes das letzte Verbindungsstück zum guten Teil der Menschheit, das er dann doch nicht kappen will. Deshalb nimmt er Patty übel, ihn schließlich doch verführt zu haben, und gibt Walter, um der allgemeinen Verlogenheit ein Ende zu machen, jenes zwar in der dritten Person verfasste, aber deklariert autobiografische Bekenntnis zu lesen, in dem Patty von ihrem Seitensprung und ganz allgemein von der eher lauen Begeisterung für Walter als Mann schreibt. Nicht einfach für ihn, folgende Passage über die eheliche Sexualität zu lesen:

    "Der arme Walter war so veranlagt, dass ihm seine eigene Befriedigung weniger wichtig war als ihre oder er sie zumindest an die ihre knüpfte, und irgendwie fand sie nie die richtigen Worte, um ihm auf freundliche Weise klarzumachen, in was für eine missliche Lage er sie damit brachte, denn letzten Endes hätte sie ihm dann doch sagen müssen, dass sie ihn nicht so sehr begehrte wie er sie; dass das Verlangen nach Sex mit ihrem Partner etwas war, das sie im Tausch gegen all die schönen Seiten ihres gemeinsamen Lebens aufgegeben hatte. Walter tat sein Möglichstes, damit Sex schöner für sie wurde, nur das Eine, das eventuell funktioniert hätte, tat er nicht, nämlich aufzuhören, sich Gedanken darüber zu machen, wie es schöner für sie werden könnte, und sie stattdessen eines Abends über den Küchentisch zu beugen und von hinten zu nehmen."

    Walters Aufklärung über die literarische Bande von Pattys Niederschrift ausgerechnet durch Richard: Ist das nun richtig oder falsch? Jedenfalls hat es explosive Folgen, wie alles, was jede Person hier in guter Absicht tut.

    Walter, Richard und Patty bilden eines der faszinierendsten Dreiecke der neueren Literaturgeschichte: weil die beiden Männer nicht nur die klassischen Typen des "Netten" und des "interessant Verruchten" darstellen, sondern weil sie beide auf ihre Art gut sein wollen, indem sie das Glück des anderen über das eigene stellen. Dass sie daneben auch knallharte Rivalen sind – um Patty, um beruflichen Erfolg und um die stärkere Position in dieser quasi-familiären Konstellation –, macht die Verstrickung nur schlimmer. Und literarisch reizvoller.

    Wie man mit richtigem oder richtig gedachtem Verhalten gesellschaftlich-ökologisch an die Wand fahren kann, muss Walter bei seinem vermeintlich größten Coup erleben. Der steht im Zentrum des Buches und gibt dem Leser in allen, hier gar nicht auszubreitenden Details einen hervorragenden Anschauungsunterricht darüber, wie Politik in den USA heute funktioniert. Walter ist in die Dienste des Multimillionärs Vin Haven getreten, der die spleenige Idee hat, ein Vermögen für den Schutz einer einzigen bedrohten Singvogelart auszugeben: den Pappelwaldsänger, dendroica cerulea. Es ist ein unauffälliger kleiner Vogel mit kurzem Schnabel und blaugrauem, bei den Weibchen graugrünem Gefieder. Auf dem amerikanischen Original-Cover schaut er von links ins Bild, fremd und undurchdringlich. Für den Pappelwaldsänger kauft die von Vin Haven gegründete Stiftung, der Walter vorsteht, ein riesiges Areal in West Virginia, muss allerdings dafür einem Energiekonzern erlauben, in einem Teil davon im Tagebau Kohle zu fördern, es also erst einmal zu zerstören, gegen das Versprechen, es hinterher zu renaturieren. Die Familien, die dort leben, sollen umgesiedelt werden und Jobs bekommen – sie sollen Schutzwesten für einen Rüstungskonzern herstellen. Walter kompromittiert sich also mit zwei derjenigen Akteure, die er für die verbrecherischsten des Landes hält.

    "'Ich habe den Posten überhaupt nur angenommen', sagte Walter, 'weil ich nachts nicht schlafen konnte. Ich habe es nicht ertragen, was mit unserem Land geschieht. Clinton hat für die Umwelt weniger als null getan. Einen feuchten Dreck. Clinton wollte bloß, dass alle Welt zu Fleetwood Mac feiert. 'Don't stop thinking about tomorrow?' So ein Quatsch. Nicht an morgen denken, genau das hat er umweltmäßig getan. Und Gore war ein viel zu großes Weichei, um seine grüne Fahne hochzuhalten, und viel zu nett, um in Florida zu tricksen. Solange ich in St. Paul war, ging's mir noch einigermaßen gut, aber ich musste für die Nature Conservancy den ganzen Staat durchqueren, und jedes Mal, wenn ich die Stadt hinter mir ließ, war es wie eine Ladung Säure ins Gesicht. Nicht nur die industrielle Landwirtschaft, sondern die Zersiedlung, die Zersiedelung, die Zersiedelung. Eine niedrige Baudichte ist das Schlimmste. Und überall Geländewagen, überall Schneemobile, überall Jetskis, überall Quads, überall hektargroße Rasenflächen. Diese verdammten grünen, monokulturellen, chemiegetränkten Rasenflächen.'"

