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Krimi-Kolumne Februar 2006

Ganz begeistert und überwänglich reagiert Andreas Ammer auf ein kleines Buch aus dem Hamburger Nautilus-Verlag: "Tannöd" von Andrea Maria Schenkel. Die Geschichte spielt im tiefsten, dunklen Wald, auf einem Einödhof irgendwo in Bayern nach dem zweiten Weltkrieg. Eine Familie wurde dort samt ihrer Kinder mit der Spitzhacke erschlagen. Zwar mochte keiner die mürrische und isoliert lebenden Familie der Danners, aber niemand hätte sie deshalb ermordet.

Von Andreas Ammer | 07.02.2006
    Sprecher 1: Jetzt kommt der Großangriff.

    Sprecher 2: Die volle Krimi-Attacke.

    Sprecher 1: Die schnellste Kritik der Welt. Mehr als ein halbes Dutzend Romane in wenig mehr Minuten.

    Sprecher 2: Nur echt mit dem Rezensenten!

    Autor: Los, das Leben ist lang, aber kurz nur die Sendezeit.

    Sprecher 2: Bleistift und E-Mail zur Hand: Die Krimikolumne heute radikal wie nie. Es geht los, wenn unser Rezensent seinen inneren Schweinehund erschossen hat.

    Autor: Drei!

    Sprecher 2: Zwei!

    Sprecher 1: Eins!

    Autor: ... und weiter nach der Erkennungsmelodie.

    Zuspielung: John Zorn, James Bond Theme

    Sprecher 1: Zuerst - und in aller gebotenen Kürze das Pflichtprogramm: die größten Krimi-Neuerscheinungen der größten lebenden Krimi-Autoren im Schnelldurchlauf.

    Sprecher 2: Die Großen des Genres balgen sich derzeit um jeden Millimeter Raum auf dem deutschen Nachtkästchen und im Krimi-Regal.

    Sprecher 1: Ganz frisch aus Schweden und Mozambik der notorisch missmutige Henning Mankell mit "Kennedys Hirn". Unser Rezensent bemisst die Dicke des Buches mit exakt:

    Autor: 36 Millimeter

    Sprecher 2: Mankell ist damit guter Durchschnitt im oberen Segment. So wie das Buch. Vielleicht auch wäre "Kennedys Hirn", erschienen bei Zsolnay, ein wirklich gutes Buch mit einem verdammt guten Titel, wenn wir nicht - seien wir ehrlich - der wirklich guten Krimis voll mit wirklich guten, aber dauernd an der Wirklichkeit leidenden Menschen, die im Halbjahresrhythmus von Henning Mankell erfunden werden, einfach völlig überdrüssig wären.

    Sprecher 1: Das ist hart, aber ungerecht, doch so sind sie eben, die übersättigten Rezensenten.

    Autor: Keine Kritik am Kritiker! Der nächste, bitte!

    Sprecher 2: "Eine grausame Mordserie erschüttert die Londoner Öffentlichkeit. Soeben ist bekannt geworden, dass bereits eine dritte junge Frau erdrosselt aufgefunden wurde."

    Sprecher 1: So wird der neue Krimi "Der Duft des Bösen" von Ruth Rendell angepriesen. Der Roman würde auf dem Nachtkästchen den Spitzenwert von 38 Millimeter beanspruchen. Eigentlich verdiente Ruth Rendells psychisch gewohnt vertrackte Geschichte diese Millimeter auch, wäre sie selbst nicht eine erschütternde Serientäterin. Wir erwarten ab sofort mehr vom Büchermarkt als den gefühlt 384. Krimi von 76-jährigen Altmeisterinnen des Genres.

    Sprecher 2: Unser Rezensent meint zur gerade bei Blanvalet erschienenen neuen Ruth Rendell:

    Autor: Kann nicht mal jemand der Lady die Schreibmaschine klauen?

    Sprecher 2: Etwas jünger und dynamischer ist da schon Kathy Reichs, die forensische Anthropologin aus Kanada: "Totgeglaubte leben länger" heißt ihr neuer Knochenkrimi um die Anthropologin Tempe Brennan, erschinenen bei Blessing.

