Dienstag, 19. März 2024

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Kriminologe Christian Pfeiffer
"Wir haben die sicherste Republik in Deutschland seit dem Jahr 2000"

"Je mehr die Menschen privates Fernsehen gucken, umso mehr ist ihre Kriminalitätstemperatur von der Wirklichkeit entfernt, weil im Privatfernsehen das Verbrechen noch mehr dramatisiert wird", sagte der Kriminologe Christian Pfeiffer im DLF. Die emotionalisierende Wucht der Bilder mache den Leuten Angst, aus der heraus sich sogenannte Bürgerwehren entwickelten. Dabei haben "wir die sicherste Republik in Deutschland seit dem Jahr 2000. Bürgerwehren seien "ganz absurd."

Christian Pfeiffer im Gespräch mit Peter Kapern | 28.01.2016
    Der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts (Niedersachsen), Christian Pfeiffer, am 25.03.2015 in Hannover beim Festakt anlässlich seiner Verabschiedung.
    Der frühere Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts, Christian Pfeiffer. (dpa / picture alliance / Hauke-Christian Dittrich)
    Deutschland habe eine tolle Entwicklung während der letzten 10 bis 15 Jahre erlebt, sagte der ehemalige Direktor des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen, Christian Pfeiffer, im DLF. Die Kriminalität sei in den meisten Bereichen rückläufig. Dass dennoch vermehrt Bürgerwehren gegründet würden, liege an der gefühlten Kriminalität, die mit dem Kontrollverlust des Staates zu tun habe.

    Von vielen Bürgerwehrbewegungen sei nach einem viertel Jahr nichts mehr da, weil die Leute etwas besseres zu tun hätten, als sich die Nächte um die Ohren zu schlagen. Die Antwort auf Bürgerwehren sei mehr Polizei. "Wir haben zu wenig Polizei, eindeutig." Von hundert Einbrüchen würden nur zwei so aufgeklärt, dass Täter verurteilt würden, das sei eines Rechtsstaates unwürdig. Pfeiffer nannte es wünschenswert, wenn die Bürgerwehrbewegungen zur Stärkung der Polizei führen würden.

    Das Interview mit Christian Pfeiffer in voller Länge:

