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Kritik eines Individualisten

Das Internet gehört zum Lebensalltag der meisten Menschen dazu. Es wird gegoogelt, geemailt, gefacebookt, als hätte es nie eine andere Form der Kommunikation gegeben. Umso erstaunlicher ist es, dass mit Jaron Lanier nun ein Internetaktivist der ersten Stunde Front macht gegen das World Wide Web.

Von Matthias Eckoldt | 14.02.2011
    Es ist wahrhaft pervers, wozu das Internet inzwischen verkommen ist.

    Dieser Ausruf stammt von einem Mann, der sich selbst mit gutem Recht als digitaler Revolutionär bezeichnet: Jaron Lanier. Erfinder des Begriffs "virtuelle Realität", Softwareavantgardist und Internetpionier. In seinem Buch "Gadget" geht er hart ins Gericht mit dem Erfolgsmedium, das seinen Siegeszug in menschheitsgeschichtlicher Rekordzeit angetreten hat. Lanier nimmt damit die Rolle des Renegaten ein, der zu jeder Revolution gehört wie die Homepage zum World Wide Web. Und wie für Schriften der Renegaten üblich, ist sein Manifest in einer Rhetorik der Abrechnung geschrieben, in die sich nostalgische Töne mischen, wenn es um die digitale Gründerzeit der 80er- Jahre geht. Zentrum und Glutkern der Kritik des Berkley-Professors mit den wilden Rastazöpfen ist die Negierung der Verschiedenartigkeit der menschlichen Individuen durch die verbindlichen Standards des Internets.

    Eine endlose Folge von Schachzügen, hinter denen gigantische Investitionen steckten, ermunterte junge Leute, die erstmals die Online-Welt betraten, zu einer standardisierten Präsenz auf Sites wie Facebook. Kommerzielle Interessen förderten die weitreichende Übernahme standardisierter Designs wie Blogs. Und diese Designs ermunterten ihrerseits zur Annahme von Pseudonymen anstelle der stolzen Selbstdarstellung, die typisch für die erste Welle der Web-Kultur gewesen war.
    Laniers Kritik ist die Kritik eines Individualisten, der mit Grauen sieht, wie die Buntheit der Existenzen in einige wenige Standards gepresst wird. Die Krux der Entwicklung beschreibt Lanier mit einem Phänomen, das er als Lock-In bezeichnet. Was er damit meint, macht er am Beispiel der MIDI-Schnittstelle deutlich. MIDI ist eine Möglichkeit, Musiknoten in digitalen Mustern darzustellen. Obwohl MIDI weit davon entfernt ist, die gesamte schillernde Welt musikalischer Ausdrucksmittel simulieren zu können, wurde es zum Standard für alle musikalischen Anwendungen in Computerprogrammen. Die gesamte Software- und Synthesizer-Welt hat sich in diesen Standard eingelockt. Trotz erheblicher Mängel und besserer Lösungsvorschläge ist MIDI nicht mehr aus der Welt zu bekommen und führte zu einer kompletten Veränderung unserer Hörgewohnheiten. Diese technologisch initiierte Beschneidung von Vielschichtigkeit auf ein standardisiertes Maß dient Lanier als Analogie für die durch das Internet angeschobenen Entwicklungen. Die These des einstigen digitalen Vorstreiters besagt, dass wir Menschen im Begriff sind, selbst wie MIDI-Noten zu werden:

    Übermäßig definiert und in der Praxis eingeschränkt auf das, was sich in einem Computer darstellen lässt. Das hat gewaltige Konsequenzen: Musiknoten könnten wir möglicherweise aufgeben, aber wir können unmöglich uns selbst aufgeben. Einige meiner Freunde aus dem frühesten Macintosh-Team bauten rasch ein Hardware-Interface, über das der Mac MIDI zur Steuerung eines Synthesizers einsetzen konnte, und ich entwickelte schnell ein Kompositionsprogramm. Wir fühlten uns so frei. Aber wir hätten mehr nachdenken sollen.