    Sprecher 1: Das Problem mit Kathy Reichs ist, dass es ihr - im Gegensatz zu Mankell und Rendell - obendrein noch an literarischem Handwerkszeug fehlt. Weder sind ihre Romane richtig gut geschrieben, noch sind sie bis zur letzten Minute spannend, da genügt die genaue forensische Recherche nicht und obendrein ist die Reichs diesmal

    Autor: ... absolut Dan-Brown-verseucht!

    Sprecher 2: Es genügt Kathy Reichs nicht, einen Toten zu finden, nein, der Fall muss schon mindestens mit der Kreuzigung Christi zu tun haben, damit er Aufsehen erlangt.

    Autor: Das hatten wir - auch in dieser Absurdität - schon weitaus besser ...

    Sprecher 1: ... meint unser Rezensent zu den 37 Regalmillimetern Kathy Reichs und wünscht sich für den Rest dieser Kolumne

    Autor: Nur noch richtig gute Krimis.

    Sprecher 2: Wohlan!

    John Zorn, James Bond Theme

    Sprecher 2: Richtig gute Krimis gibt es in diesem Winter nicht in den großen gebundenen Ausgaben der großen Verlage, sondern in wohlfeilen Taschenbuchausgaben.

    Sprecher 1: Allen voran ein überaus denkwürdiges Bändchen aus dem Hamburger Nautilus-Verlag: "Tannöd" von Andrea Maria Schenkel.

    Sprecher 2: "Tannöd" spielt im tiefsten, dunklen Wald, auf einem Einödhof irgendwo in Bayern, irgendwann nach dem großen Krieg. Eine Familie wurde dort samt ihrer Kinder mit der Spitzhacke erschlagen. Zwar mochte keiner die mürrische und isoliert lebenden Familie der Danners, aber niemand hätte sie deshalb ermordet.

    Sprecher 1: Einer aber doch. Wer dieser eine ist, das herauszufinden, ist die vornehme Pflicht jedes Krimis. Aber so wie das Rätsel in "Tannöd" gelöst wird, hat man dies noch nie gelesen.

    Sprecher 2: "Tannöd" besteht ausschließlich aus den Erzählungen und Aussagen der Dorfbewohner: Wann sie die getötete Familie zum letzten Mal gesehen haben, wann ihnen auffiel, dass sie länger nicht gesehen wurden, was schon immer merkwürdig an ihnen gewesen sei.

    Sprecher 1: Mit diesen Dutzenden von Stimmen erzählt Andrea Maria Schenkel die immer bedrohlicher werdende Geschichte der ermordeten Einödfamilie. Nie nimmt die Autorin die Position des allwissenden Schriftstellers ein. Sie gibt vielmehr vor, nur die Erzählungen der Dorfbewohner aufzuzeichnen. Eine dieser Erzählstimmen freilich ist unheimlicherweise die des Mörders. Es ist die einzige Stimme, die sich nicht zuordnen lässt.

    Sprecher 2: Ein genialer Erzähleinfall.

    Sprecher 1: Ein geniales Buch.

    Sprecher 2: Ein spannendes, düsteres, unheimliches Buch. Unser Rezensent wünscht sich:

    Autor: Gebt mir Worte zu schwärmen!

    Sprecher 1: Ein Meisterwerk?

    Autor: Ja.

    Sprecher 2: Ein Geniestück?

    Autor: Auch das!

    Sprecher 1: Herr Rezensent, wir kennen sie nicht wieder,
    Autor: Und nur 11 Millimeter dick! Sagenhaft.

    Sprecher 2: Wir fassen zusammen: "Tannöd", von Andrea Maria Schenkel ist bislang der dünnste und der klügste Krimi des Jahres! Passt in jede Jeanstasche.

    Autor: Und gehört auch in jede hinein.

    Sprecher 2: Wegen besonderer Güte nochmal Namen, Titel, Daten:

    Sprecher 1: Andrea Maria Schenkel, "Tannöd", erschienen im nautilus-Verlag; 11 Millimeter dick.

