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Kritik aushalten

"Auch wenn die Kritik an Horst Köhler dezidiert, deutlich und scharf gewesen ist, das ist kein Negativbeispiel der besonderen Güte, wie mit Kritik agiert wird im politischen Raum." Für Steffi Lemke, Bundesgeschäftsführerin der Grünen, gehört Kritik zum politischen Alltagsgeschäft.

Steffi Lemke im Gespräch mit Jochen Spengler | 02.06.2010
    Jochen Spengler: Das politische Berlin kennt derzeit nur ein Thema, und die Spekulationen schießen ins Kraut: Wer wird der Nachfolger oder die Nachfolgerin des vorgestern überraschend zurückgetretenen Bundespräsidenten Horst Köhler? - Namen werden geraunt, Geheimtipps, bestätigt wird keiner bislang. Gesucht wird eine Art Eier legende Wollmilchsau, ein Präsident oder eine Präsidentin mit politischer Erfahrung, hart im Nehmen, anerkannt sowohl in der Politik wie auch beim Bürger. Immerhin steht fest: Der neue Präsident wird am 30. Juni von der Bundesversammlung gewählt werden, und das heißt, die Auswahl muss schnell gehen.
    Am Telefon begrüße ich Steffi Lemke, die Bundesgeschäftsführerin der Grünen. Guten Tag, Frau Lemke.

    Steffi Lemke: Schönen guten Tag, Herr Spengler!

    Spengler: Alle in Politik und Medien scheinen sich einig zu sein: So ein Rücktritt geht gar nicht. Ist also alles Horst Köhler selbst schuld, oder ist die Politikerklasse, zu der Sie gehören, sind die Medien, zu denen wir gehören, wirklich so unschuldig an dem Rücktritt?

    Lemke: Ich glaube, dass dieser Rücktritt in der Tat zunächst eine sehr, sehr persönliche Entscheidung Horst Köhlers gewesen ist, und ich glaube, dass das politische Geschäft sicherlich ein hartes ist, aber dass gerade die Kritik, die Debatte um die Äußerungen von Horst Köhler keines der besonders negativen Beispiele sind. Es hat deutlich heftigere, deutlich daneben langendere Diskussionen über kritische Äußerungen, zu kritisierende Äußerungen auch von Spitzenpolitikern gegeben. Und auch wenn die Kritik an Horst Köhler dezidiert, deutlich und scharf gewesen ist, das ist in meinen Augen kein Negativbeispiel der besonderen Güte, wie mit Kritik agiert wird im politischen Raum.

    Spengler: Nun ist ja Horst Köhler nicht irgendein Politiker, sondern er ist der erste Mann im Staat. Verlangt dieses Amt nicht tatsächlich den Verzicht auf Respektlosigkeiten und beleidigende Äußerungen?

    Lemke: Dieses Amt verlangt in allererster Linie einmal einen besonders vorsichtigen, einen besonders abwägenden Umgang mit öffentlichen Äußerungen, gerade wenn es um so sensible Themen wie Krieg und Frieden geht. Das ist die erste Verantwortung und dieser ist Horst Köhler nicht nachgekommen. Sicherlich kann ein Politiker, auch ein Spitzenpolitiker, auch ein Bundespräsident missverständliche oder interpretationsanfällige Äußerungen tun, aber dann ist es seine allererste Pflicht, diese dezidiert, schnell und ohne weitere Fragezeichen aufzuwerfen auszuräumen. Das ist nicht erfolgt und das ist aus meiner Sicht das Problem, weshalb diese Kritik verfangen konnte auf eine Art und Weise, wie sie Horst Köhler hätte verhindern können. Dies hat er nicht getan. Wenn ich auf die Amtszeit Horst Köhlers zurückschaue, so konstatiere ich, dass er mit großem Respekt auch vonseiten der Opposition betrachtet worden ist, behandelt worden ist, und es ist ja nicht so gewesen, dass er jede Woche mit kritischen Äußerungen bedacht worden ist, sondern in diesem einen Fall, wo er am Beispiel, am Punkt Krieg und Frieden eine mindestens interpretationsanfällige, in meinen Augen missverständliche Äußerung getätigt hat und diese halt nicht persönlich umgehend klargestellt hat. Das ist das Problem gewesen und ich halte es für falsch, jetzt den gesamten Politikbetrieb dafür haftbar zu machen, dass er einen aus meiner Sicht völlig unangemessenen Rücktritt vorgenommen hat, noch dazu in einer der schwersten Krisen, die unser Land gesehen hat. Da muss man möglicherweise auch vielleicht noch mehr aushalten, als zu anderen Zeiten, aber auf jeden Fall gibt die Kritik an Horst Köhler nicht her, das Amt des Bundespräsidenten dann in einer solchen Situation mit einem Rücktritt zu versehen.

    Spengler: Also Sie sehen die Schuld bei Köhler, keinen Anlass zur Selbstkritik, oder, wie Frau Süssmuth schreibt oder heute sagt, mir wäre wichtig zu wissen, was wir denn zu dieser Fahnenflucht beigetragen haben, und damit meint sie die Medien und die Politik?

