Freitag, 19. April 2024

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Kristen R. Ghodsee
"Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben"

Der Kapitalismus ist frauenfeindlich. Neben vielen anderen schlechten Eigenschaften wird gerade diese aktuell in mehreren Publikationen hervorgehoben. Dass diese fast alle aus den USA kommen, dürfte kein Zufall sein. Denn der US-Präsident taucht darin auf - als frauenfeindlicher Turbo-Kapitalist.

Von Sina Fröhndrich | 02.12.2019
Sie sehen einige Frauen in Dresden 1974, davor Kinderwagen und viele Kleinkinder.
Kristen R. Ghodsee's Fazit ist klar: Der Kapitalismus benachteilige vor allem Frauen (imago / Ulrich Hässler)
War in Schlafzimmern sozialistischer Länder tatsächlich mehr los als in kapitalistischen Betten? Für die US-Ethnologin Kristen Ghodsee ist die Sache klar: Frauen im Sozialismus hatten besseren Sex – weil sie ökonomisch unabhängig waren. Sie verdienten ihr eigenes Geld, waren nicht angewiesen auf das Einkommen eines Partner – und damit auf eine Ehe, die ihre finanzielle Existenz sicherte. Ghodsee bezieht sich auf Studien, die diese These vertreten – und zieht diese heran für ihre Abrechnung mit dem Kapitalismus. Es sei an der Zeit:
"Die Geschichte des Staatssozialismus im 20. Jahrhundert neu aufzurollen und uns mit Aspekten zu beschäftigen, die in der Vergangenheit geschmäht, ignoriert oder schlicht vergessen wurden."
Immer wieder macht die US-Wissenschaftlerin deutlich, dass ihr keineswegs an einer Rückkehr zum Staatssozialismus gelegen sei. Es scheint ihr eher um eine Sozialgesetzgebung wie etwa in Deutschland zu gehen. Sie beschreibt also eher sozialdemokratische Politik als sozialistische. So liest sich das Buch zumindest mit deutscher Brille. Für ihre Argumentation geht Ghodsee unter die Gürtellinie. Dabei stellt sich die Frage: Woran lässt sich guter Sex überhaupt festmachen? Sie räumt ein:
"Die menschliche Sexualität ist komplex und eher schwierig zu untersuchen, weshalb jedes normative Urteil über Sex mit vielen Problemen beladen ist."
Der Titel soll vor allem ziehen
Trotzdem muss der Blick ins Schlafzimmer für den Titel herhalten – frei nach dem Motto "Sex sells". Eine Verlagsentscheidung, wie Ghodsee in einem Interview zugibt. Denn eigentlich nimmt die verkaufsträchtige These nicht sonderlich viel Raum ein. Sie ist der Ausgangspunkt einer nachvollziehbaren Argumentation. Sie wolle anhand von Sexualität die Unzulänglichkeit unregulierter freier Märkte bloßlegen.
"Manche mögen besseren Sex für einen ziemlich trivialen Grund für einen Wechsel des Wirtschaftssystems halten. Doch egal, ob man den Fernseher anschaltet, eine Zeitschrift aufschlägt oder im Internet surft: Das Thema Sex ist allgegenwärtig. Der Kapitalismus hat keinerlei Problem damit, Sexualität zu kommodifizieren und sogar unsere Beziehungsängste auszuschlachten, um uns Produkte und Dienstleistungen anzudrehen, die wir nicht brauchen."
Ghodsee wirbt für eine soziale Gesetzgebung in den USA, die es Frauen ermöglicht, ökonomisch auf eigenen Beinen zu stehen. Sie fordert Kitaplätze, Elternzeit, Jobgarantie nach der Elternzeit. Und eine allgemeine Krankenversicherung.
Private Arbeit bleibt privat
Als wesentliches Hindernis für die berufliche Teilhabe von Frauen sieht sie vor allem die kostenlose Pflegearbeit, die diese leisten. Ghodsee bei einer Lesung in den USA:
"Jeder, der diese Pflegearbeit übernimmt in unserem Wirtschaftssystem, wird auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt. Denn diese Arbeit gilt als privat. Wenn der Staat hier einspringen würde – bei der Betreuung von Kindern, der Pflege älterer und kranker Menschen, würde er Frauen entlasten."
Außerdem müsse der Staat mehr Jobs schaffen. Denn im öffentlichen Sektor gelte gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
"Die öffentliche Hand war immer schon ein wichtiger Arbeitgeber […] und schuf […] Aufstiegschancen für alle jene, die auf dem Arbeitsmarkt aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Geschlechts diskriminiert werden."
