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Künstler und Kuratoren vor Gericht

Den vor Pussy Riot spektakulärsten Fall der Verfolgung von Kunst durch den russischen Staat dokumentiert die Reportage von Wiktoria Lomasko und Anton Nikolajew: 2010 waren die Ausstellungsmacher Wiktor Jerofejew und Jurij Samodurow wegen religiöser Verunglimpfung verurteilt worden.

Von Ulrich Hufen | 31.12.2012
    Paolo Veronese, William Hogarth, George Grosz, die Wiener Aktionisten, Herbert Achternbusch, Jeff Koons, Legionen von Graffiti-Künstlern - die Liste der Künstler, die wegen ihrer Werke mit dem Gesetz in Konflikt kamen, zensiert oder vom Staat sogar vor Gericht gestellt wurden, ist lang. In Russland ereilt die zweifelhafte Ehre, als Staatsfeind betrachtet zu werden, traditionell vor allem Dichter. Puschkin, Dostojewskij, Charms, Mandelstam, Solschenizyn. Seit dem Ende der Sowjetunion gibt es in Russland allerdings keine literarische Zensur mehr, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes. Dafür zerrt man nun immer wieder Künstler und Kuratoren vor Gericht. Den vor "Pussy Riot" größten und medienwirksamsten dieser Prozesse dokumentieren Wiktoria Lomasko und Anton Nikolajew in ihrer Reportage "Verbotene Kunst", die gerade im Verlag Matthes & Seitz erschienen ist.

    Von Mai 2009 bis Juli 2010 standen Wiktor Jerofejew und Jurij Samodurow in Moskau vor Gericht. Sie hatten für eine Ausstellung im Sacharow-Zentrum vierundzwanzig Werke versammelt, die im Laufe des Jahres 2006 von russischen Museen abgelehnt worden waren. Den Museums-Kuratoren missfielen mal entblößte Leiber, mal religiöse Symbole, mal unflätige Flüche. Fotos nackter Prostituierter mit der Bildunterschrift "Russlands Ruhm" etwa, oder biblische Szenen, bei denen das Gesicht Jesu durch Mickey Mouse ersetzt war. Samodurow und Jerofejew versammelten all das unter dem skandalträchtigen Motto "Verbotene Kunst 2006".

    Dann kam, was kommen musste: selbsternannte Patrioten und Hüter des Glaubens begannen eine Kampagne gegen die Ausstellung, die schließlich zum Prozess führte. Wiktoria Lomasko und Anton Nikolajew besuchten den Prozess fast täglich und berichteten im Internet und diversen liberalen Moskauer Zeitungen und Zeitschriften: in Wort und Bild. Lomasko hat für ihre Reportagen das alte Format der Gerichtszeichnung zum Gerichts-Comic weiterentwickelt. Nicht im Sinne von "humorvoll und witzig" sondern im Sinne von "Zeichnung mit Sprechblasen". Auf welcher Seite Lomasko und Nikolajew standen, macht schon das kurze Vorwort klar:

    "Unser Buch erzählt von dem beschämenden Prozess gegen die Organisatoren der Ausstellung "Verbotene Kunst 2006" Andrei Jerofejew und Juri Samodurow. Der Prozess wegen Schürens religiöser Feindschaft wurde von führenden Persönlichkeiten der orthodox-nationalistischen Bewegung Volkskirche initiiert und endete mit einem Schuldspruch. Noch vor Beendigung des Verfahrens erreichten Jerofejews und Samodurows übervorsichtige Arbeitskollegen deren Entlassung. Oppositionelle Medien berichteten ausführlich über den Prozess und sahen ihn als Lackmustest für eine Wiedereinführung der Zensur und ein Erstarken faschistischer Organisationen in Russland."

    Starke Worte, die die Welt sauber in Gut und Böse teilen. Die russische Realität ist vielschichtiger: Auf der einen Seite steht eine Minderheit radikaler regierungs- und kirchenkritischer Künstler und Menschenrechtler, auf der anderen Seite Beton harte Nationalisten und religiöse Eiferer. Dazwischen, meist desinteressiert: die große Masse konservativer Russen. Dazu kommt das liberale Publikum der Großstädte, die Leser jener Zeitungen und Zeitschriften, in denen Lomaskos und Nikolajews Reportagen erschienen: Die meisten Liberalen lehnen die Strafverfolgung von Künstlern ebenso ab wie jede Zensur. Gleichzeitig hegen sie aber ernste Zweifel an Qualität und Motivation der verfolgten Künstler und Kuratoren. Jedermann weiß, dass clever inszenierte Medienskandale und etwas Strafverfolgung einen Künstler sehr viel schneller berühmt machen können als harte Arbeit und gute Kunst. Lomasko und Nikolajew, letzterer ist selbst ein politischer Aktionskünstler, kennen solche Zweifel - ihrem Vorwort nach zu urteilen - nicht. Und doch zeichnet ihr Buch ein komplexes und widersprüchliches Bild des Prozesses. Das liegt daran, dass alle Seiten dargestellt werden und zu Wort kommen. Betagte Mütterchen in altmodischen bestickten Kleidern fragen Lomasko:

    "Haben Sie überhaupt den Segen zum Zeichnen erhalten?"

    Schwarz gewandete Priester mit langen Bärten stoßen alttestamentarische Drohungen aus:

    "Wenn man an diese Schänder denkt kommt einem ein Zitat von Johannes Chrysostomos in den Sinn: 'Schlag ihm auf den Mund, bis ihm alle Zähne ausfallen, und segne die Rechte.'"

    Die progressiven Moskauer Künstler sind kein Stück weniger konfliktfreudig: Die Künstlergruppe Krieg, aus der zwei Jahre später Pussy Riot hervorgingen, veranstaltet eine Performance - mitten im Gerichtssaal singen die Künstler ein Lied, das vor allem aus der Textzeile "Alle Bullen sind behindert" besteht. Und Dmitrij Wrubel - weltbekannt wegen seines Breschnew-Honecker-Kusses auf der Berliner Mauer - behauptet allen Ernstes:

    "Solche Prozesse gab es auch in Nazi-Deutschland!"

    Die Vielfalt der Stimmen, die absurden Zustände vor Gericht, die unversöhnliche Radikalität auf allen Seiten - Lomasko und Nikolajew sparen nichts aus und vermitteln so eine Vorstellung davon, dass es bei diesem Prozess um mehr geht, als um ein rabiates Regime, das Kritik nicht ertragen kann. Zwischen dem modernen Moskau und seiner Kunstszene einerseits und dem großen Rest Russlands andererseits klafft heute wie vor 200 Jahren ein aus westeuropäischer Sicht fast schon unvorstellbarer Graben. Aus diesem Graben ergeben sich für Russland schwerwiegende, ungelöste Fragen, die nun absurderweise vor Gericht verhandelt werden: Was darf Kunst in einem Land, das Kunst erst seit kurzem nicht mehr zensiert? Und welche Rolle spielt die Kirche in einem Land, das noch vor 25 Jahren keine freie Religionsausübung kannte und Priester als Staatsfeinde verfolgte? Wiktor Jerofejew und Jurij Samodurow wurden im Juli 2010 zu geringen Geldstrafen verurteilt. Zwei Jahre später hat der Fall Pussy Riot gezeigt, dass die Gräben in Russland eher tiefer werden.

    Wiktoria Lomasko, Anton Nikolajew: Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung.
    Matthes & Seitz Verlag, 176 Seiten, 150 Abbildungen, 22,90 Euro
    ISBN: 978-3-882-21984-5