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Küss die Hand

Sicherlich knüpfe ich an das Erbe an. Erstmal nutze ich das Werk Knigges, weil es einfach ein ganz wunderbares Werk ist, weil er einfach intelligente, kluge, gute Dinge geschrieben hat, die heute noch wunderbar anzuwenden sind. Dann nutze ich natürlich auch den Bekanntheitsgrad des Namens. Jeder kennt Knigge, ich werd mein ganzes Leben lang drauf angesprochen.

von Astrid Nettling | 03.11.2004
    Im letzten Herbst war es ein Prinz aus dem äthiopischen Kaiserhaus mit einem Buch über Manieren, in diesem Jahr ist es ein Freiherr und ein wirklicher Nachkomme des berühmten Knigge mit einem Buch über den richtigen Umgang miteinander. Anscheinend haben wir Deutschen es nötig – was sich nicht zuletzt an der steigenden Nachfrage nach Benimmbüchern jedweder Art bemerkbar macht, die seit einiger Zeit zu verzeichnen ist. Aber soll das Buch "Spielregeln" des Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Enkels überhaupt ein 'Knigge' sein, d.h. eine Benimmfibel, wie wir es mit schöner Selbstverständlichkeit ineins zu setzen pflegen?

    Das Klischee ist, Knigge ist ein Benimmpapst. Nein, ist er nicht, war er nie, Knigge ist Aufklärer, Knigge ist einfach was Besseres. Es steht in dem ganzen Buch, das Knigge geschrieben hat, nicht eine Zeile drin über Tischsitten oder wie ich mit Messer und Gabel esse, er spricht sich sogar in manchen Bereichen explizit gegen die Etikette aus. Er meinte, das ist nicht das, was sinnvoll ist, die steife Etikette, weil er immer den anderen Menschen im Vordergrund sieht: Wie gehe ich mit einem Menschen um, damit wir beide zufrieden sind?

    Stellt Moritz Freiherr Knigge über seinen Vorfahren richtig. Damit ist zugleich die Grundintention seines eigenen Buches angesprochen. Auch in den "Spielregeln" geht es nicht um den richtigen Gebrauch des Hummerbestecks oder die korrekte Kleidung bei einer Dinnerparty, sondern in Rückbesinnung auf den 'Ur-Knigge' um eine Neubesinnung auf die Grundlagen zivilen Umgangs miteinander, wie sie in der Aufklärung formuliert wurden und noch und gerade in unseren spätmodernen Zeiten Geltung beanspruchen können. Eines Umgangs, der durch Höflichkeit, Achtung und Respekt voreinander, durch Zugewandtheit und Interesse aneinander, durch Rücksicht und Toleranz gegeneinander gekennzeichnet ist. Hochtönende Begriffe sicherlich, die sich deshalb in der Praxis zu bewähren haben, woran es dann auch im Alltag zumeist hapert. Im Großen wie im Kleinen.

    An diesen vielfältigen Alltagssituationen, in denen Menschen unterschiedlichster Couleur aufeinander treffen und miteinander agieren, setzt das Buch anschaulich und lebensnah an. In dreißig Kapiteln, denen jeweils eine passende Sequenz aus dem 'Ur-Knigge' vorangestellt ist, geht Moritz Freiherr Knigge die ganze Palette heutiger Lebenslagen durch und vermittelt sinnfällig, was es heißt, "den Reibungsverlust im Umgang mit anderen Menschen so gering wie möglich zu halten, um sinnlose Konflikte zu vermeiden und alle denkbaren gesellschaftlichen Situationen souverän zu meistern". Sei es im Supermarkt, auf Ämtern oder in Chefetagen, sei es unter Freunden, Kollegen oder gegenüber Fremden. Als Klammer für das Ganze fungiert der Begriff der Lebensklugheit. "Sapere aude!" – "Wage, klug zu sein!" dieses Horaz-Zitat hatte bereits Immanuel Kant zum Wahlspruch der Aufklärung erkoren. An diesen aufgeklärten Geist knüpfte sowohl der 'alte' Knigge mit seinem Buch von 1788 an wie auch der 'junge' Knigge heute.

    Denn Lebensklugheit kommt nun einmal ohne Klugheit, das heißt ohne die Anstrengung, "sich seines eigenen Verstandes zu bedienen", nicht aus. Sei es für eine unabhängige Einstellung zu Zeitgeist, Trends und Moden, sei es für wohldurchdachte und gekonnte Umgangsformen im Spielraum privaten wie gesellschaftlichen Miteinanders, die neben Höflichkeit und Anstand auch Abstand vor überzogenen Vorstellungen und Ansprüchen aneinander zu wahren wissen. Dass Toleranz und die Kunst, sich einzumischen und Nein zu sagen, keinen Widerspruch bilden, dass wohlverstandenes Eigeninteresse keineswegs Egoismus und Rücksichtslosigkeit bedeuten und dass Unterschiedlichkeit in Zeiten nicht nur medialer Gleichmacherei eine Herausforderung und Bewährungsprobe für unser Selbstverständnis wie unsere Klugheit darstellt – auch das gehört dazu. Direkt und selbstbewusst im Ton, frisch und schnörkellos im Stil, mit wachem Blick auf unsere heutige Welt und Wirklichkeit und offener Sympathie für den Nebenmenschen sind die "Spielregeln, wie wir miteinander umgehen sollten" des heutigen Freiherrn und Unternehmensberaters Knigge somit alles andere als ein steriles Benimmbuch, alles andere als ein Regelkanon für konformes Benehmen. Schon allein deshalb nicht, weil sie sich wie schon das Buch seines Vorfahren an einen mündigen und selberdenkenden Leser wenden – allen Pseudo-'Knigges' zum Trotz.

    Da dieses Buch ja erfolgreich war, und es damals so etwas wie einen Urheberschutz noch nicht gegeben hat, haben andere Leute angefangen, aus diesem aufklärerischen Werk einen Regelleitfaden zu machen, und ganz feste Regeln reinzuschreiben, weil die Leute nicht fähig waren, das sind sie heute immer noch nicht, eben differenziert zu denken, sondern sie wollen immer nur platte Regeln haben. Und das klappt nicht, Patentrezepte funktionieren nicht bei der Unterschiedlichkeit der Menschen.

    Moritz Freiherr Knigge
    Spielregeln. Wie wir miteinander umgehen sollten
    Gustav Lübbe Verlag, 365 S., EUR 19,90