Aus den Feuilletons

Europäische Zerreißprobe

04:23 Minuten
Eine zerrissene EU-Fahne flattert im Wind.
Der Zusammenhalt Europas steht auf dem Spiel, schreiben Intellektuelle in einem Aufruf zu nationenübergreifender Solidarität. © imago / Rupert Oberhäuser
Von Klaus Pokatzky · 01.04.2020
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"Die Zeit" veröffentlicht eine Forderung europäischer Intellektueller nach einem EU-weiten Coronafonds. Darin heißt es: Wenn der Norden dem Süden nicht finanziell unter die Arme greife, verliere er nicht nur sich selbst, sondern ganz Europa.
"Dracula ist unter uns!" Das ruft uns die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG zu. "Graf Dracula auf der Suche nach frischem Blut, der untote Woiwode aus Transsylvanien, jener phantastisch schroffen Landschaft am östlichsten Rand des einstigen Österreich-Ungarn, die Bram Stoker so atemberaubend beschrieben hat", macht Martin Zähringer in diesen harten epidemischen Zeiten Lust aufs Lesen.

Neuerwachte Lust auf Graf Dracula

"Lasst euch verführen, vom Wahn, vom wahren Bösen. Die Welt ist unermesslich reich in ihrer Schlechtigkeit, das erzählt sich ganz famos." Anlass für diese Huldigung des blutsaugenden Grafen ist aber nicht Corona, sondern die Tatsache, dass der Klassiker von Bram Stoker nun in einer "üppig ausgestatteten Neuausgabe" herausgekommen ist.
Zu Corona würde ohnehin wohl sehr viel besser ein anderer Klassiker passen: Aus der Feder des Dänen Jens Peter Jacobsen: "Pest in Bergamo" von 1881. "Es werden immer mehr Tote", sagt Francesco Beschi zum norditalienischen Bergamo in Coronazeiten. "An manchen Tagen werden fast 200 Todesopfer gemeldet. In den Krankenhäusern ist die Lage besonders schlimm. Und die offiziellen Statistiken erfassen nicht die Menschen, die in ihrer eigenen Wohnung sterben."

Über die Wichtigkeit der Anteilnahme

Francesco Beschi ist der Bischof von Bergamo. "Jetzt, wo wir eine unfreiwillige Ausgangssperre erleben, merken wir, wie essenziell Anteilnahme ist", meint er im Interview mit CHRIST UND WELT, der Beilage der Wochenzeitung DIE ZEIT. "Ich hoffe, das wird etwas sein, was dieses Drama überlebt. Heute, wo wir alle in unseren Wohnungen gefangen sind, beobachte ich, wie wirklich bedeutende Kontakte zwischenmenschlicher Nähe entstehen."
Aber erst einmal, wo Ostern vor der Tür steht, müssen auch Christen die Nähe zum Nächsten meiden; Gottesdienste sind tabu. "Dass religiöse Feste zu den gefährlichsten Infektionshotspots gehören", ruft uns die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG in Erinnerung, "neben Sportveranstaltungen und Volksfesten", schreibt Kerstin Holm.
"Letzteres, nämlich die Karnevalsumzüge des Mardi Gras, waren der Grund für den sprunghaften Anstieg der Coronafälle im Bundesstaat Louisiana, dem zweiten Hauptherd der Seuche nach New York." Also bleiben wir allein zu Haus.
"Ich habe bereits fünf Kilo zugenommen, weil ich von morgens bis abends auf meinem Diwan liege und darüber nachdenke, wovon mein neues Buch handeln könnte", erzählt der Autor Rafael Horzon der Wochenzeitung FREITAG. "Das neue Buch wird Ende September erscheinen, Suhrkamp ist da gnadenlos."

Angst um den Zusammenhalt Europas

Und wo können wir dieses Buch und die vielen anderen dann kaufen? "Die Autorenvereinigung PEN hat gefordert, Buchhandlungen und Bibliotheken unverzüglich vom Öffnungsverbot in der Coronakrise auszunehmen", steht in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG.
"Der Zugang zu Büchern und damit zu Wissen und Information dürfe in der freiheitlichen Demokratie nicht eingeschränkt werden." Zitat aus dem Appell: "Der Mensch lebt nicht von Brot und Klopapier allein, er braucht auch geistige Nahrung!"
Und die Staaten brauchen Geld – vor allem die südeuropäischen, die ohnehin ihre wirtschaftlichen Probleme haben und nun ganz besonders unter Corona leiden: nicht nur in Bergamo. "Wenn der Norden dem Süden nicht hilft, dann verliert er nicht nur sich selbst, sondern auch Europa", heißt es in einem Aufruf von Intellektuellen, den DIE ZEIT und die französische Tageszeitung Le Monde veröffentlichen. "Die Europäische Kommission sollte daher einen Coronafonds einrichten, der in der Lage ist, sich auf den internationalen Kapitalmärkten möglichst sehr langfristig zu verschulden."
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