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Künstliche Arme und Beine
Wie Prothesen Musik machen

Neue Technik erlaubt es dem Menschen, seinen Körper zu erweitern. Auch die Zukunft der Musik wird nicht nur von dem geprägt werden, was wir spielen, sondern auch, wie wir spielen. Eine tragende Rolle könnten dabei klingende Prothesen spielen.

Von Dennis Kastrup | 09.07.2016
    Eine Designer-Beinprothese
    Eine Designer-Beinprothese (Rosemary Williams)
    Ein Gitarrensolo, wie man es von unzähligen Songs aus der Musikgeschichte kennt.
    Gespielt mit einem Plektrum, dem kleinen Helfer, mit dem die Saiten einer Gitarre gezupft werden können. Streng genommen gehört dieses ungefähr zwei Euro große Plastikdreieck damit zu den ersten Prothesen in der Popmusik: Es ersetzt, beziehungsweise verlängert, die Finger und Fingernägel des Gitarristen. Die Definition lautet:
    "Eine Prothese bezeichnet in der Medizin den Ersatz von Gliedmaßen, Organen oder Organteilen durch künstliche, funktionell ähnliche Produkte."
    Prothesen sind in der Musik keine Seltenheit
    Künstliche Arme und Beine sehen heute fast echt aus und können menschliche Bewegungen detailgenau nachahmen. Auch in der Musik sind Prothesen keine Seltenheit. Ian Hattwick forscht seit Jahren an der MC Gill Universität in Montreal an ihrer Weiterentwicklung. In dem "Input Devices and Musical Interaction Laboratory" stellt man sich die Frage: Wie können Performance-Künstler tanzen und gleichzeitig Musik dazu machen?
    "Wir hatten drei verschiedene Ideen für prothetische Instrumente auf der Bühne: Eine zweite Wirbelsäule, die man sich am Hinterkopf und der Taille befestigt. Künstliche Rippen, die man an seinem Korsett befestigen kann. Und dann haben wir den so genannten "Visor" entwickelt. Damit kann man Musik per Kopfbewegung steuern."
    Die Prothesen werden direkt an den Körper geschnallt. Jede ist drahtlos mit einem Computer verbunden. Welchen Sound der Rechner bei welcher Bewegung spielt, wird vorher festgelegt. Die künstliche Wirbelsäule steuert den Klang mit dem Grad der Dehnung. Die Rippen reagieren auf Berührung der Hände. Damit können ihre Träger auf der einen Seite Musik machen, sich auf der anderen Seite aber auch auf das theatralische Bühnenspiel konzentrieren. Diese Freiheit wäre ihnen zum Beispiel am Kontrabass sitzend nicht gegeben.
    Es gibt aber auch Prothesen, die die spielerischen Fähigkeiten von Musikern an sich verbessern sollen. Das Georgia Institute Of Technology hat im Frühjahr zum Beispiel einen dritten Arm für Schlagzeuger vorgestellt. Die Prothese wird mit Bandagen an der Schulter befestigt und schlägt im Takt des Drummers. Gil Weinberg hat an der Entwicklung mitgearbeitet. Ein wichtiges Element des künstlichen Arms ist das integrierte Mikrofon.
    "Wir benutzen etwas, das wir das "Abrufen von Musikinformation" nennen. Das sind Algorithmen, die der Musik zuhören. Sie versuchen zum Beispiel zu verstehen, wo der Rhythmus ist oder auf welchen Trommeln gerade gespielt werden. Der Arm kann das dann adaptieren. Er kann in derselben Geschwindigkeit spielen, je nachdem wie sich die Musik anhört."
    Prothesen lassen sich fürs eigene Image nutzen
    Auch eine Kamera wurde eingebaut. Sie beobachtet die Bewegungen der echten Arme und sendet die Informationen an einen Computer. Es ist ein bisschen wie bei einem Jam: Erst wird zugesehen, was die anderen machen, und dann steigt man selbst ein.
    Eine Künstlerin, die mit Prothesen arbeitet, sticht aber heraus: Viktoria Modesta. Von Geburt an hatte die Lettin wegen einer Krankheit Probleme mit ihrem linken Bein. 2007 entschied sie sich dann zur Amputation. Seitdem tritt die 29-jährige Sängerin selbstbewusst mit einer Prothese auf.
    Was für Lady Gaga ihre extravaganten Kleider sind, ist für Modesta ihre Prothese: Designer haben der künstlichen Gliedmaße ein Outfit verpasst. Für Fotos und auf der Bühne wird das Bein zum Leuchten gebracht. Manchmal ist es schlicht in schwarz gehalten und spitz am Fußende. Die Prothese wird inszeniert. Modesta nutzt sie unter anderem dafür, um mit einem Stampfen auf dem Boden einen Beat in der Drum Machine zu erzeugen. Nicht sie ist der Star, sondern ihre Prothese.
    Dieser Trend lässt sich bei den meisten Prothesen erkennen. Anfangs sollten sie nur vermeintliche Defizite ausgleichen. Mittlerweile schmücken sich Künstler mit ihnen: Prothesen lassen sich wunderbar fürs eigene Image nutzen. Außerdem kann man moderne Computer-Musik mit ihnen erzeugen. Für Popmusiker ist diese Kombination also ideal. Auch wenn Musiker wie Modesta heute noch die Ausnahme sind: In Zukunft werden Prothesen so normal sein wie heute die E-Gitarre, das Keyboard, der Sampler und so weiter.