    Lemke: Er hat eine missverständliche Äußerung getätigt, diese ist kritisiert worden. Er hat auf diese Kritik nicht gut reagiert, nicht schnell genug, nicht umgehend und vor allem nicht persönlich reagiert. Das ist der Fehler, und ich finde, wenn man einen solchen Fehler begangen hat, dann beleidigt die Flinte ins Korn zu werfen, ist in der Tat nichts, was dem gesamten Politikbetrieb zugeschoben werden kann.
    Einen Satz möchte ich noch dazu sagen. Ich halte es auch für falsch, jetzt so zu tun, als ob in den Vorstandsetagen von DAX-Unternehmen, oder bei großen Verbänden, oder beim Internationalen Währungsfonds permanent mit Samthandschuhen umgegangen wird, sondern es ist doch die Frage, ob wir eine Kultur der demokratischen Kritik und einer demokratischen Diskussionskultur haben, und das hat in diesem Fall offensichtlich nicht stattgefunden.

    Spengler: Jetzt heißt es, es müsse einer werden, der künftige Bundespräsident, die künftige Bundespräsidentin, der das politische Geschäft kennt, der nicht so ein Weichei sein dürfe. Das klingt, als müsse es ein Politiker sein, weil man mit einem Seiteneinsteiger halt schlechte Erfahrungen gemacht hat. Wieso sieht das Volk das eigentlich anders? Bei dem war Köhler ja durchaus beliebt.

    Lemke: Zu Recht war Horst Köhler beliebt, weil er viele Dinge, die den Menschen wichtig gewesen sind, in einer für sie sehr verständlichen Sprache angesprochen hat. Ich glaube, er war durchaus auch beliebt, weil er eine sehr bewusste und immer wieder auch ausgespielte Distanz zu dem angeblichen Politikbetrieb gezeichnet hat. Aber ich glaube, dass es jetzt nicht darum geht, kein Weichei zu finden. Horst Köhler war kein Weichei. Er hat langjährige internationale Erfahrungen gehabt in Gremien, wo es wie gesagt auch nicht immer mit Samthandschuhen zugeht. Von daher ist er nicht zurückgetreten, weil er ein Weichei ist, sondern weil er mit der Kritik nicht gut umgegangen ist.

    Spengler: Aber einen, der den Parteipolitikern auch mal den Spiegel vorhält, den wird man nicht kriegen, wenn man aus der Politik jetzt einen sucht?

    Lemke: Ich glaube, dass auch andere Bundespräsidenten, dass auch Bundeskanzler, dass auch Parteivorsitzende den Politikbetrieb immer wieder kritisiert haben, auch aus dem Amt scheidende Spitzenpolitiker immer wieder den Politikbetrieb kritisiert haben - zu Recht. Es gibt dort negative Prozesse und Entscheidungen, die müssen diskutiert, auch kritisch diskutiert werden. Da sehe ich Horst Köhler nicht in einer so alleinstehenden Position. Er hat mehr Gehör damit gefunden, das ist dem Amt geschuldet gewesen, aber ich würde nicht sagen, dass er der Einzige ist, der kritische Entwicklungen überhaupt angesprochen hat.

    Spengler: Wenn es jetzt in Unions-Kreisen und seitens der FDP heißt, der neue Bundespräsident solle von einem breiten Konsens getragen werden, was heißt das? Sind Union und FDP schon auf Sie als Grüne zugekommen?

    Lemke: Das sind sie nicht. Ich hielte es aber für sinnvoll, eben wegen der schwierigen Situation, in der sich unser Land, in der sich Europa befindet, jetzt einen Kandidaten zu suchen, der von vielleicht nicht allen Parteien, aber jedenfalls mehr als den Regierungsparteien getragen wird. Ich glaube, dass es sinnvoll wäre, darüber Gespräche zu führen, aber bisher ist aus Unions-Kreisen zu hören, dass es sich in der Tat auf die drei von ihnen genannten Namen zuspitzen wird, und darüber dann Gespräche mit der Opposition zu führen, nachdem die CDU für sich entschieden hat, wer ein Kandidat sein sollte, ist natürlich kein Verfahren, das dann einen wirklich überparteilichen Bundespräsidenten finden lässt.

    Spengler: Würden Sie denn die Namen von der Leyen, Lammert oder Schäuble überzeugen?

    Lemke: Nein, weil sie eindeutig parteipolitisch verankert sind. Durch ihre Funktionen, durch ihre Wahlämter, durch die Tatsache, dass sie der schwarz-gelben Bundesregierung angehören, wäre dies kein Zeichen von Überparteilichkeit, sondern im Gegenteil ein Zeichen von Parteilichkeit für die CDU und der erklärte Willen dann offensichtlich von Angela Merkel, eben nicht auf die Opposition zuzugehen, oder auch auf andere gesellschaftliche Kreise zuzugehen, um für einen Bundespräsidenten zu werben, der jetzt möglichst breit getragen wird, möglichst breiten Rückhalt im Politikbetrieb, aber auch darüber hinaus findet. Das ist genau nicht das Zeichen, was bisher ausgesandt worden ist.

    Spengler: ..., sagt Steffi Lemke, die Bundesgeschäftsführerin der Grünen. Frau Lemke, danke für das Gespräch.

    Lemke: Ich bedanke mich bei Ihnen.