    Die Zerknirschtheit des ehemaligen Protagonisten des digitalen Fortschritts ist nicht recht nachvollziehbar. Natürlich kommt es im Internet zur Ausbildung von unhintergehbaren Standards und Monopolen: Google hat mittlerweile konkurrenzlos die Netzsuche mit einträglicher Werbung verbunden. Wikipedia schiebt sich bei fast jeder Internetrecherche an die erste Stelle und hat im öffentlichen Diskurs die Deutungshoheit gewonnen. Und allein die Existenz von Facebook übt geradezu sozialen Druck auf jene aus, die sich noch kein Profil für das Netzwerk angelegt haben. Wenn man jedoch ein wenig in die Medientheorie einsteigt, wird rasch klar, dass Medien grundsätzlich die Tendenz haben, ihre Standards der menschlichen Wahrnehmung zu oktroyieren. Das gilt für die Schrift ebenso wie für den Buchdruck, das Radio und den Fernseher. Die Welt, so hat es der kanadische Medienwissenschaftler Herbert Marshal McLuhan eingängig nachgewiesen, wird nach Maßgabe des jeweiligen Leitmediums wahrgenommen beziehungsweise zugeschnitten. Warum sollte hier das Internet eine Ausnahme darstellen?

    Jaron Lanier aber geht in seiner fakten- wie kenntnisreichen und an vielen Stellen hellsichtigen Analyse von der Möglichkeit eines ganz und gar freien Individuums aus. Das ist nach 2500 Jahren Medien- und Technikgeschichte eine zwar wünschenswerte, zugleich aber hoffnungslos romantische Annahme. Wir Menschen geben an jedes Medium und jede technische Apparatur, die wir gebrauchen, Teile unserer Souveränität ab. Autoren wie Karl Olsberg gehen in der gegenwärtigen Debatte sogar soweit zu behaupten, dass nicht wir die Technik, sondern die Technik uns benutzt, um ihre eigene Evolution voranzutreiben. Angesichts solcher Thesen wirkt der Appell von Lanier an das freie Individuum merkwürdig naiv.
    Nichtsdestotrotz bringt Lanier seine Leser zum Nachdenken über den eigenen Umgang mit dem Medium Internet. Und die Lektüre seines Buches lohnt allein schon wegen des reichen Hintergrundwissens des Autors auf dem Gebiet der digitalen Medien. Oder wussten Sie, dass die erste Version des Macs ohne Dateien auskam und niemals das Licht der Öffentlichkeit erblickte? Oder dass Alan Turing zum ersten Hacker wurde, als er Anfang der 40er-Jahre den geheimen Enigma-Code der Nazis mithilfe eines Computers knackte?

    Die auf die Abrechnung eines Renegaten unvermeidlich folgende Utopie ist im Falle von Jaron Lanier einigermaßen kryptisch oder – ungeschminkt ausgedrückt – wirr. Er schwärmt davon, die menschliche Kommunikation aus den Zwängen der Standards zu befreien und das Reich der von ihm so benannten postsymbolischen Kommunikation zu erreichen.

    Ich stelle mir ein virtuelles, einem Saxofon ähnelndes Instrument in der virtuellen Realität vor, mit dem ich sowohl goldene Taranteln als auch einen Behälter mit allen roten Dingen improvisieren könnte. Es ist meines Erachtens vollkommen ungewiss, ob es überhaupt möglich ist, solch ein Werkzeug so zu bauen, dass es den Improvisierenden aus der Welt der Symbole heraushebt.
    Dass dieser Weg – selbst wenn er gangbar wäre – ein Holzweg ist, weil er nicht zur Befreiung von Standards, sondern nur zum Austausch von symbolischen gegen postsymbolische Standards führen würde, dürfte deutlich geworden sein.

    Jaron Lanier: "Gadget – warum die Zukunft uns noch braucht",
    Suhrkamp, 247 Seiten, 19,90Euro