Samstag, 20. April 2024

Archiv

Kriegspfarrer im Zweiten Weltkrieg
"Der Mensch wird zum Tier"

Das Wirken der Militärseelsorger in der NS-Zeit ist bislang kaum erforscht worden. Wie Geistliche zum "gottlosen Bolschewismus" standen und was sie über Kriegsverbrechen wussten, zeigen nun zwei neue Studien. Viele Pfarrer ließen sich instrumentalisieren für den Opferkult, manche zerbrachen an der Gewissensnot.

Von Michael Hollenbach | 30.03.2017
    Deutsche Infanterie bei den Strassenkämpfen um Stalingrad (undatiertes Archivbild). Die Schlacht um das inzwischen in Wolgograd umbenannte Stalingrad war für die deutsche Wehrmacht 1943 die erste vernichtende Niederlage im Krieg gegen die Sowjetunion und wurde zum Wendepunkt an der Ostfront. Nachdem die 6. Armee im Herbst 1942 zunächst 90 Prozent von Stalingrad erobert hatte, begannen die Sowjets am 19. November mit einer Gegenoffensive. Sie führte zur Einkesselung und nach erbitterten Kämpfen am 31. Januar 1943 zur Kapitulation der deutschen Truppen. Etwa 150000 Deutsche starben bei den Kämpfen oder vor Kälte und Hunger. Rund 91000 Mann gerieten in sowjetische Gefangenschaft, aus der nur 6000 Überlebende nach Deutschland zurückkehrten. Die Zahl der sowjetischen Toten wird auf 600000 geschätzt. | Verwendung weltweit
    Deutsche Soldaten in einem Graben bei der Schlacht um Stalingrad. (dpa)
    Als im Juni 1941 der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion begann, waren die meisten Kriegspfarrer von der Sinnhaftigkeit des Russlandfeldzugs überzeugt, sagt die Münchener Historikerin Dagmar Pöpping:
    "Da hatten die Kriegspfarrer in der Regel selber genug von ihrer Seite beizutragen, weil sie seit der russischen Revolution 1917 selbst einen Propagandafeldzug gegen den gottlosen Bolschewismus geführt hatten, sodass es ihnen nicht schwer fiel, dagegen zu predigen."
    Die meisten Pfarrer, so das einhellige Ergebnis der Forschung, entsprachen in den 1930 und 40er Jahren dem Zeitgeist. Sie waren nationalistisch und sehr obrigkeitshörig. Dazu kommt, dass Staat und Kirche bei der Berufung jene Militärpfarrer aussortierten, die Anlass zu politischen Zweifeln boten. Viele der Wehrmachtspfarrer - so der Magdeburger Historiker David Schmiedel - hegten die Hoffnung, die Russen mit Waffengewalt rechristianisieren zu können. Doch sowohl die Pfarrer als auch viele Soldaten machten bald eine überraschende Erfahrung.
    "Viele Christen sind in die Sowjetunion reingegangen und dachten, sie würden ein gottloses Land vorfinden, ein Land, was aufgrund des Kommunismus von jeglicher Religion gereinigt wäre", sagt David Schmiedel. "Aber dann gehen sie in die Häuser der Zivilbevölkerung und stellen fest: In jedem Haus ist eine Ecke, wo ein Altar aufgebaut ist und die Ikonen, und das bringt einige auch zum Nachdenken."
    "Kilometer durch den Schnee gestapft, um am Gottesdienst teilzunehmen"
    Mit Kriegsbeginn 1939 wurden zahlreiche Geistliche als Soldaten in die Wehrmacht berufen. Viele entschlossen sich damals, sich als Kriegspfarrer zu melden. Damit gehörte man automatisch zum Offizierskorps und musste nicht unmittelbar an der Front kämpfen. Die Militärseelsorger hatten durchaus unterschiedliche Erwartungen zu erfüllen:
    David Schmiedel erklärt: "Zum einen waren sie natürlich vom NS-Staat dazu gedacht, dass sie die Wehrkraft aufrechterhalten", sagt Schmiedel. "Die Wehrmachtseinheiten hatten andere Vorstellungen: Da ging es darum, dass die Kriegspfarrer die Gefallenen bestatten sollten. Und bei den Soldaten war es wieder anders. Manche Soldaten sehnten sich geradezu nach den Pfarrern, nach ihrem Zuspruch, da war es auch egal, ob es der protestantische oder der katholische Pfarrer war, der kam."
    Den Soldaten war es egal, den Pfarrern nicht - wie dieser Tagebucheintrag eines katholischen Priesters zeigt:
    "Die Verordnung über sogenannte Feldgottesdienste, das sind überkonfessionelle Gottesdienste, macht mir viel Sorge. Das ist eine Gewissensknechtung sondergleichen. Der katholische Soldat muss es sich gefallen lassen, einen ihm ganz fremden Geistlichen anzuhören. Umgekehrt auch der evangelische. Man hat jede Ehrfurcht vor dem Religiösen verloren."
    Vielen Soldaten seien vor allem die Gottesdienste an den christlichen Feiertagen sehr wichtig gewesen, sagt der Magdeburger Historiker.
    "Teilweise sind Soldaten 10 bis 15 Kilometer durch den Schnee gestapft, um am Gottesdienst teilzunehmen", so Schmiedel.
    Hiobsbotschaften für die Front
    Wie sehr sich der Alltag der Soldaten an der Ostfront mit der christlichen Botschaft vermengte, verdeutlichten die Osterfeiern 1942:
    "Da spielte alles mit hinein: Im Frühjahr '42 wurde als das Wetter wieder besser, die Front stabilisierte sich, es gab Geländegewinne", so Schmiedel. "Das alles spielt da rein und gibt das Gefühl, dass man nach dem harten Winter, dass man sich jetzt wie ein Phönix aus der Asche oder wie Jesus aus dem Grab erhebt."
