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Kriegsjahr 1941
Ein folgenreiches Jahr für die Weltgeschichte

Am 22. Juni jährt sich der deutsche Überfall auf die Sowjetunion zum 75. Mal. Das "Unternehmen Barbarossa" markierte den Beginn eines brutalen Vernichtungsfeldzugs. Der Journalist Joachim Käppner bilanziert in seinem Buch "1941" klug und kenntnisreich dieses entscheidende Jahr für die Weltgeschichte.

Von Niels Beintker | 20.06.2016
    Ein Panzerfahrzeug der Wehrmacht, gefolgt von Soldaten auf Motorrädern, in der Stadt Minsk während des Rußland-Feldzuges im August 1941.
    Ein Panzerfahrzeug der Wehrmacht, gefolgt von Soldaten auf Motorrädern, in der Stadt Minsk während des Rußland-Feldzuges im August 1941. (picture-alliance / dpa / UPI)
    Ludwig Sauter, Funker bei der Wehrmacht, richtete sich innerlich auf lange andauernde Kämpfe ein. Im Dezember 1941 schrieb er im Lazarett einen Brief an das "liebe Schwesterlein". Sauter klagte darin über Erfrierungen, Gelbsucht und eine enorme nervliche Anspannung. Und er prognostizierte, dass er noch mit etlichen Jahren Krieg rechne, weil – Zitat – der Russe stur und zäh sei und bis zum letzten Mann ausgerottet werden müsse. Eine von vielen, zutiefst verstörenden Aussagen, die Joachim Käppner in seiner Geschichte des Epochenjahres 1941 zitiert. Sie macht deutlich, dass sich der Krieg mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion grundlegend verändert hat.
    Joachim Käppner: "Es beginnt ein Krieg, der nicht dazu dient, den Gegner zu unterwerfen, um sich Vorteile zu verschaffen, um Territorien zu gewinnen. Sondern einer, der vorsieht, eine komplette Bevölkerung, ein komplettes Land von der Erdkarte verschwinden zu lassen, durch Massenmord und Versklavung. Und die ungeheure Brutalisierung dieses Krieges liegt genau daran, dass man dachte, man vernichtet hier das Reich des Bösen sozusagen – was nur einer eigenen und wirren Ideologie entsprungen war."
    Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion steht im Zentrum
    Der Münchner Journalist Joachim Käppner erzählt die Geschichte des Jahres 1941 gestützt auf eine Vielzahl neuer Bücher zum Zweiten Weltkrieg und zur verbrecherischen Politik der Nationalsozialisten. Die Ergebnisse der Gesamtdarstellungen von renommierten Historikern wie Richard Overy, Anthony Beevor oder Manfred Messerschmidt sind darin eingeflossen, ebenso Detailstudien wie Felix Römers und Christian Hartmanns Untersuchungen über deutsche Soldaten und Einheiten, schließlich Tagebuch- und Quelleneditionen sowie die Dokumentation der Wehrmachtsausstellung des Hamburger Institutes für Sozialforschung. Käppners Darstellung macht eine weitere Auseinandersetzung mit diesem Thema nicht überflüssig. Sie bietet aber eine gute Einführung, ermöglicht eine erste Orientierung. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion steht im Zentrum – des Jahres und des Buches. Damit verbunden ist die Frage nach der Verantwortung der Wehrmacht für die in deutschem Namen begangenen Verbrechen.
    Joachim Käppner: 1941 – Der Angriff auf die ganze Welt
    Joachim Käppner: 1941 – Der Angriff auf die ganze Welt (Rowohlt Berlin)
    "Die Männer, die man 1941 zu Zehntausenden in den Krieg schickte, rebellierten nicht. Sie waren die Truppe des Vernichtungskrieges. Schuld ist immer eine individuelle Frage. Die Standardbehauptung aber, man habe erst 1945 in der Gefangenschaft von Holocaust, Hungertod und Einsatzgruppen erfahren, mag in manchen Fällen zutreffen – in der Mehrheit war sie nur ein Versuch der Verdrängung."
    "In Wahrheit hat Hitler schon im Frühjahr 1941 die 200 leitenden Kommandeure der Wehrmacht in Berlin versammelt und hat ihnen wörtlich gesagt: 'Im Osten ist Härte mild für die Zukunft' – und hat das auch noch näher präzisiert. Niemand konnte auf leitender oder führender Ebene behaupten, er habe nicht gewusst, wozu dieser Krieg geführt wurde. Und im Zentrum des Ganzen, das mag vielen Militärs vielleicht nicht bewusst gewesen sein, stand der Holocaust, die Absicht, die Juden möglichst alle zu töten."
