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Künstliche Atmung

Die letzten zwanzig Seiten des Romans Künstliche Atmung von dem 1941 geborenen argentinischen Schriftsteller Ricardo Piglia sind ein Meisterstück der Literatur: Wir befinden uns Ende der 70er Jahre in einer kleinen Stadt namens Concordia in der Region Entre Rios an der Grenze zu Uruguay. Der junge Schriftsteller Emilio Renzi ist dort hingefahren, um mit seinem Onkel Marcelo Maggi zusammenzutreffen. Emilio kennt Marcelo bisher nur aus Briefen, deren Inhalt um Enrique Ossorio, den Urgroßvater der Familie kreisen, ein gedankliches Labyrinth aus Zukunftsvisionen, Auseinandersetzungen über die Diktatoren, unter denen Argentinien leiden mußte, Andeutungen auf den Zustand des Landes, als 1976 unter der Militärdiktatur Tausende von Intellektuellen spurlos verschwanden.

Martin Grzimek | 25.04.2003
    Als Emilio in Concordia ankommt, wartet er allerdings vergeblich auf seinen Onkel. Stattdessen begegnet er dem polnischen Exilphilosophen Tardewski, mit dem er lange Gespräche über die argentinische Literatur führt, bis ihm Tardewski Stationen seines Lebens erzählt. Ein Schlüsselerlebnis sind Nachforschungen des Philosophen über eine mysteriöse Zusammenkunft zwischen Franz Kafka, dem Autor der Strafkolonie und des Prozesses , und Adolf Hitler, der Autor von Mein Kampf. Die beiden seien sich im Jahre 1909 in Prag mehrmals begegnet. Und zwar im Café Arcos, das der als Maler gescheiterte Adolf Hitler aufsuchte, als er sich auf der Flucht vor der Wehrdiensterfassung in Böhmen versteckt gehalten haben soll. Franz Kafka hingegen frequentierte das Café auf Anraten seines Freundes Max Brod, um sich nicht allzu sehr der Welt zu verschließen und sich unter die intellektuellen Zirkel der Stadt zu mischen. Dort also, im Café Arcos in der Hybernergasse in Prag, soll die ungeheuerliche Begegnung stattgefunden haben, dort hätten sich Hitler und Kafka an einem Tisch gegenüber gesessen und Kafka habe Hitler zugehört. Und der Pole Tardewski kann sich genau vorstellen, worum es dabei ging:

    Um die abscheuliche Utopie einer Welt, die sich in eine immense Strafkolonie verwandelt, darüber spricht Adolf, der kleine und groteske Deserteur, mit Franz Kafka, der hört, wovon er spricht, an den Tischen des Café Arcos in Prag, Ende 1909. Und Kafka glaubt ihm. Er hält es für möglich, daß die unmöglichen und abscheulichen Pläne dieses lächerlichen und hungerleidenden kleinen Mannes in Erfüllung gehen und die Welt sich in das verwandeln könnte, was die Worte vor seinen Augen erschufen: Das Schloß des Befehls und des Hakenkreuzes, die Maschine des Bösen, die ihre Botschaft in das Fleisch der Opfer tätowiert. Hat er nicht die grauenhafte Stimme der Geschichte vernommen?

    Nachdem Tardewski seinem jungen Zuhörer mit Zitaten aus Kafkas Briefen und Tagebüchern und Nachweisen zu Hitlers Biographie deren Begegnung belegt und die möglichen Gespräche suggeriert, endet das Buch in einer noch überraschenderen Parallelführung. Denn während Kafka im März 1924 im Sterben liegt und sich nur noch über Notizen auf Zetteln mit seinem Freund Max Brod unterhalten kann, diktiert Hitler die letzten Kapitel zu seinem Manuskript Mein Kampf . Ricardo Piglia legt hier eine Textmontage vor, die trotz ihres makabren Inhalts die Qualität einer kammermusikalischen Aufführung gewinnt, die man sprechen hört und sich in der dramatischen Gestaltung als einen bedrückend berückenden Monolog auf dem Theater vorstellen kann. Wie gesagt, ein Meisterstück der Literatur wie der ganze Roman, der, obwohl er bereits vor mehr als 20 Jahren veröffentlicht wurde, nichts an Überzeugungskraft verloren hat. Er gehört allerdings nicht zu unserem gängigen Bild von lateinamerikanischer Literatur à la García Marquez oder Isabell Allende.

    Künstliche Atmung kommt ganz ohne magische Bilder und die feucht-schwüle Atmosphäre tropischer Wälder aus. Ricardo Piglia, der neben seinen Romanen und Erzählungen auch Drehbücher, Essays und Kritiken geschrieben hat und an der Universität von Princeton lehrt, ist ein profunder Kenner der europäischen Literatur und der seines Landes, dort insbesondere der labyrinthischen Gedankenwelten von Jorge Luis Borges und der Erzähltradition der Gaucho-Literatur.

    So ist der Roman "Künstliche Atmung" voller Anspielungen und Verweise auf die Literaturgeschichte Argentiniens, immer aber auch auf den politischen Hintergrund, von dem sie sich abhebt oder in den sie sich einmischt. Die Geschichte der Familie Ossorio durchzieht den Roman vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart am Ende der 70er Jahre, vergegenwärtigt die kleinen Anfänge von Emigranten, die zu Abenteurern und Großgrundbesitzern werden und schließlich zu einflussreichen, egozentrischen und machtbesessenen Politikern. Dankenswerterweise hat Sabine Giersberg, die diese sprachlich und atmosphärisch äußerst dichte Prosa hervorragend ins Deutsche übertragen hat, eine Reihe von Anmerkungen hinzugefügt, die die Orientierung in der assoziativen Erzählweise des Autors und Erwähnung von Namen und Daten erleichtern.

    Das Nachwort von Leopold Federmair, das sich vor allem auf die politische Situation Argentiniens zu Beginn der 80er Jahre bezieht und auf die Rolle, die Ricardo Piglia und der Roman
    Künstliche Atmung dort spielte, verliert sich in Gemeinplätzen über die Militärdiktatur jener Zeit, die den "Stimmen der Geschichte", die Piglia uns hören läßt, leider zu wenig gerecht werden. Aber das Nachwort weist zumindest darauf hin, daß dieser außergewöhnliche Roman in Argentinien eine bis heute andauernde Diskussion auslöste, die nun mit seiner Erstveröffentlichung in Deutschland auch hier beginnen kann.