    John Zorn, James Bond Theme,

    Sprecher 2: Immerhin 13 Millimeter benötigt Loriano Macchiavelli für sein "Tödliches Gedenken", erschienen als Originalausgabe im Piper Taschenbuch.

    Sprecher 1: Loriano Macchiavelli aus Bologna ist in Italien weltberühmt. Hierzulande ist der mittlerweile 72-jährige Autor noch nahezu unbekannt. Dabei hat er seinen äußerst merkwürdigen Kommissar Antonio Sardi in Italien schon über 30 Fälle lösen lassen.

    Sprecher 2: Wie der Kommissar dies wiederum geschafft hat, ist ein absolutes Rätsel: Denn außer dass er den besten Espresso dies- und jenseits der Alpen kocht und in fast jedem Krimi das schönste Mädchen des Dorfes flachlegt, macht dieser Kommissar nichts.

    Sprecher 1: Gar nichts?

    Autor: Absolut nichts.

    Sprecher 1: Auch hier ist die Erzählhaltung das originellste an dem Buch: Der allgegenwärtige Autor erzählt die Fälle so beiläufig, wie wir das im deutschen Krimi neuerdings von Wolf Haas kennen. Das heißt: der Erzähler gibt vor, ein intimer Freund des Kommissars zu sein, der uns jetzt dessen Geschichte erzählen müsse.

    Sprecher 2: Dieser namenlose Erzähler mischt freilich sich ständig ins Geschehen ein.

    Sprecher 1: Was heißt Geschehen? Kommissar Sarti, der nicht der intelligenteste ist, macht am liebsten gar nichts. Am zweitliebsten beklagt er seine Darmentzündung. Die Ermittlungen überlässt er meist seinem linksradikalen Freund Rosas, der Polizisten hasst, oder er gibt seinem anderen Freund, dem Journalisten Deoni einfach einen Tipp, damit dieser sich an die Arbeit macht.

    Sprecher 2: Diese vier überaus eigenartigen Männer: Deoni, Rosas, Kommissar Antonio Sarti und der namenlose Erzähler sind ...

    Autor: - auch hier zögern wir nicht, den Superlativ zu gebrauchen -

    Sprecher 1: Sie sind das eigenartigste Ermittlerquartett der Kriminalgeschichte.

    Sprecher 2: Was heißt Geschichte? In "Tödliches Gedenken" soll Sarti über Nacht wegen fortgesetztem Vandalismus ein Partisanendenkmal bewachen. Als Sarti mal pinkeln muss, ist das Denkmal schon wieder beschmiert, aber obendrein liegt ein Toter davor und der Kommissar ist blamiert.

    Autor: Sehr eigenartig, sehr eigen, ja sogar einzigartig!

    Sprecher 1: ... urteilt unser Rezensent über Loriano Macchiavelli, den italienischen Kultautor, dessen "Tödliches Gedenken" jetzt als Piper Original Taschenbuch erscheinen ist.

    Zuspielung: John Zorn, James Bond Theme

    Sprecher 1: Zurück zum Nachrichtenteil: Der ebenso undotierte wie renommierte Deutsche Krimi-Preis ging dieses Jahr in der Kategorie "International":

    Sprecher 2: tatatata

    Sprecher 1: ... an den unsäglich brutalen, aber doch ziemlich eindrücklichen Kindermörder-Thriller 1974 von David Peace, erschienen im kleinen Münchner Liebeskind-Verlag.

    Autor: Reale Dicke: 31 Millimeter.

    Sprecher 2: Und in der Kategorie "National" an den - auch in dieser Kolumne - hinlänglich gefeierten Ex-Polizisten Norbert Horst, dessen Goldmann-Taschenbuch "Todesmuster" stilistisch zu überzeugen weiß, weil es noch die intimsten Details seines Protagonisten in der kühlen Sprache eines Polizeiprotokolls schildert. Da fällt kein Verb zuviel.

    Sprecher 1: Ökonomisch überzeugt der Preis 6 Euro 50!

    Sprecher 2: Unser Rezensent, selbst ein Norbert Horst Fan, meint dazu.