    Dem inneren Druck, der aus dem Widerspruch entsteht, sich gewissermaßen mit dem Teufel verbünden zu müssen, um einen winzigen Teil der Erde vor dem Ruin zu bewahren, überdies von weniger komplex agierenden Naturschützern als Ökoverbrecher angeprangert zu werden: Diesem Druck hält Walter nicht stand. Auf einer PR-Veranstaltung zur Eröffnung der Schutzwesten-Fabrik rastet er aus und lanciert eine Kampfansage an den egoistischen amerikanischen Durchschnittsbürger, den Inbegriff der aus der Art geschlagenen Art: des Menschen, der seine eigenen Lebensgrundlagen zerstört. Walter verliert sofort seine Stelle.

    Unterstützt von Lalitha, einer überirdisch schönen und überirdisch effizienten Naturschützerin, die ihn auch noch liebt und über den Verlust Pattys hinwegtröstet, macht er noch eine kurze Karriere als Galionsfigur alternativer Naturschützer. Gegen Ende des Romans aber sehen wir ihn vereinsamt und deprimiert in seinem Haus am Canterbridge See, in den aussichtslosen Katzenkrieg mit Linda Hoffbauer verstrickt. Immerhin gönnt Jonathan Franzen ihm und uns dann doch noch ein wenn nicht glückliches, so doch elegisch-versöhnliches Ende eines Romans, der seine Personen durch viel mehr Tiefen als Höhen gejagt hat.

    Und durch mehr als drei Jahrzehnte: Die erzählte Zeit erstreckt sich von den späten Siebziger-Jahren, in denen intellektuelle Kreise der USA noch an die Verwandlung der USA in ein gerechteres, freundlicheres und sanfteres Land glaubten, bis in die unmittelbare Gegenwart. In diesen Jahren, vor allem in der Bush-Ära, hat sich Amerika zum Schlechten verändert, sind Egoismus und Verantwortungsgefühl so weit auseinandergerückt, dass zwischen ihnen kein Gespräch mehr möglich ist. Die Immobilien- und Finanzkrise, die etliche Bewohner vom Canterbridge-See vertreibt, reduziert auch die Verbleibenden auf die Angst um den eigenen Wohlstand und macht jede Chance für den Blick über den eigenen Gartenzaun, den Blick auf die ganze Schöpfung unmöglich.

    "Ängste hingen wie eine Wolke Sandfliegen über dem Canterbridge Court; sie drangen via Nachrichtensendungen, Talkradio und Internet in jedes Haus. Viel Gezwitscher gab es auf Twitter, aber die tschirpende und flatternde Welt der Natur, die Walter beschworen hatte, als müsste sie den Menschen auch in dieser Situation etwas bedeuten, war eine Angst zuviel."

    Jonathan Franzens "Freiheit" ist ein reicher, von seinem Autor großzügig ausgestatteter Roman. Viel reicher, an Personen, Motiven, Konstruktionsraffinessen, Nebenhandlungen und Schauplätzen, als es auch eine deutliche längere Besprechung vermitteln könnte. Er verschränkt Politisches und Privates, Gesellschaftsanalyse und Familienroman, US- und Kulturgeschichte auf eine stilistisch so virtuose Weise, wie ihm das heute kaum ein Zeitgenosse nachmacht. Dennoch bleibt nach vielen Stunden atemloser, begeisterter und bereichernder Lektüre eine leise Enttäuschung.

    "Freiheit" ist brillantes Handwerk mit nur wenigen Schwächen - vernachlässigte Figuren wie die Tochter Jessica oder unglaubhafte wie die allzu perfekte Lalitha, ein paar Abschweifungen zuviel, eine allzugroße Fixierung auf die Determinierung durch das Familiäre, durch Gene und Erziehung. Aber es ist auch ein höchst konventioneller Roman, der mit der klassischen Psychologie arbeitet und auf die vollkommene Durchleuchtbarkeit und Erklärbarkeit jeglicher Handlung, jeglicher Gefühlsregung baut. Franzen ist ein skeptischer Aufklärer, dem nichts fremd und unerklärlich bleibt und der möchte, dass es uns Lesern ebenso geht. Und da sind wir wieder beim Pappelwaldsänger. Denn so wie sich Walter, der Naturschützer, mit diesem Schicksalsvogel identifiziert – wie er sich selbst als bedrohtes Vernunftexemplar inmitten einer Meute selbstvergessener Umweltzerstörer sieht, so muss es auch seinem Schöpfer Jonathan Franzen gehen.

    Als Vertreter des Buches gegen das Internet, der Konzentration gegen die Zerstreuung, der Stille gegen den Lärm. "Freiheit" ist ein Buch, dem es nicht an Dramatik und auch nicht an Komik fehlt, nicht an plakativer Aggression und nicht an Sarkasmus. All diese Töne beherrscht Franzen. Vor allem aber ist es ein elegisches Buch. Ein Buch, das das Bewusstsein in sich trägt, sicher nicht das letzte seiner Spezies zu sein, aber einer Spezies anzugehören, deren Lebensraum mehr und mehr reduziert wird. Das Erwartungsgetöse um diese "great american novel", der enthusiastische Lärm seiner Aufnahme bis hin zu präsidentiellen Ehren: Das gehört zur Eventkultur, nicht zur Kultur der Stille, Konzentration und Rücksichtnahme, die dieser Roman zeigt und die er selbst verkörpern will. Wer Vögel beobachtet, tut in dieser Zeit nichts Schädliches. Wer Romane liest, auch nicht. Wer diesen Roman liest, schon gar nicht.

    Buch der Woche: Jonathan Franzen: "Freiheit"
    Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld. Rowohlt, Hamburg 2010. 730 S., 24.95 Euro