    Peter Kapern: Die massenhaften gewaltsamen Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht haben in Deutschland einiges in Bewegung gesetzt. Auch, dass vermehrt Bürger, die sich von der Polizei nicht mehr ausreichend geschützt fühlen, nun Recht und Ordnung in die eigene Hand nehmen wollen und Bürgerwehren gründen. Häufig genug aber sind es Rechtsextreme, die unter dem Deckmantel sogenannter Bürgerwehren ihre rassistischen Ordnungsfantasien ausleben möchten.
    Bei uns am Telefon ist nun der Kriminologe Christian Pfeiffer. Guten Morgen, Herr Pfeiffer.
    Christian Pfeiffer: Guten Morgen, Herr Kapern.
    Kapern: Herr Pfeiffer, überrascht Sie der Boom bei der Gründung sogenannter Bürgerwehren?
    Pfeiffer: Nein. Ich komme gerade nach zehnmonatigem Aufenthalt aus den USA zurück und da ist das viel ausgeprägter, hat eine alte Tradition, aber natürlich eine ganz andere Gefährlichkeit, weil die Leute dort bewaffnet durch die Gegend laufen mit Schusswaffen, die sie bei sich tragen und dann auch in einer Weise einsetzen, die erneut bestätigt, was hier zu hören war. Die Polizei hat mit solchen Gruppen mehr Arbeit, als dass es irgendwas hilft.
    "Wir haben die sicherste Republik in Deutschland seit dem Jahr 2000"
    Kapern: Lässt sich das belegen?
    Pfeiffer: Ja, in den USA gibt es systematische Untersuchungen. Bei uns noch nicht, weil das ja eine anfangende Bewegung ist. In Ostdeutschland ist sie möglicherweise, soweit die Polizei das beobachten kann, etwas stärker rechts geprägt als im Westen. Und dann muss man abwarten, ob sie sich am Leben erhält, denn eine, für die Polizei beruhigende Meldung, und für alle Skeptiker, eine Beobachtung kann man machen: Vieles läuft sich dann tot nach einiger Zeit, wenn nichts passiert, und es passiert wenig.
    Wir haben die sicherste Republik in Deutschland seit dem Jahr 2000. Alles ist rückläufig. Als Beispiel: Schusswaffen-Delikte sind seit Mitte der 90er-Jahre von 630 auf 111 zurückgegangen, tödliche Schusswaffen-Delikte. Oder vorsätzliche Tötungen um 43 Prozent rückläufig, die Jugendgewalt um knapp die Hälfte rückläufig. Wir haben eine so tolle Entwicklung während der letzten 10, 15 Jahre gehabt, dass eigentlich Bürgerwehren ganz absurd sind.
    Aber sie haben sich entwickelt, weil es so einen massiven Kontrollverlust des Staates gegeben hat. Einerseits an den Grenzen sind wir nicht mehr Herr der Lage. Das verängstigt die Bürger. Und zweitens dann die Geschichte in Köln, wo die Polizei auch die Kontrolle nicht hatte. Wenn so etwas bildmächtig an uns herangetragen wird, dann entstehen Ängste, die sich zunächst mal auch in einem gewaltigen Umsatzplus der Waffengeschäfte niedergeschlagen haben - zum Glück keine echten Schusswaffen, bestenfalls Schreckschusspistolen. Da haben wir Gott sei Dank ein gutes Waffenrecht, was das Ausufern solcher Ängste Richtung Waffen verhindert.
    Und das zweite sind diese Bürgerwehren, wo erfahrungsgemäß nach einem viertel Jahr nichts mehr da ist, weil die Leute Besseres zu tun haben, als sich die Nächte um die Ohren zu schlagen, und weil sie keine Erfolge haben. Es kommt einfach nicht vor, ganz, ganz selten nur, dass sie positiv eingreifen können. Gelegentlich aber gibt es Konflikte mit Provokateuren von der linken Seite und dann hat die Polizei alle Hände voll zu tun, wieder Frieden einkehren zu lassen.
    "Zunahme des Wohnungseinbruchs in den letzten zehn Jahren um ein Fünftel"
    Kapern: Herr Pfeiffer, das scheint mir aber doch jetzt gerade nicht die erste Konjunktur für Bürgerwehren zu sein. Ich kann mich entsinnen, dass es so etwas schon mal hier wie in Köln gegeben hat, als es viele Überfälle in einem recht wohlhabenden Stadtteil gegeben hat. Damals waren die Urheber ausgemacht als Migranten vom Balkan. Ist das eigentlich ein gemeinsames Merkmal dieser Bürgerwehr-Konjunkturen, dass es dann immer mit Ausländern zu tun hat, auf die man dann besser aufpassen oder gegen die man vorgehen muss?
    Pfeiffer: Es gibt einen Teilbereich, da sagt auch die Forschung, dass solche Zusammenschlüsse eine gewisse Wirkung erzielen: nur gegen Wohnungseinbruch. Das ist auch in Deutschland ein Problem. Wir haben durchaus in den letzten zehn Jahren eine Zunahme des Wohnungseinbruchs um ein Fünftel. Da machen die Bürger sich zu Recht Sorgen. In allen anderen Bereichen ist das unbegründet. Da ist die gefühlte Kriminalitätstemperatur völlig woanders angekommen als die Wirklichkeit.
    Aber im Wohnungseinbruchsbereich, wo es schon früher solche Zusammenschlüsse gab - die nennen sich in Amerika "neighborhood watch", wo die Nachbarn sich zusammenschließen und sagen, in unserem Eckchen der Stadt, da passen wir auf und wir sind alle gemeinsam dabei und da brauchen wir keine Bürgerwehr, sondern wir vereinbaren nur, dass wir wachsam sind, und wer abends mal Zeit hat, rennt auch um den Block, und wir treffen uns gelegentlich -, dieses dann auch durch Plakate signalisierte "wir passen auf gegen Einbrecher", dieses hat durchaus Wirkung.