    Autor: 24 Millimeter Regal sind hier sinnvoll angelegt.

    Sprecher 1: Neben dem alljährlich verliehenen deutschen Krimipreis und dieser Kolumne informiert auch die so genannte "Krimiwelt-Bestenliste", die allmonatlich unter www.arte-tv.com/krimiwelt veröffentlicht wird, über die jeweisl besten Krimi-Neuerscheinungen. Unser Rezensent verweist aber an dieser Stelle gerne auf einen noch größeren seines Faches, an Arno Schmidt. Der jedenfalls meinte - Achtung, Zitat:

    Sprecher 2: "Wer mich nach unserm besten deutschen Krimi fragt, dem entgegne ich immer: ›HOLTEI, Schwarzwaldau.‹ – und dann sitzen wir einander halt gegenüber, ich & die Herren vom Colt; (Prag 1855, 2 Bände übrigens: 1 Gratis=tip für Taschenbuchverleger)."

    Sprecher 1: Soweit Arno Schmidt. Leider ist dieser angeblich beste aller deutschen Krimis - trotz prominenter Empfehlung - seit 150 Jahren nie mehr im Druck erschienen.

    Sprecher 2: Dies wiederum hat sich jetzt fast schon geändert. Schon seit einiger Zeit ist das äußerst seltene Buch im Internet als PDF-Datei herunter zu laden.

    Sprecher 1: Dergestalt nimmt es zwar auf dem Nachttisch ideale 0 Millimeter ein, ist aber andererseits im Bett auch schlecht zu lesen.

    Sprecher 2: Deshalb hat sich jetzt ein begeisterter Krimi Aficionado namens Dieter Paul Rudolph ein Herz gefasst und ist wild entschlossen, den Roman als Privatdruck wieder zugänglich zu machen, wenn ... ja wenn sich genügend Leute für das Projekt interessieren. Und so ist Carl von Holteis "Schwarzwaldau"über die Internet-Seite www.alte-krimis.de für 20 Euro zur Subskription zu bestellen. Wenn genügend Neugierige das Buch bestellt haben, wird es im Februar erscheinen.

    Sprecher 1: Der - laut Arno Schmidt - beste deutsche Krimi aller Zeiten, ist ein Krimi, in dem die Hotels noch einen Stall und Pferdeservice anbieten müsssen und in dem dem der Sage nach in äußerst morbider Stimmung solange erzählt wird, bis abgesehen von einer gewissen Caroline alle Hauptakteure tot sind.

    Sprecher 2: Und nicht einmal unser Autor hat diesen Krimi schon gelesen! Skandal.

    Autor: Achtung: es folgt der moralische Aufruf in der Krimikolumne!

    Sprecher 2: Retten Sie dieses Buch.

    Sprecher 1: Retten Sie Carl von Holteis "Schwarzwaldau" aus den Fängen der Virtualität.

    Sprecher 2: Lassen sie "Schwarzwaldau" wieder wahr werden!

    Sprecher 1: &2 Subskibieren sie!

    Autor: Die Internet-Adresse lautet: www.alte-krimis.de.

    Sprecher 1: Wenn Sie dazu zu faul sind, anderer Meinung sein sollten als unser Rezensent, wenn Sie sowieso schon immer an der Urteilsfähigkeit von Arno Schmidt gezweifelt haben oder aber gar keinen Computer besitzen, so gilt auch dieses Mal wieder das alte Spiel:

    Besprochene Bücher:

    Carl von Holtei, Schwarzwaldau, hg. v. Dieter Paul Rudolph,
    Criminalbibliothek des 19. Jahrhunderts,
    zu beziehen über: www.alte-krimis.de
    Lorriano Macchiavelli, Tödliches Gedenken, Piper Original
    Andrea Maria Schenkel, Tannöd, Nautilus

    sowie:
    Henning Mankell, Kennedys Hirn, Zsolnay
    Kathy Reichs, Totgeglaubte leben länger, Blessing
    Ruth Rendell, Der Duft des Bösen, blanvalet

    Arte Krimiwelt Bestenliste Februar 2006