Dienstag, 19. März 2024

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Kriegsverbrechen in Bosnien
"Die Aufarbeitung hat noch nicht begonnen"

Das Urteil gegen den serbisch-bosnischen Militärchef Ratko Mladic sei für die Opfer nur teilweise eine Genugtuung, sagte Südosteuropa-Experte Florian Bieber im Dlf. Zwar sei die Verantwortung für den Völkermord in Srebrenica klar identifiziert worden. Dennoch gäbe es nach wie vor viele, "die erkennen das Urteil und erkennen den Gerichtshof nicht an", so Bieber.

Florian Bieber im Gespräch mit Martin Zagatta | 22.11.2017
    Wandbild des serbischen Ex-Generals Ratko Mladic. Aufgenommen in Belgrad, Serbien, am 12. Dezember 2016.
    Wandbild des serbischen Ex-Generals Ratko Mladic in Belgrad (EPA / dpa / Koca Sulejmanovic )
    Martin Zagatta: Der serbische Ex-General Ratko Mladic gilt als der schlimmste Kriegsverbrecher in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihm wird unter anderem der Völkermord von Srebrenica zur Last gelegt und die jahrelange Belagerung von Sarajevo.
    Wir sind jetzt mit Florian Bieber verbunden, dem Leiter des Zentrums für Südosteuropa-Studien der Universität in Graz. Guten Tag, Herr Bieber!
    Florian Bieber: Guten Tag.
    "Das Urteil ist teilweise eine Genugtuung"
    Zagatta: Herr Bieber, welche Bedeutung hat denn dieses Urteil jetzt, die lebenslange Haft für Ratko Mladic, für die Region, wenn wir vielleicht mit Bosnien beginnen, für die Opfer von Mladic? Ist das nach all den Jahren jetzt noch eine sehr große Genugtuung?
    Bieber: Es ist teilweise eine Genugtuung, weil es einfach Klarheit schafft. Die Verantwortung ist ganz klar identifiziert worden. Mladic ist verurteilt worden. Natürlich: Was sich viele Opfer erhofft haben ist, dass der Gerichtshof auch in anderen Orten in Bosnien ihn des Völkermordes für schuldig finden würde. Das heißt, es bestand die Hoffnung oder die Vorstellung, dass möglicherweise das Gericht in diesem Prozess urteilen könnte, dass jenseits von Srebrenica in anderen Gemeinden Bosniens ein Völkermord stattgefunden hat. Das hat es nicht getan. Das heißt, für die Opfer dort hat sich die Hoffnung enttäuscht, dass man diese sehr enge Einschränkung des Völkermordes nur auf den Ort Srebrenica nicht ausgeweitet hat.
    Zagatta: Hat denn dieser Prozess und haben die Prozesse insgesamt bei der Aufarbeitung des Krieges und der Kriegsverbrechen geholfen? Wie schätzen Sie das ein?
    Bieber: Ich würde sagen, leider noch nicht. Denn es ist so, dass auf der Seite zum Beispiel der Serbischen Republik, der Republika Srpska in Bosnien, immer wieder betont wird, Mladic sei ein Held gewesen. Man setzt sich eigentlich nicht mit der Vergangenheit auseinander. Das heißt, die Narrative, die Erzählweisen über die Vergangenheit in beiden Teilen Bosniens sind ganz gegensätzlich, sind ganz unterschiedlich. Das heißt, die Opfer sehen sich hier zwar bestätigt, dass sie Opfer waren, während jedoch die, die sich auf der Seite der Täter vermuten, die erkennen das Urteil und erkennen den Gerichtshof nicht an. Ich glaube, das Urteil trägt dazu bei, Fakten zu bestätigen und Klarheit zu schaffen, die einer zukünftigen Aufarbeitung der Vergangenheit sehr hilfreich sein werden. Aber leider: Noch hat diese Aufarbeitung nicht begonnen - im Ernst.
    "Im Alltag haben die meisten Menschen ganz andere Sorgen"
    Zagatta: Wie präsent ist denn diese Kriegsvergangenheit, sind diese Verbrechen noch in diesen Tagen? Ist das das Thema, das noch alles überschattet, oder haben die Menschen schon in ihrem Alltag andere Probleme?
