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Krude Analogien

Altersheime haben keinen guten Ruf. Zyta Rudzkas "Doktor Josefs Schönste" setzt alles daran, der Institution den Todesstoß zu geben: Es vergleicht das Heim mit einem Konzentrationslager.

Eine Rezension von Jörg Plath | 16.09.2009
    Eine kleine Altersheimgemeinschaft geht sich in dem Roman "Doktor Josefs Schönste" von Zyta Rudzka mit ihren Marotten und Ticks zugleich auf die Nerven und vertreibt sich die Zeit. Frau Benia erkundigt sich alle paar Minuten, ob man verbrannt oder begraben werden möchte. Herr Leon kümmert sich nur noch um seine Zimmerpalme. Frau Leokadia isst kaum, versteckt aber in ihrer Kleidung und überall im Heim alsbald verschimmelnde Brotkanten. Herr Henoch fühlt sich beständig bestohlen. Frau Czechna streicht gegenüber den siechen Männern ihre Schönheit heraus und schlurft davon, wenn ihr Gegenüber seine altersbedingte Schwäche nicht mehr länger verbergen kann.
    Ein beschaulicher Roman deutet sich an, der die steten Wiederholungen und Variationen verbaler und nonverbaler Lebensäußerungen mit großer Ausdauer zu einem manchmal musikalisch anmutenden Lamento der Vergeblichkeit montiert. Was bei Beckett oder Ionesco eher karg repetitiv ausgefallen wäre, wird von Rudzka mit mehr unterhaltsamen Details ausgeschmückt. Ihr Erzähler weilt den Unterhaltungen meist unauffällig wie ein Protokollführer bei:

    Der Mensch hat ein hochheiliges Recht vor seinem Tod, und zwar darf er reden, soviel er will.
    Verkündete Herr Henoch.
    Was gibt es denn so viel zu quatschen?
    Zischte Herr Miron.
    Ich weiß eines: Ein zu langes Leben führt dazu, dass das Herz zu einem Muskel wird. Mehr noch: zu einem schlaffen Muskel.
    Prophezeite Herr Henoch.


    Eingebettet in die mal längeren, mal kürzeren Kapitel sind Natur- und Wetterbeschreibungen, die vor allem die lang anhaltende Hitze des Sommers heraufbeschwören. Diese gelungenen Passagen zeigen, dass die 1964 geborene Psychotherapeutin Zyta Rudzka als Lyrikerin begonnen hat, bevor vier bisher nicht übersetzte Romane folgten.
    Allerdings bleibt es in "Doktor Josefs Schönste" nicht beschaulich-geriatrisch. Die Alten werden zwar von Betreuern und Ärzten kaum behelligt. Aber sie fürchten sich vor der Verlegung in eine sagenumwobene Filiale des Heims am See. Dorthin verschickt der Direktor offenbar die hoffnungslosen Fälle zum Sterben. Dieser namenlos bleibende Leiter des Altersheims ist der Herrscher über Leben und Tod. Er versagt den Insassen jeden Wunsch und beschimpft sie bei jeder Gelegenheit.
    Der Direktor ist ein Sadist und rechtfertigt sich, den vielen ehemaligen Lagerinsassen in seinem Heim sei eben "schwer beizukommen". Sein Regime ähnelt dem der SS im KZ, er selektiert die Alten, und das Haus am See fungiert als Äquivalent der Gaskammer. Anfangs möchte man solch krude Analogien gar nicht glauben, muss sich jedoch eines Schlechteren belehren lassen. Rudzka lässt nämlich nicht locker: Ihre Alten haben sich offenbar vor allem im KZ aufgehalten. Von ihrem Leben danach ist nur knapp die Rede, immer steht es im Schatten der Lager. Die Alten sind vor allem Häftlinge, so wie der Direktor vor allem Lagerkommandant ist. Gegen die KZ-Erfahrungen hat das bürgerliche Leben aller Insassen keine Chance. Sie bleiben Herr oder Frau oder Direktor – Individuen werden sie nie.

    Eklatant tritt das bei Frau Czechna vor Augen. Von dem entscheidenden Erlebnis ihres Lebens erzählt das erste Kapitel auf zwei Seiten: Als Zwölfjährige stand Czechna vor Doktor Josef und spürte sein Entzücken über ihre knospende Schönheit. Der Ort ihrer Begegnung wird nicht genannt, wohl aber die Macht des Doktors über Leben und Tod all der vor ihm stehenden Kinder. Später bestätigt sich der Verdacht: Doktor Josef ist jener Mengele, der in Auschwitz Versuche mit Kindern anstellte – auch mit Czechna, die einen Arm verlor. Erst einmal aber folgt auf das kurze, schockierende Eingangskapitel der beschauliche, sanft skurrile Altersheimalltag, bis dann allmählich Erinnerungsfragmente aus dem Lager auftauchen. Frau Czechna kommt am ausführlichsten zu Wort, und ihre erotisch-sadistisch aufgeladenen Erlebnisse mit Josef Mengele sind so ungewöhnlich, dass diese Bevorzugung den Beigeschmack von Voyeurismus bekommt. Zudem betont ihr einzigartiges Schicksal die chargenhafte Blässe aller anderen Figuren.

    Frau Czechna hielt einen Augenblick inne, holte tief Luft: Vor Ihnen, mein lieber Freund, sitzt die Miss Auschwitz. Ja, so ist es. Miss Auschwitz.
    Was sagen Sie da? Ja ... aber ... Ja ...?
    Miss Auschwitz. Die ehemalige kleine Miss Auschwitz. Ach, was war ich schön. Als ich ins Lager kam, war mein Ärmchen so dünn. Sie haben mir die Tätowierung auf den Schenkel gemacht.


    Dass sich Frau Czechna nach dem Lager sehnt, erinnert an Imre Kertész' "Roman eines Schicksallosen". Er könne vom Glück des Konzentrationslagers erzählen, falls er gefragt werde und falls er es nicht vergesse, lässt Kertész den Jungen sagen, der eben – vermeintlich glücklich – aus dem Lager entlassen worden ist. Frau Czechnas Sehnsucht nach dem Lager wirkt wie ein Echo dieses schockierenden Satzes. Man kann sogar den ganzen Roman "Doktor Josefs Schönste" als ein solches Echo der grausam klaren Erkenntnis des Kertész'schen Überlebenden lesen: als ihre Verlängerung bis hin zum natürlichen Tod. Als eine recht schlichte Verlängerung.

    Zyta Rudzka, Doktor Josefs Schönste. Roman. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Ammann Verlag. Zürich 2009. 316 Seiten, 21,95 Euro