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Kritik und Erinnerungen

Über Joachim Gaucks Eignung oder Nicht-Eignung für das Bundespräsidentenamt ist bereits viel diskutiert worden. Das aktuelle Buch von Albrecht Müller "Der falsche Präsident" bietet kritische Einwände gegen Gauck und Gaucks Memoiren Einblick in seine bisherige Lebensgeschichte.

Von Norbert Seitz | 19.03.2012
    "Freiheit erwartet von den Bürgern ein ganzes starkes Element von Eigenverantwortung. Und dieses Gefühl von Freiheit, Freiheit von Erwachsenen, das fürchten viele Menschen auch, weil, wenn sie verantwortlich sein sollen, müssen sie sich ein Urteil bilden, sie müssen Fakten zur Kenntnis nehmen, sie müssen bereit sein, Konsequenzen für ihr Handeln zu akzeptieren, und müssen auch in Differenzen eintreten, sie müssen Streit akzeptieren."

    Dieses Freiheitscredo entwickelt Joachim Gauck, seit er als Mecklenburger Junge erleben muss, wie sein Vater, Kapitän aus Wustrow an der Ostsee, 1951 "abgeholt" und die Familie im Unklaren gelassen wird, wo er sich befindet und ob er überhaupt noch lebt. Er hatte zweimal 25 Jahre erhalten, wegen angeblicher Spionage und antisowjetischer Hetze. Die Familie lebt im Ausnahmezustand, bis der Vater 1955 nach Adenauers Moskaubesuch aus sibirischer Haft an die Ostsee zurückkehrt. Der junge Gauck sieht sich in seiner Gottgläubigkeit bestätigt, hatte er doch – die leidende Mutter vor Augen - jeden Tag für den Verschwundenen gebetet. Das Schicksal des Vaters wird gleichsam zur "Erziehungskeule". Dem Regime gewährt er kein Pardon mehr:

    "Selbst wenn wir der Opfer des Faschismus gedachten, entwickelte ich eine innere Reserve. Ich wollte mich nicht gewinnen lassen von meinen Unterdrückern. (…) Ich glaubte 'ihnen' nicht. Wenn Falsche das Richtige sagen, wird leicht auch das Richtige falsch. (…) Ich musste sehr viel älter werden, um einen eigenen, nicht vom Staat diktierten Zugang zum Leiden auch von Kommunisten im Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu gewinnen."

    2009, im Jahr vor seiner ersten Präsidentschaftskandidatur, erschienen Joachim Gaucks Erinnerungen unter dem lyrischen Titel "Winter im Sommer – Frühling im Herbst", mit dem er die beiden Schlüsselerlebnisse seines Lebens sprachgewandt pointiert: "Winter im Sommer" war, als der Vater verschwand. Und "Frühling im Herbst", als die friedliche Revolution begann. Dazwischen lag noch eine weitere traumatische Erfahrung, als seine beiden Söhne, Christian und Martin, alles daran setzen, in den Westen zu gehen. Es dauert vier quälende Jahre, bis es ihnen gelingt. Sie sind enttäuscht, dass der Vater sich für andere, aber nicht für sie einsetzt. Doch seine Devise lautet: "Pastoren gehen nicht". Es müssten doch welche bleiben, damit am Ende die Wahrheit über die Propagandalügen eines Regimes siege, das ihm nichts mehr vorspielen konnte:

    "Ich kannte mich im Osten aus. So paradox es auch klingen mag, diese Landschaft politischer Unsicherheit war für mich berechenbar. Ich kannte ihre Fallgruben und ihre Netze, ich wusste, wie man sich durchschlängeln konnte. Ich kannte die Realität besser als mancher meiner Gegner. Also, warum sollte ich gehen?"

