Anschlag am Breitscheidplatz

Hinterbliebene kritisieren Behörden

Gedenken an den Anschlag am Breitscheidplatz
Gedenken an den Anschlag am Breitscheidplatz in Berlin. © imago/Stefan Boness/Ipon
Von Paul Vorreiter · 18.12.2017
Tagelang suchten sie in Krankenhäusern verzweifelt nach ihren Angehörigen, dann bekamen sie eine Rechnung für eine Obduktion. Ein Bericht von Kurt Beck, der Opferbeauftragte der Bundesregierung, offenbart massive Fehler bei der Betreuung der Hinterbliebenen.
"Und irgendwann kam dann der Satz: Papi ist tot. Und da ist erst mal ... wie jetzt? Papi ist tot? Und dann hat sie mir gesagt: Wir waren gestern auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheid-Platz",
erinnert sich Astrid Passin in einem Gespräch mit Hans Rubinich. Für die Mutter einer zehnjährigen Tochter dürfte der heutige Tag kein leichter sein. Denn er erinnert an die Ohnmacht und das Gefühl des im Stich-gelassen-werdens, das viele Hinterbliebene nach dem Anschlag am Berliner Breitscheidplatz erlebt haben.

Nach dem Anschlag allein gelassen

Im Stich gelassen, nicht nur von Behörden, auch von der Politik, ganz konkret von Kanzlerin Merkel, die die Angehörigen heute zu sich geladen hat. In einem offenen Brief an die Kanzlerin, der Anfang des Monats veröffentlicht wurde, steht:
"In Bezug auf den Umgang mit uns Hinterbliebenen müssen wir zur Kenntnis nehmen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie uns auch fast ein Jahr nach dem Anschlag weder persönlich noch schriftlich kondoliert habe".

Tagelange Ungewissheit

Es ist nicht die einzige Kritik an Angela Merkel, der Politik und den Behörden. Während die Kanzlerin am Tag nach dem Anschlag einen Trauergottesdienst begangen hatte, suchten die Hinterbliebenen noch verzweifelt nach ihren Angehörigen, klapperten mehrere Krankenhäuser ab oder riefen an. Astrid Passin erinnert sich:
"Das war ja in den Tagen danach erst mal eine ganz schwierige Situation, um überhaupt zu erfahren, was ist denn da passiert: Wo ist er denn jetzt? Da gab es ja nur diese Hotline, diese Telefonnummer, die über die Medien mitgeteilt wurde, die auch total überlastet war. Wo wir halt stündlich anriefen, um zu wissen, was los ist. Ist er im Krankenhaus? Ist er bei einer Gerichtsmedizin? Ist er vielleicht doch noch am Leben?"

Astrid Passin auf dem Breitscheidplatz.
Astrid Passins Vater starb beim Anschlag auf dem Breitscheidplatz.© Carsten Behrendt / Deutschlandradio

Polizisten durchforsteten die Wohnung

Einen Tag nach dem Anschlag meldete sich die Polizei bei Astrid Passin, forderte aus der Wohnung ihres Vaters Zahnbürste, Rasierer oder Kamm; für den DNA-Spuren-Abgleich. Als drei Tage danach Astrid Passin immer noch nicht weiß, was mit ihrem Vater passiert ist, beschließt sie das Bundeskriminalamt anzurufen:
"Ich will jetzt endlich wissen, wo mein Papi ist. Ich möchte ihn sehen. Warum geht das nicht? Anstelle dessen wurde nochmal von mir verlangt noch mal in die Wohnung zu gehen, um eine Spurensicherung zu machen. Da bin ich wieder in die Wohnung mit einem dreiköpfigen Team von denen und musste quasi dort in der Wohnung mit zusehen, wie alles geschwärzt wurde, wie die Spuren aufgenommen worden sind. Und alles im Prinzip unter die Lupe genommen wurde. Und da kam ich mir vor, als wenn ich Täter wäre."

Die Angehörige erhielten eine Obduktions-Rechnung

Fast drei Monate nach dem Anschlag hat die Bundesregierung den ehemaligen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, zum Opferbeauftragten ernannt. Er hat die Fehler im Umgang mit den Hinterbliebenen in einem Abschlussbericht zusammengefasst und diesen vergangene Woche vorgestellt: Darin ist die Rede davon, wie Angehörige, die den Anschlag miterlebt haben, vom Unfallort gedrängt wurden, sie sich dadurch zurückgestoßen fühlten, wie durch eine langwierige DNA-Prüfung Angehörige tagelang im Unklaren gelassen wurden, und, so erklärt Kurt Beck:
"Nach der Obduktion den Angehörigen eine Rechnung zu schicken und diese Rechnung dann auch mit Warnhinweisen und Inkassohinweisen zu versehen: ich wollte es gar nicht glauben, dass es so etwas gegeben hat, aber ich hatte einen solchen Brief in der Hand."

Konsequenzen aus dem Beck-Bericht

Der Beck-Bericht soll nicht folgenlos bleiben, sondern Konsequenzen nach sich ziehen: Es geht unter anderem um höhere Entschädigungen und unbürokratischere Hilfe oder wie Justizminister Heiko Maas versprach:
"Wir wollen dafür sorgen, dass es in Zukunft eine zentrale Anlaufstelle gibt, bei der die Betroffenen Anträge einreichen können aber auch vermittelt werden an die zuständigen Behörden, das heißt, dass man nicht selber kundig machen muss, wer ist eigentlich zuständig, weil wir unterschiedliche Fonds haben, unterschiedliche Entschädigungsformen."
Der Bundestag hat in einem fraktionsübergreifenden Antrag die Vorschläge Kurt Becks aufgegriffen.

Floskeln spenden wenig Trost

Für die Hinterbliebenen sicher nur ein kleiner Trost. Heute und morgen werden sie beim Treffen mit der Kanzlerin und bei den Gedenkveranstaltungen zunächst einmal wieder nur an ihren Verlust erinnert. Auch die üblichen Appelle, dass das Leben weitergehen müsse, werden wohl fallen. Für Sigrid und Hans-Georg Rheinsberg, die ihre Tochter Dorit verloren haben, eine kaum erträgliche Parole, wie sie im ARD-Fernsehen erklärten:
"Ich kann auch den Satz nicht mehr hören: Wir leben so weiter, wir lassen uns nicht einschüchtern. Ja, das können alle sagen, die keinen verloren haben aus der Familie, die können das leicht sagen, wir gehen wieder auf Weihnachtsmärkte wir gehen überall hin, aber wenn man ein Menschen leben verloren hat dadurch, dann kann man nicht einfach so weiterleben."
(mw)
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