Die Autorin wälzt Ideen sozialistischer und sozialdemokratischer Vordenkerinnen und Vordenker. Sie schreibt etwa über die Sozialdemokratin Lily Braun, die Ende des 19. Jahrhunderts eine Mutterschaftsversicherung forderte. Und Clara Zetkin, die Hausarbeit und Kinderbetreuung sozialisieren wollte. Das kleine Sachbuch beinhaltet zugleich eine persönliche Ebene – Ghodsee berichtet etwa von einer Freundin, die ihre Karriere an den Nagel hängt und als Hausfrau und Mutter ihren Mann um Geld anbetteln muss. Es sind anschauliche Geschichten, doch verallgemeinern lassen sie sich nicht.
Der Sozialstaat löst nicht alle Probleme
Auch mit Kritik an ihrer These setzt sich Ghodsee auseinander – denn Vorläufer des Buches war ein Essay für die "New York Times". Die Ethnologin zitiert den Brief einer Frau. Diese sei in einem sozialistischen System zwar ökonomisch unabhängig, doch für Sex viel zu müde gewesen. Ghodsee ist sich der Doppelbelastung für Frauen bewusst, dennoch wischt sie diese Kritik beiseite:
"Als berufstätige Mutter kann ich gut nachvollziehen, wie schwierig es ist, Job und Familie in Einklang miteinander zu bringen, aber ich glaube, dass dieser Frau […] nicht bewusst war, wie privilegiert sie in der staatssozialistischen Tschechoslowakei im Vergleich zu berufstätigen Frauen heute war. […] Ich vermute, sie weiß nicht, wie sehr sich dieser Tagesablauf für Frauen, die heutzutage Arbeit und Familie unter einen Hut zu kriegen versuchen, nach reinstem Luxus anhört."
Das mag aus Sicht einer US-amerikanischen, arbeitenden Mutter zutreffen, doch wirkt es an dieser Stelle überheblich. Zumal sie an anderer Stelle durchaus einräumt, dass auch in einer sozialen Marktwirtschaft noch längst nicht alles erreicht ist für Frauen:
"Auch in Deutschland steht eine Frau, die sich ein Kind wünscht, trotz Elterngeld und garantiertem Kitaplatz vor einem ganzen Berg von Schwierigkeiten. Gesellschaftliche und kulturelle Erwartungen schränken Mütter in ihren beruflichen Möglichkeiten ein, und auf umkämpften Arbeitsmärkten werden Frauen mit familiären Verpflichtungen diskriminiert – mit der Folge, dass sie wirtschaftlich zu oft von Männern abhängig sind."
Autorin richtet sich vor allem an US-Publikum
Die Autorin kennt sich in Deutschland aus, auch weil sie hier lange Zeit gelebt hat. Und doch wendet sich Ghodsee in erster Linie an junge US-Amerikanerinnen, die – ZITAT – "wütend über die sexistische Politik unseres Frauen begrapschenden Obersten Twitterers" sind. Ihr Anliegen wird spätestens im letzten Kapitel deutlich: Sie ruft vor der US-Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr dazu auf, für einen politischen Wandel zu stimmen.
"Oder, wie Bernie Sanders gesagt hat, eine ‚Revolution von unten‘. Wenn jüngere Wähler und ganz besonders junge Frauen sich endlich aufraffen und wählen gehen, haben sie die Macht, etwas zu verändern."
Engagiert Euch, brecht aus Eurer digitalen Blase aus, lest Bücher, fordert Kitaplätze - Ghodsees Liste von Vorschlägen ist lang. Denn ihr Fazit ist klar – der Kapitalismus benachteilige vor allem Frauen – und er sei noch nicht der Schlusspunkt der Geschichte. Das derzeitige Wirtschaftssystem der USA erscheine auf einem langen Zeitstrahl vergleichsweise winzig. Und auch wenn die Autorin von Sozialismus spricht, scheint sie für die Zukunft vor allem mehr Sozialstaat im Sinn zu haben. In den USA lohnt es sicher Ghodsees Forderungen zu diskutieren.
Und was bleibt für deutsche Rezipienten? Die US-Ethnologin schafft es, für mehr Verständnis zwischen Ost und West zu werben. Denn wie fühlte es sich für DDR-Frauen an, die nach 1989 auf ein System trafen, in dem Frauen noch überwiegend Kind und Haus hüteten. Zugleich ist ihr Buch eine deutliche Kritik am ungebremsten Konsum: Wer ein glückliches Intimleben führe, in einer gleichberechtigten Beziehung, der empfinde keine Leere – und brauche deswegen auch keine Kompensation.
Kristen Ghodsee: "Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben. Und andere Argumente für ökonomische Unabhängigkeit",
Suhrkamp Verlag, 277 Seiten, 18 Euro.