    Die Militärseelsorger versuchten zwar regelmäßig Gottesdienste anzubieten, doch die fanden eher im Hinterland stand. Die meisten Soldaten, die direkt an der Front kämpften, bekamen nur selten einen Seelsorger zu sehen. Und wenn er kam, bedeutet das oft nichts Gutes:
    "Denn der eine Soldat schreibt das: 'Immer wenn der Kriegspfarrer kam, wusste ich, es steht ein schwerer Angriff bevor, denn der kam nur davor, und hat mit uns gebetet.' Für den war das ein schlechtes Zeichen, wie wenn Schnaps und Schokolade verteilt wurden", sagt Schmiedel.
    "Sie wurden selber Augenzeugen"
    Dagmar Pöpping hat in ihrem Buch das Wirken der "Kriegspfarrer an der Ostfront" untersucht. Eines ihrer Ergebnisse: Die Geistlichen wussten sehr genau Bescheid über Kriegsverbrechen und Holocaust.
    "Sie haben die Beichten ihrer Soldaten abgenommen, dadurch erfuhren sie viel", so Pöpping. "Sie wurden selber Augenzeugen, es ist klar, dass die über die Dimension des Völkermordes informiert waren."
    So hat der spätere Mainzer Weihbischof Josef Maria Reuß nach dem Krieg bei einer Zeugenvernehmung ausgesagt, er habe als Kriegspfarrer schon im August 1941 erfahren, dass Hitler die SS mit der Judenvernichtung beauftragt hatte. Und in dem Tagebuch des katholischen Divisionspfarrers Johannes Stelzenberger findet sich folgender Eintrag vom 27. Oktober 1941:
    "Hier wurden jeden Tag Tausende von Juden erschossen. Von 40.000 Juden in Wilna sollen nur noch 6.000 am Leben bleiben! Wie furchtbar ist das. Man schämt sich für solches Tun deutscher Menschen. Das Essen will nicht mehr schmecken. Männer, Frauen und Kinder. Sie müssen sich die Gräber schaufeln, werden wütend geschlagen und dann erschossen. Die nächste Reihe muss erst die Toten in die Löcher legen und zuschaufeln, dann werden sie selbst umgebracht! Blut, Blut!"
    "Es ist eine Nacht des Grauens"
    David Schmiedel berichtet von einem anderen Militärgeistlichen:
    "Es gibt da einen Kriegspfarrer, der zerbricht daran. Der hat sein Quartier an einer Vormarschstraße und sieht über Tage und Wochen, wie da Zehntausende von russischen Gefangenen an ihm vorbeigetrieben werden. Das macht ihn theologisch und persönlich fertig."
    Der katholische Kriegspfarrer Steppich schreibt am 19. Oktober 1941 in sein Tagebuch:
    "Welche Schicksale spielen sich aber mit den vielen Tausenden von Gefangenen ab: Sie fallen erschöpft auf der Straße um. Man hört das Schreien und Schießen. Und wenn einer auf der Straße liegt, dann raufen sich die Umstehenden um seine Schuhe und Kleider! Der Mensch wird zum Tier. Auf der Autobahn werden 30.000 Gefangene vorbei geführt. Es ist ein Zug des Elends. Viele können nicht mehr marschieren. Sie behaupten, seit sechs Tagen nichts mehr gegessen zu haben. Sie schreien. Wer die Reihe verlässt, wird erschossen. Durch die Nacht klingt das unheimliche Marschieren, Jammern und Schießen. Es ist eine Nacht des Grauens."
    "Die Kriegsseelsorger wurden immer mehr zum Teil der Armee"
    Vor allem seit 1942/43, im Zusammenhang mit der Schlacht um Stalingrad, hätten sich die Militärpfarrer immer mehr instrumentalisieren lassen für eine zweifelhafte Botschaft, sagt die Münchener Historikerin Dagmar Pöpping.
    "Insofern hat man an die Opferbereitschaft appelliert … Das hat man dann theologisch gewendet und ins Licht der Passion Christi gestellt: Christus hat sich für die Seinen geopfert und ihr opfert euch für euer Volk … Der Soldat vernichtet aus Liebe, aus Liebe zu seinem Volk und das überstrahlt alles, auch die Frage: Wie ist es denn mit dem christlichen Liebesgebot, wenn ihr den Feind tötet? Das spielte keine Rolle, weil man sich opferte."
    David Schmiedel hat aber auch festgestellt, dass einige Pfarrer zunächst vorsichtige Zweifel und leise Kritik an dem brutalen Vorgehen der Wehrmacht äußerten. Allerdings:
    "Die theologischen Zweifel verschwanden einfach in einer Schicksalsgläubigkeit: Gottes Wille geschehe! Ende. Und es kam auch zu einer Militarisierung der Pfarrer."
    Die Militärseelsorger bekamen - obwohl das kirchlicherseits nicht erwünscht war - militärische Auszeichnungen: das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse. Ein Pfarrer wurde sogar mit der Goldenen Nahkampfspange dekoriert. Die Kriegsseelsorger wurden so immer mehr zum Teil der Armee und entfremdeten sich von ihren Kirchen - und ihren christlichen Wurzeln.
    Dagmar Pöpping: Kriegspfarrer an der Ostfront. Evangelische und katholische Wehrmachtseelsorge im Vernichtungskrieg 1941-1945, Vandenhoeck und Ruprecht, 275 Seiten, 70,00 €.
    David Schmiedel: "Du sollst nicht morden." Selbstzeugnisse christlicher Wehrmachtssoldaten aus dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, Campus Verlag, 520 Seiten, 49,95 €.