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Krise um Kirkuk
Warum der Konflikt im Nordirak aufbricht

Nach dem Unabhängigkeitsreferendum der Kurden gab es im Nordirak wieder Kämpfe - unter anderem nahm die irakische Armee die Stadt Kirkuk ein. Die Eskalation kommt nicht von ungefähr: Schon seit Jahren werden die ethnischen Gräben zwischen Kurden und Turkmenen, Schiiten und Sunniten, Zentralregierung und Autonomieverwaltung immer tiefer.

Von Marc Thörner | 21.10.2017
    Der Präsident der kurdischen Minderheit im Irak, Massud Barsani spricht in Erbil sitzend in ein Mikrofon und gestikuliert mit seiner erhobenen rechten Hand.
    Die Lage im Nordirak wird schon seit Jahren immer angespannter. Warum kam der kurdische Autonomiepräsident Massud Barzani gerade jetzt auf die Idee, ein Referendum über die Unabhängigkeit abzuhalten? (AP / Khalid Mohammed)
    Der Truppenübungsplatz in Erbil, Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion im Nordirak. Bis vor Kurzem bildeten Bundeswehrsoldaten hier die kurdischen Peschmerga hier an deutschen Gewehren und Panzerfäusten aus. Nachdem Autonomiepräsident Barzani einseitig ein Referendum über die kurdische Unabhängigkeit abhalten ließ, hat Berlin diese Mission allerdings gestoppt.
    Aus gutem Grund: Einheiten der irakischen Zentralregierung rücken in den kurdischen Nordirak ein. Die Peschmerga leisten Widerstand. Und theoretisch könnten sie das auch mit deutschen Waffen tun. Fuad Zindani, Leiter einer kurdischen Menschenrechtsorganisation:
    "Die haben G3, G36 und auch Milan-Raketen gegen Panzer dabei. Aber Peschmerga-Führer haben erklärt, dass die irakische Armee auch sehr schwere, amerikanische Waffen benutzt haben."
    Bagdad will schon länger kurdische Gebiete dominieren
    Wenn die irakischen Sicherheitskräfte jetzt in Kirkuk, Sindschar und in anderen Regionen die Kontrolle übernehmen, dann scheint das wie eine plötzliche Eskalation – und eine Rückkehr kurdisch besetzter Gebiete unter die Obhut der arabischen Zentralregierung zurückkehren. Tatsächlich versucht die Regierung in Bagdad schon seit längerem kurdische Gebiete zu dominieren – in einem schleichenden Prozess.
    Schiitische Milizen drängen seit Monaten in die Autonomieregion vor. Im Sommer konnten wir rund um Kirkuk die Kontrollposten und Fahrzeuge dieser sogenannten Hascht al Schaabi sehen, zu Deutsch: Volksmobilisierungskräfte. Und viele von ihnen sind schon Ende 2014 gekommen. Angeblich als Verbündete gegen den IS.
    "Eigentlich haben sie gesagt: Sie wollen mit der irakischen Armee gegen den IS kämpfen. Aber praktisch sind sie die irakische Armee. Die irakische Armee ist so schwach geworden. Deshalb wurde Hascht al Schaabi gegründet. Sie spielen dieselbe Rolle, haben dieselben Waffen, dieselben Klamotten."
    In den Gemeinden der Provinz Kirkuk gibt es turkmenische und starke arabische Minderheiten. Mehrheitlich wohnen hier in der Regel sunnitische Kurden. Auch in der Stadt Tuz Khurmatu.
    "Das ist eigentlich eine kurdische Stadt, aber man sieht hier überall unterschiedliche schiitische Fahnen, Bilder von Ali, schwarze Parolen..."
    "Es gab hier mehrere Entführungen, Ermordung"
    Ein kurdischer Händler bietet auf seinem Karren Gurken und Tomaten an. Er erhebt schwere Vorwürfe gegen die irregulären schiitischen Kräfte der irakischen Armee. Im Verlauf der Jahre 2015 und 2016 hätten sie immer wieder Übergriffe begangen:
    "Sie haben mehr als Hundert Häuser und Läden von Kurden verbrannt. Sie haben mehrere Zivilisten gefangen genommen und gefoltert. Die schiitischen Freiwilligenverbände versuchen jetzt, die kurdische Mehrheitsbevölkerung zu vertreiben und ihre Häuser zu übernehmen, also zu enteignen. Meine Verwandten haben sie bereits aus ihren Wohnungen in der Stadt verjagt."
