Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Kritik der Größe

Ankunft in Weimar. Charlotte Kestner, geborene Buff macht Station im Gasthof "Zum Elephanten". So beginnt eine 1996 vom Schweizer Rundfunk produzierte und soeben auf CD veröffentlichte Hörspiel-Fassung von Thomas Manns Roman Lotte in Weimar. Seit seiner Veröffentlichung 1939 schien unstrittig, dass Mann hier seinem dichterischen Vorbild Goethe huldigt - eine literarische Glorifizierung sozusagen.

Von Christoph Vratz | 22.06.2004
    Der jüngste Band der bei Fischer erscheinenden Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe jedoch zeichnet ein anderes Bild. Werner Frizen hat den 450 Textseiten einen fast 1000-seitigen Kommentarband zur Seite gestellt. Sein zentraler Befund lautet, dass "Lotte" nicht primär eine Huldigung darstellt, sondern dass die Figur des Dichterfürsten vielmehr als Anlass dazu dient, den Mythos der "Größe" zeitkritisch zu spiegeln. Frizen:

    Immer mehr im Lauf des Arbeitsprozesses tritt das Interesse an der Psychologie Goethes und am Werk Goethes zurück hinter der Symbolhaftigkeit Goethes. Mehr und mehr wird für Thomas Mann unter dem Eindruck der zeitgeschichtlichen Ereignisse Goethe zum Symbol für etwas Anderes, nämlich für das, was die Deutschen unter Größe verstanden haben – für den Mythos der Größe; und da er parallel sieht, was aus dem Mythos der Größe im Stadium der Verhunzung wird – nämlich im Blick auf Hitler – wird diese unheilige Allianz zwischen Hitler und Goethe ständig gespiegelt, so dass also da eine ganz brisante politische Dimension feststellbar ist.

    So verstanden, gilt es Lotte in Weimar im Kontext von Thomas Manns Spätwerk Doktor Faustus quasi rückwärts zu lesen. Wo im Faustus die Regime-Kritik an den Nationalsozialisten offen und unverhohlen formuliert wird, ist sie in der acht Jahre früher erschienenen Lotte – entgegen bisheriger Annahmen – bereits verdeckt enthalten.
    Dafür bedient sich Thomas Mann eines doppeldeutigen Spiels mit Zitaten. Frizen:

    Er lässt Goethe im 8. Kapitel dieses von Nietzsche vermittelte chinesische Sprichwort zitieren: "Der große Mann ist ein öffentliches Unglück". Damit charakterisiert Goethe sich selbst und seine fatalen Wirkungen, die der Roman wirklich in extenso ausbreitet; und seine Hofschranzen applaudieren dazu, lachen, während Charlotte Kestner eine Gänsehaut über den Rücken läuft.

    Die historische Parallele ist evident. Der große Mann – Hitler – als das öffentliche Unglück; eine Aussage, die von seinen blind-getreuen Dienern lauthals belacht wird. Wer jedoch den Wahrheitsgehalt durchschaut, den fröstelt es.

    Schien das literarische Werk Thomas Manns, bis auf einzelne Seitenstränge, bisher flächendeckend erschlossen, so liefert Werner Frizen mit seiner Edition von Lotte in Weimar einen Forschungs-Coup, der zeigt, wie konstant die Rezeption des Romans von mehr oder weniger einseitigen Interpretationen getragen wurde.

    Frizen hat nicht nur die Quellen des Romans aufgespürt, sondern auch das Originalmanuskript mit der bisher üblichen Druckfassung verglichen. Das Ergebnis ist frappierend.

    Also locker geschätzt, sind es 2500 bis 3000 Korrekturen. Die gesamte Orthographie hat sich jetzt in der Neuausgabe verändert, und es gibt auch eigentlich so kleine Sensatiönchen, dass zum Beispiel ein Satz wie der berühmte "Dass ich zum Repräsentanten geboren bin und nicht zum Märtyrer", den Thomas Mann zum ersten Mal nach der Aberkennung der Doktorwürde durch die Universität Bonn in seinem Brief an den Bonner Dekan benutzt; dass er die Goethe im siebten Kapitel in den Mund legt. Die Formulierung findet sich in keiner bisherigen Ausgabe.

    In diesem Fall vermutet Frizen einen Zeilensprung beim Übertragen als Ursache für diese Auslassung. Doch Textabweichungen wie diese bleiben natürlich nicht ohne Einfluss auf die Interpretationsgeschichte.

    Das hübscheste Beispiel, das ich beobachtet habe, wie eine Interpretation auf einem Lesefehler aufbauen kann, ist die Sache mit dem "Dunkel" und dem "Dünkel". Thomas Mann schreibt einen u-Bogen, und der ist in seiner zackigen Schrift leicht verwechselbar mit einem "ü". Und so haben die bisherigen Ausgaben gelesen, Goethe befinde sich im Dunkel seines Selbstgefühls. Es muss natürlich heißen: "im Dünkel seines Selbstgefühls". Das heißt: Er bezichtigt sich selbst eines Narzissmus und eines Fehlers; die Interpretin aber meint, Goethe befinde da im Dunkel-Naturhaften des Genies.

    Bleibt die Frage, ob die zahlreichen Abweichungen durch Manns enge Handschrift zu begründen sind.

    Die Sütterlinschrift Thomas Manns ist sehr sauber, in sich sehr konsequent und pingelig – auf kölsch gesagt. Aber die Buchstaben ähneln sich sehr. Es sind sehr viele Verwechslungsmöglichkeiten darunter. Das ist die eine Quelle von Problemen und Missverständnissen. Und die andere ist einfach in der Exilsituation begründet. Abgeschrieben wurde zum Teil durch eine holländische Kopistin aus Amsterdam; und Sie können sich vorstellen, wie das bei einem fremdsprachigen Kopisten ist, wenn er Sütterlinschrift lesen muss.

    Als Quellen diente Thomas Mann nicht nur die einschlägige Goethe-Literatur seiner Zeit, sondern auch eher entlegene Titel, die Frizen in seinem Kommentarband auf ihre Entsprechungen hin ausgewertet hat.

    Da seine gesamte Goethe-Bibliothek in Zürich erhalten ist, kann man auch seine Glossen und Randbemerkungen nachvollziehen. Das zeigt dann, wie er sich vor allem gegen völkisch-nationale Goethe-Interpretationen wehrt und absetzt, zum Beispiel die Divan-Interpretation von Schäder. Die braucht er – als Materialfundus für das letzte Kapitel. Da ist fast jede Formulierung von Schäder. Aber der Rand ist geziert mit Bemerkungen wie "Idiot", "Dummkopf" etc.

    Die philologische Kleinarbeit hat sich in der neuen Edition von Lotte in Weimar zu einem interpretatorisch überzeugenden Ganzen zusammengefügt. Es bleibt abzuwarten, ob die nächsten Bände mit ähnlich spektakulären Entdeckungen aufwarten können.

    Thomas Mann:
    Große kommentierte Frankfurter Ausgabe
    S. Fischer Verlag, 450 u. 950 Seiten, zus. EUR 78,-