    Auch Tochter Gesine findet einen Weg, um die DDR verlassen zu können. Später als der "Frühling im Herbst" anbricht, schreibt Gauck seinen geflüchteten Kindern:

    "Noch vor zwei Monaten war es allgemeine Überzeugung: 'Die' ändern sich nie. Und damit sah niemand irgendeine positive Zukunft. Nun, ob 'die' sich geändert haben, wissen wir nicht. Aber das Tolle und das Neue ist: Wir, das Volk, haben uns verändert und verändern uns jeden Tag mehr.""

    Gauck glaubt nicht an einen "dritten Weg". Er legt sich mit Bürgerrechtlern an, die zur Krönung der friedlichen Revolution an einer weiteren Modelleisenbahn basteln wollen, einer demokratisierten DDR mit einem "eigentlichen" Sozialismus. Die Träume des Theologen gingen aber seit dem Mauerbau 1961 in eine andere Richtung. Er wünscht sich für sein Land kein neues Systemexperiment, sondern die Freiheit, die er im Westen für weitestgehend verwirklicht hält.

    "Der Westen war wie eine Frau, die man als 17-Jähriger auf den Sockel hebt und anbetet. Da können Jahrzehnte oder Jahrhunderte vergehen, ihre Schönheit bleibt erhalten. Die Runzeln und Abgründe, die Mängel und Beschneidungen von Freiheit haben viele von uns nicht oder wie durch einen Schleier gesehen. Wir haben idealisiert, was wir nicht besaßen.""

    Solche Sätze müssen schrill klingen in den Ohren all jener linken Gauck-Kritiker, die in diesen Tagen ein wahres Trommelfeuer auf die intellektuelle Mission und persönliche Glaubwürdigkeit des neuen Bundespräsidenten eröffnet haben. So auch in dem gerade mit heißer Nadel verfassten Buch des linkssozialdemokratischen Bloggers Albrecht Müller, das unter dem Titel "Der falsche Präsident" alle kritischen Einwände gegen Gauck in polemischer Zuspitzung zu bündeln versucht:

    "Gaucks Haltung gegen engagierte Menschen finde ich unangenehm. Genauso wie seine Häme über die Friedensbewegung (…) und seine pauschale Zurückweisung von Überlegungen zu einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Seine Bedienung von Vorurteilen gegen linke Pfarrer und Lehrer beobachte ich genauso mit Ablehnung wie die typische Missachtung von in soziale Not Geratenen. (…) Auch jene verdienen ihn nicht, die sich seit Jahren Sorgen über den Niedergang der Demokratie machen."

    So stempelt Albrecht Müller Joachim Gauck kapitelweise zum Hartz IV-"Beschöniger", "groben Unterschätzer" des Finanzkapitalismus, Ignoranten der "neoliberalen Systemveränderung", Marktbewunderer, Bellizisten und "Spalter" der Nation. Gaucks vorrangiger Freiheitsbegriff wird frontal attackiert:

    "Die soziale Sicherheit ist die Basis der Freiheit. (…) Wenn das Sozialstaatsversprechen nicht eingelöst wird (…), dann haben wir sogar das Recht zum Widerstand.(…) Der neue Bundespräsident spricht (…) viel von 'Freiheit in Verantwortung'. Hier könnte er auch im Sinne von Freiheit durch soziale Gerechtigkeit Verantwortung wahrnehmen."

    Aber nichts anderes hat Joachim Gauck je gemeint, wenn er von Freiheit in Verantwortung sprach:

    "Ein Mensch, der sich als freier Bürger definiert, also eingetreten ist in den Raum der eigenen Verantwortung, wird danach trachten, dass es Solidarität und Gerechtigkeit gibt, aber hier von einer Gleichrangigkeit dieser Begriffe zu sprechen, ist mir persönlich nicht möglich."

    Joachim Gauck: Winter im Sommer - Frühling im Herbst. Erinnerungen. Pantheon Verlag, 344 Seiten, 14,99 Euro ISBN: 978-3-570-55149-3

    Albrecht Müller: Der falsche Präsident. Was Pfarrer Gauck noch lernen muss, damit wir glücklich mit ihm werden. Westend Verlag, 64 Seiten, 5,99 Euro, ISBN: 978-3-864-89028-4