    Die irregulären Truppen in Tuz Khurmatu waren gut ausgerüstet, trugen kugelsichere Schutzwesten und beige Springerstiefel. Wir wollten damals mit zwei der Uniformierten sprechen und sie fragen, woher sie kommen und zu welcher Einheit sie gehören. Abwinken. Kein Kommentar. Fuad Zindani machte ein Handzeichen. Lieber weitergehen:
    "Auf dem rechten Arm und auf den Klamotten gibt es ein Zeichen für offizielle iranische Pasdar. Wenn sie uns entführen, was sollen wir dann machen? Es gab hier mehrere Entführungen, bis hin zur Ermordung. Ich habe gemerkt: das sind Iraner. Und die wollen natürlich die Europäer haben..."
    Lage spitzt sich schon seit Jahren ethnisch zu
    Auf Druck der Paramilitärs wurden die Angehörigen der kurdischen Bevölkerungsmehrheit in Tuz Khurmatu nach 2014 aus Polizei und Sicherheitskräften entfernt. Zugunsten von Angehörigen der turkmenisch-schiitischen Minderheit. Die Kurden wiederum suchten bei den Peschmerga Hilfe. Blutige Kämpfe brachen aus. Noch im Spätsommer schien es kurzzeitig zu einer Annäherung zu kommen. Der kurdische Bürgermeister Tuz Khurmatus hatte erklärt:
    "Wir wollen erreichen, dass die Polizei mindestens 250 Kurden einstellt, einschließlich der Polizeioffiziere. Sobald das Gleichgewicht der Bevölkerungsgruppen hergestellt ist, werden sich die Einheiten der Peschmerga und der schiitischen Hascht al Schaabi aus der Stadt zurückziehen."
    Doch dann der Paukenschlag: das Referendum. Seitdem ist der Versuch, das Zusammenleben neu zu ordnen, nichts als Erinnerung. Fuad Zindani:
    "Und jetzt herrscht überall Chaos. Die Bevölkerung ist auf der Flucht, viele haben die Stadt verlassen. Und die Hascht al Schaabi hatten gestern das kurdische Basar in der Stadt verbrannt - und auch die kurdischen Häuser. Vorher hatten sie mehrere kurdische Häuser geplündert. Leute aus Tuz Khurmatu haben mir gestern bestätigt, dass sie manche Leute gesehen haben, die Persisch sprechen. Das heißt: Das sind Iraner, nicht Iraker. Die sind in die Stadt einmarschiert. Das ist eine systematische ethnische Säuberung, insbesondere gegen Kurden."
    Warum ausgerechnet jetzt über Unabhängigkeit abstimmen?
    Warum Autonomiepräsident Barzani gerade jetzt einseitig eine Volksabstimmung über die kurdische Unabhängigkeit angesetzt hat – dafür gibt es vor allem ein Motiv: Der langjährige Clan-Chef wurde bei seiner eigenen Bevölkerung zusehends unbeliebter. Also entmachtete er die gewählten Parlamentarier und blieb auch nach Ablauf seiner offiziellen Amtszeit weiter Präsident. Das Thema Unabhängigkeit bietet ihm Chancen, wieder populär zu werden.
    Den außenpolitischen Ambitionen und Hegemonialansprüchen des Iran dürfte er damit einen guten Dienst erweisen. Und seiner Bevölkerung? Viele Kurden im Nordirak sehen sich zurückgeworfen in eine Art der Fremdbestimmung aus Bagdad, die trübe Erinnerungen weckt. Fuad Zindani:
    "Das ist dieselbe Situation von Saddams Zeit, aber diesmal nicht ein sunnitisches System, sondern ein schiitisches System, verbündet mit dem Iran direkt."