    Bieber: Natürlich. Im Alltag haben die meisten Menschen ganz andere Sorgen und Schwierigkeiten: Arbeitslosigkeit, Verarmung, fehlende politische, wirtschaftliche Perspektiven, Blockaden und alles Ähnliche. Aber natürlich: Wenn solche Urteile gefällt werden, dann kommt es wieder auf, dann schwellen wieder diese Erinnerungen hoch für die Opfer. Die Themen werden in den Medien auch ausführlich behandelt. Das heißt, auch die Politiker nehmen Stellung, leider immer noch auf national geprägter Basis. Das heißt, serbische Politiker verurteilen zum Großteil den Gerichtshof, während bosniakische Politiker das Urteil willkommen heißen werden. Das heißt, da ist es in der öffentlichen Meinung präsent, aber auf eine sehr gegensätzliche Art und Weise.
    "Es gab nie einen klaren Bruch"
    Zagatta: Das klingt ja alles nach einem sehr, sehr schwierigen Prozess. Wie weit ist man denn von einer Versöhnung noch entfernt? Noch Jahre oder noch Jahrzehnte?
    Bieber: Na ja. Es ist eine Frage, wann dieser Prozess wirklich gesellschaftsweit beginnt. Wir sehen leider eine Situation, wo die Eliten in den Ländern oftmals jene sind, die den Krieg selber gutgeheißen haben oder ganz aktiv unterstützt haben. Es gab nie einen klaren Bruch zu sagen, die Soldaten, Politiker, Generäle, die den Krieg ausgefochten haben, sind Kriminelle und wir müssen sie verurteilen, unabhängig von der Nationszugehörigkeit. Diesen Schritt haben sich selbst die reformorientierten Kräfte der 2000er-Jahre in Serbien oder auch in Bosnien eigentlich nicht getraut. Jedes Urteil des Gerichtshofes wird immer wieder so interpretiert, entweder als Bestätigung der eigenen Opferrolle, oder als Beispiel von Ungerechtigkeit der Weltöffentlichkeit gegenüber dem eigenen Land. Da wird es noch eine geraume Zeit dauern und leider ist die jüngere Generation teilweise nationalistischer geprägt als ihre Eltern, weil sie in einem national segregierten Umfeld aufgewachsen ist, mit Schulbüchern bombardiert wurde, die ihnen eine sehr nationalistische Sichtweise nahelegen, und selber kaum Erfahrungen mit Angehörigen anderer Volksgruppen hatte. Das heißt, dieser Prozess ist sicherlich sehr schwierig und man kann nicht sagen, dass es da klare Perspektiven gibt im Moment.
    "Es gibt die Frustration der Opfer"
    Zagatta: Wie angespannt schätzen Sie die Situation ein? Von einem Pulverfass Balkan würde man heute nicht mehr sprechen, oder doch?
    Bieber: Nein. Ich würde diesen Begriff ablehnen, denn es ist nicht eine Frage des Pulverfasses. Niemand will einen Krieg, niemand will einen Konflikt. Auch der Konflikt der 90er-Jahre wurde ganz klar von Eliten ganz bewusst herbeigeführt. Auch damals gab es keine spontane Massengewalt. Die Gewalt war von oben herab organisiert. Heute gibt es weder die Waffen, noch die Motivation dafür. Es gibt die Frustration der Opfer oder jener, die sich als Opfer sehen, dass man ihre Opferrolle nicht anerkennt. Man hat die Frustration, dass die politische Lage oftmals von Blockaden geprägt ist und von auch schwierigen Beziehungen zumindest auf der politischen Ebene. Aber gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass auf der Alltagsebene viele Menschen über ethnische Grenzen hinweg sehr gut miteinander auskommen. Das heißt, im Alltag ist das oftmals gar kein Thema. Im Alltag redet man nicht über den Krieg. Im Alltag beschäftigt man sich mit anderen Fragen. Da ist dann sehr viel mehr Zusammenleben und Koexistenz möglich, als wenn man nur auf die Rhetorik der politischen Eliten hören würde.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.