    Wenn das Einbrecherbanden sehen, dann sagen sie, dann gehe ich halt in den nächsten Stadtteil, wo es das nicht gibt. Der Einbruch wird nicht insgesamt weniger, aber dort, wo "neighborhood watch" passiert, da machen die Einbrecher eher mal einen Bogen, weil sie dann die Sorge haben, dass das Risiko des erwischt Werdens etwas höher ist.
    "Die emotionalisierende Wucht der Bilder macht den Leuten Angst"
    Kapern: Wie kommt es eigentlich zu dieser Diskrepanz zwischen Realität und Wahrnehmung, die Sie da beschreiben mit Verweis auf die reale Kriminalitätswahrnehmung? Denn hier in Deutschland diskutieren wir seit Jahren über den Personalabbau bei der Polizei und in der Tat haben Sie den Menschen doch gerade attestiert, dass sie einen Kontrollverlust wahrnehmen, der möglicherweise auch damit zu tun hat.
    Pfeiffer: Ja. Wir haben das systematisch seit zwölf Jahren untersucht, indem wir den Menschen immer am Anfang des Jahres, wo wir selber noch gar nicht wissen, was ist im letzten Jahr passiert, sagen: Vor zehn Jahren hat es in Deutschland so und so viele Morde gegeben. Was schätzen Sie denn, wie viele waren es denn wohl im letzten Jahr? Oder Sexualmorde, oder Wohnungseinbrüche, Autodiebstähle und so weiter.
    Und wir stellen fest: Je mehr die Menschen privates Fernsehen gucken, umso mehr ist ihre Kriminalitätstemperatur, ihre gefühlte Kriminalitätstemperatur von der Wirklichkeit entfernt, weil im Privatfernsehen das Verbrechen noch mehr dämonisiert und dramatisiert wird. Aber generell wirkt sich Fernsehen aus, Radio gar nicht, gediegene Zeitungen auch nicht, aber die Wucht der Bilder, die emotionalisierende Wucht der Bilder, die macht den Leuten Angst und dann kommt es zu solchen Fehleinschätzungen, und aus den Fehleinschätzungen entwickeln sich dann auch Selbstschutzwünsche und die selbst ernannten Super-Sheriffs gehen dann patrouillieren, zum Glück in Deutschland ohne Waffen.
    Von daher muss einem die Bewegung der Bürgerwehren nur dann Angst machen, wenn sie rechts durchsetzt ist, wie wir das im Osten doch häufiger beobachten. Wenn sich das auch im Westen entwickeln würde, muss man auch leider die Sorge haben, dass es dann aus politischen Gründen stabiler wird und dass die Müdigkeit dann nicht so schnell zum schnellen Ende einer solchen Bürgerwehr führt.
    "'Law and Order'-Gefühl liegt Rechtskonservativen besonders nahe"
    Kapern: Halten Sie es für möglich, dass es sich überhaupt verhindern lässt, dass solche Bürgerwehren von Rechten, Rechtsextremen, Rassisten durchsetzt werden?
    Pfeiffer: Nein. Das ist von Anfang an so gegeben, weil dieses "Law and Order"-Gefühl, ich selber muss für Ordnung sorgen, das ist ja etwas, was Rechtskonservativen besonders naheliegt. Von daher ist das weltweit, wo immer es sich entwickelt, eher der rechtskonservative Bereich, der sich da austobt, und da gibt es dazwischen ganz normale Bürger, die da auch reinrutschen und mit guten Absichten mitmachen und nach einiger Zeit dann aber merken, in welcher Nachbarschaft sie sind, und dann reduziert es sich wieder.
    Mir macht die Bürgerwehr-Bewegung nur dann Angst, wenn sie diesen rechten Drall kriegt, der teilweise auch in Westdeutschland beobachtet worden ist. Deswegen stimmt es im Ergebnis, dass wir dadurch mehr Arbeit für die Polizei haben. Die richtige Antwort auf all die Probleme ist mehr Polizei. Gleich nach Köln hörte man das aus allen Politikermündern, ja, die Polizei muss verstärkt werden, aber inzwischen, ist mein Eindruck, gibt es kaum noch Bundesländer, die das ernsthaft machen, weil es viel Geld kostet, und das geht nicht. Wir haben zu wenig Polizei, eindeutig! Köln ist da nur ein symbolisches Beispiel.
    "Diesem Kontrollverlust des Staates dürfen wir nicht länger zuschauen"
    Aber das zeigt sich auch daran, dass beispielsweise von hundert angezeigten Wohnungseinbrüchen nur zwei damit enden, dass ein Täter verurteilt wird. Das ist eines Rechtsstaats unwürdig, was da läuft. Die Polizei würde gerne besser arbeiten, aber sie kann es nicht, weil sie das Personal nicht hat, weil sie manchmal technisch nicht gut ausgestattet ist. Wenn die ganze Bürgerwehr-Bewegung zu einer Stärkung der Polizei führen würde, das wäre zu wünschen, weil durch Terrorismus-Gefahr, durch diese Migrationswelle, die wir haben, da kommen lauter neue Aufgaben, durch die rechte Entwicklung, wenn sie sich dann in Gewalt niederschlägt.
    Es ist doch absurd, dass wir von hundert Überfällen, die auf Flüchtlingsheime passieren, nur ein Fünftel richtig aufklären und nur ganz wenige Verurteilungen daraus entstehen. Das geht so nicht. Diesem Kontrollverlust des Staates in wichtigen Bereichen dürfen wir nicht länger zuschauen. Das ist das eigentliche Ärgernis. Die Bürgerwehren erledigen sich hoffentlich von selber.
    Kapern: ... sagt der Kriminologe Christian Pfeiffer. Herr Pfeiffer, danke für Ihre Auskünfte heute Morgen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag nach Hannover.
    Pfeiffer: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.