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Kritik am Verfahren

Die Bundesregierung hat die russische Führung im Laufe des Verfahrens gegen den Unternehmer Michail Borissowitsch Chodorkowski immer wieder ermahnt, die Rechtstaatlichkeit einzuhalten - denn Menschenrechte gelten auch für milliardenschwere Oligarchen.

Von Sabine Adler | 14.12.2010
    So häufig wie Marieluise Beck war kein deutscher Politiker in Moskau im Verhandlungssaal. Elf Mal in den vergangenen anderthalb Jahren, immer wenn eine neue Etappe begann. Aus Solidarität mit den Angeklagten. Menschenrechte, darin eingeschlossen das Recht auf einen fairen Prozess, sagt die Europa-Expertin der grünen Bundestagsfraktion, gelten auch für milliardenschwere Oligarchen. Außenminister Guido Westerwelle und Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, beide FDP, wie auch der Bundestag verfolgen den Prozess genau und halten ihn für "eine Art Lackmustest für die Rechtsstaatlichkeit in Russland."

    Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, erschütterte die Szenerie:

    "In einem vergleichsweise kleinen Gerichtssaal werden zwei Männer mit Handschellen hereingeführt, sitzen die ganze Zeit in einem Gitterkäfig, der noch zusätzlich mit Glasscheiben abgeteilt ist. Das waren Bilder, die kannte ich als Schüler nur vom Eichmann-Prozess. Wir bemühen uns ja bei uns in Strafverfahren, jetzt nicht durch die optische Art der Anordnung im Gerichtssaal Vorverurteilung entstehen zu lassen, und rechts und links von diesem Käfig stehen dann bewaffnete Polizei, als stünde ein Ausbruch unmittelbar bevor."

    Marieluise Beck, die anders als der CDU-Politiker, Michail Chodorkowski und dessen Freund und Geschäftspartner Platon Lebedjew, regelmäßig sah, war "tief beeindruckt, dass zwei Menschen, die über Jahre hinweg schon unter unglaublich eingeschränkten Bedingungen leben: keine Bewegung, kein Zugang zur Natur, kaum Kommunikation mit anderen Menschen, alles, was belebt -, dass trotz dieser unglaublichen Bedingungen soviel Kraft und soviel Energie da sind."

    Diese zweite Anklage gegen die seit sieben Jahren Inhaftierten galt von vornherein als unfair, weil sie unlogisch ist und im direkten Widerspruch zum ersten Prozess steht. Im ersten Verfahren wurde Chodorkowski wegen angeblicher Steuerhinterziehung verurteilt. Er hatte die Gewinne der über das Land verstreuten Tochterfirmen vor Ort versteuert, was sich günstiger als in Moskau erwies. Das Gericht entschied: Chordokowksi hätte alles in der russischen Hauptstadt versteuern müssen, weil der Firmensitz Moskau ist.

    Im jetzigen zweiten Prozess droht ihm eine Verurteilung, weil die Tochterfirmen angeblich das ganze Öl gestohlen haben. Absurd, denn wer zahlt für Diebesgut schon Steuern?
    Beck: "Es hätte diese Anklage Nr. zwei niemals geben dürfen. Nur eines von beiden kann richtig sein."

    Dass der Prozess Russlands Ansehen schadet, ist für Ruprecht Polenz ausgemachte Sache, seine Erklärung, warum er dennoch stattfindet:

    "Ich denke, es geht um Macht, es geht auch um persönliche Verletzungen, die Putin empfunden hat durch die Tatsache, dass Chodorkowski politische Konkurrenz von ihm unterstützt hat."

    Kommt es zu einer zweiten Verurteilung von Chodorkowski, prophezeit Gernot Erler, SPD, Ex-Staatsminister im Auswärtigen Amt, dann stünde fest:

    "Bei allem, was wir an innerrussischer Entwicklung haben, wäre das aus meiner Sicht auch eine klare Niederlage für Präsident Medwedjew."

    Sollte der Prozess nicht mit einem Freispruch enden, was allseits befürchtet wird, könnte sich der Bundestag erneut damit befassen.

    Beck: "Ich würde mir das sehr wünschen. Es gibt im Deutschen Bundestag ein vordergründiges Argument, das ist: Wir beschäftigen uns nicht mit Einzelfällen. Das ist einmal durchbrochen worden bei Gilad Shalit, zu Recht. Aber es gibt da eine Zurückhaltung. Ich bin vor allen Dingen nicht nur enttäuscht, sondern halte es auch für kurzsichtig, dass die deutsche Wirtschaft sich so unendlich bedeckt hält."

    Beim Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft verwies man im Vorfeld des Urteils auf die bisherige Haltung der in Russland tätigen deutschen Unternehmer, die der langjährige Vorsitzende Klaus Mangold formuliert. Er habe immer den Prozess gegen Chodorkowski kritisiert, in allen Gesprächen. Er halte den Umgang mit Chodorkowski nicht mit unseren klassischen Menschenrechten vereinbar und wäre sehr dankbar, wenn man ein Zeichen setzen würde, diesen Prozess zu verändern. Der grünen Abgeordneten Beck genügt dies nicht:

    "Dahinter kann nur das Kalkül stehen, dass der erwartete Gewinn in Russland so groß ist, dass man den Tanz auf dem Vulkan wagen kann. Und es gibt die Hoffnung: Wenn wir uns still verhalten, können wir unten drunter durchtauchen."

    Dieser und andere unfaire Prozesse müssten einen Investitionsstopp der Wirtschaft zur Folge haben. Zur angestrebten Modernisierungspartnerschaft zwischen Russland und der EU passe juristische Willkür ebenfalls nicht.

    Wenn nach der Urteilsverkündung die internationale Aufmerksamkeit nachlässt, besteht Lebensgefahr für Chodorkowski, ist Marieluise Beck überzeugt:

    "Seit mit dieser unglaublichen Unverfrorenheit Magnitzkij, der Anwalt Magnitzkij in der U-Haft umgebracht worden ist."

    Eines steht jetzt schon fest: Auch mit diesem Verfahren wird sich der Europäische Menschenrechtsgerichtshof befassen müssen.

    Erler: "Da sind schon zwei Verfahren anhängig. Das eine: Da geht es um die ganze Frage der Besitztümer von Yukos, der früheren Firma von Chodorkowski, ob die rechtmäßig weitergegeben worden sind – Streitwert immerhin 100 Milliarden US-Dollar. Und es gibt ein zweites persönliches Verfahren seit Mai 2009 anhängig."

    Der SPD-Außenexperte wie die grüne Bundestagsabgeordnete hoffen, dass bis zur Befassung in Straßburg nicht wieder sieben bis zehn Jahre vergehen müssen.