    Käppners Buch setzt nicht am 1. Januar 1941 ein. Vielmehr skizziert es die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs, den deutschen Überfall auf Polen – für Käppner eine Blaupause für den Vernichtungskrieg in der Sowjetunion – und die militärischen Erfolge Deutschlands in Westeuropa und Skandinavien. Und es setzt den lange geplanten und am 22. Juni 1941 begonnenen Krieg im Osten in Verbindung mit dem gegen England. Zum Jahr 1941 gehört in dieser Lesart eben auch Winston Churchills Entscheidung vom Mai 1940, gegen die Deutschen zu kämpfen, koste es, was es wolle. Hitler und die Wehrmacht wollten einen Zweifrontenkrieg unbedingt vermeiden, mit dem Überfall auf die Sowjetunion haben sie ihn dann aber doch begonnen. Der britische Premier wird in dieser Darstellung zu einer Lichtgestalt in der sonst dunklen, negativen Geschichte. Man spürt Käppners Faszination für Hitlers zentralen Widersacher, den Verteidiger der Demokratie, immer wieder.
    "Man weiß ja heute, dass dieses Diktum des 19. Jahrhunderts – große Männer machen Geschichte –, dass das nicht stimmt. Dass Strukturen, Gesellschaftsstrukturen viel wichtiger sind, Ideologien, ökonomische Zusammenhänge. Aber 1940/41 war tatsächlich einmal anders, als Churchill, als neuer Premierminister, sich entschied, gegen alle militärische Hoffnung, Hitler weiterhin die Stirn zu bieten. Damit hat Hitler nicht gerechnet – und auch die deutsche Führung hat nicht damit gerechnet, dass England nach dem Fall Frankreichs den Krieg alleine fortsetzen würde."
    Die Frage nach den Alternativen zu Hitlers Vernichtungspolitik
    Ein anderes wichtiges Thema in Joachim Käppners Essay ist die Frage nach den Alternativen, die sich den Angehörigen der Wehrmacht in allen Dienstgraden mit Blick auf die Vernichtungspolitik boten. Es gab durchaus Möglichkeiten, sich dem Terror zu verweigern, wie verschiedene Lebensgeschichten zeigen, etwa die von Johannes Blaskowitz, dem einzigen General, der gegen die Verbrechen der Deutschen in Polen protestierte, ebenso von Soldaten wie Anton Schmid oder Berthold Beitz, die – unter Einsatz ihres Lebens – beschlossen, Juden vor der Vernichtung zu retten – letztere, die von Beitz, hat Joachim Käppner ausführlich in einem früheren Buch geschildert.
    "Ein Krieg ist so wenig wie eine Diktatur eine Sturmflut oder eine Lawine, er ist keine Naturkatastrophe, die unverhofft hereinbricht. […] Es gab Spielräume. Das Erschreckende ist, wie viele sie nicht nutzten und damit zu Trägern des Vernichtungskrieges wurden."
    "Selbst Männer wie Heinz Guderian, der bekannte Panzergeneral, der kein Nazi at heart war und gegen Hitler sehr ehrliche Einwände hatte – er hat diesen Krieg mitgeführt, er hat gewusst, was hinter der Front geschah. Und er war ein Werkzeug des Vernichtungskrieges, ganz egal, wie er sich auf seine preußischen Tugenden berief. Wegen Leuten wir ihm waren die deutschen Armeen so erfolgreich."
    Es ist bekannt, dass sich NS- und Wehrmachts-Führung mit Blick auf die tatsächliche Stärke der Roten Armee am Ende völlig verschätzt haben, trotz eines schnellen und gleichzeitig enorm brutalen Vorstoßes in Richtung Moskau. Dass die Offensive am 5. Dezember eingestellt wurde, markiert eine weitere zentrale Zäsur des Jahres 1941, wichtiger noch aber war die Kriegserklärung Hitlers an die USA, am 9. Dezember, ohne genaue Pläne. Der Zweite Weltkrieg war zu diesem Zeitpunkt endgültig ein globaler Konflikt. Und er war – auch wenn das erst aus dem Rückblick deutlich wird – im Dezember 1941 entschieden. Ein hochdramatisches und folgenreiches Jahr der Weltgeschichte. Joachim Käppner bilanziert es klug, anschaulich und kenntnisreich.
    Joachim Käppner: "1941. Angriff auf die Welt", Rowohlt Berlin, 2016, 320 Seiten, 19,94 Euro.