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Kritikergespräch
Berliner Milieustudie und humorvoller Wissenschaftsroman

Tobias Lehmkuhl und Katharina Teutsch diskutieren zwei kurze, aber literarisch herausragende aktuelle Romane: "Ein Mann, der fällt" von Ulrike Edschmid und Christine Wunnickes "Katie". Der eine begeistert sie als literarische Studie über ein bestimmtes Berliner Milieu - der andere, ein Wissenschaftsroman, weil er zugleich hintersinnig und komisch daherkommt.

Tobias Lehmkuhl und Katharina Teutsch im Gespräch mit Hubert Winkels | 25.05.2017
    Ein Mann steht in Berlin an einem Fenster in einer Wohnung auf einer Leiter.
    Ein Mann steht auf der Leiter und streicht die Decke einer Altbauwohnung, in die er mit seiner Gefährtin einziehen will. Da verliert er das Gleichgewicht und stürzt in die Tiefe: Ausgangspunkt in "Ein Mann, der fällt" von Ulrike Edschmid (picture alliance / ZB / Jens Kalaene)
    In ihrem erfolgreichen Roman "Das Verschwinden des Philip S." stellt Ulrike Edschmid zu Beginn die gewaltsame Szene eines RAF-Attentats aus. Daran schließt sich der gesamte Roman als Vorgeschichte an. In ihrem neuen Roman "Ein Mann, der fällt" steht wieder ein Unglück im Mittelpunkt. Doch der Roman erzählt die Zeit danach, in der nichts mehr so ist wie vordem. Sommer 1986. Berlin-Charlottenburg. Ein Mann steht auf der Leiter und streicht die Decke einer Altbauwohnung, in die er mit seiner Gefährtin einziehen will. Da verliert er das Gleichgewicht und stürzt in die Tiefe.
    Erforschung eines unbekannten Kontinents: des eigenen Lebens
    Brutaler hätte der Aufbruch zweier Menschen in die gemeinsame Zukunft kaum scheitern können. Doch was wie ein Ende erscheint, geht langsam über in die Erforschung eines unbekannten Kontinents: des eigenen Lebens. Gekonnt verknüpft Ulrike Edschmied dies mit einer literarischen Studie über ein bestimmtes Beliner Milieu, den Charlottenburger Kiez im Verlauf vieler Jahre.
    Esoterische Gespenstergläubigkeit und wahnhafte Faktenbesessenheit
    Lange haben die Literaturkritiker Lehmkuhl und Teutsch keinen so hintersinnigen und zugleich komischen Roman mehr gelesen wie Christine Wunnickes "Katie". Die für kurze Romane mit Wissenschaftsbezug bekannte Münchner Autorin erzählt hier die Geschichte des Wissenschaftlers William Crookes, der im 19. Jahrhundert mit Kathoden, Vakuumkammern und Radiometern experimentierte und beauftragt wurde, die Entfesselungskünstlerin Florence Cook, die in ihren Seancen zur Piratenkapitänin "Katie" wurde, zu untersuchen. Wie Wunnicke in dieser mit trockenem Humor erzählten Geschichte um die beiden historisch verbürgten Figuren esoterische Gespenstergläubigkeit und wahnhafte Faktenbesessenheit kunstvoll verknüpft, hat die drei Gesprächspartner tief beeindruckt.