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Kultur oder Karneval

1972 beschloss die Generalkonferenz der UNESCO das "Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturgutes der Welt. Die Übereinkunft bezieht sich auf Kulturgut, das von außergewöhnlichem universellen Wert ist. Mit einem neuen Abkommen sollen jetzt auch immaterielle Werke wie etwa Tanz- und Theaterrituale oder traditionelle Formen von Musik geschützt werden. Darf nach dem Kölner Dom bald auch der Kölner Karneval auf Unesco-Schutz hoffen?

Von Burkhard Müller-Ullrich | 20.04.2006
    Wir leben in den Ruinen der Vergangenheit. Kultur ist, was von Kultur noch übrig ist. Eine ungeheure Musealisierung erfasst jeden Bereich. Im Abendlicht der Spätmoderne erscheint nichts Neues mehr. Kunst besteht deshalb vor allem im Konservieren von Kunst. Vor diesem Hintergrund sind all die eifrigen Debatten um einen kulturellen Kanon zu verstehen, diese nervöse Sammeltätigkeit in einer Branche, die sonst immer im Überfluss schwelgte. Jetzt schlägt die Stunde der Kultur-Controller; sie führen Inventarlisten und bilden Kommissionen, die beschließen, was zum Welterbe gehört und was nicht.

    Das Führen solcher Listen hat eine globale Bürokratie hervorgebracht, deren Zentralverwaltung in einem weitläufigen Gebäude an der Place Fontenoy in Paris ansässig ist. Hier, in den Schreibstuben und Sitzungszimmern der Unesco werden Versammlungen auf allen Erdteilen anberaumt, Reisen für Gremienmitglieder gebucht, Konventionen entworfen und Deklarationen formuliert. Hier, auf diesen Fluren wurde auch die Idee geboren, nicht nur dingliche Hervorbringungen als Kulturerbe zu katalogisieren, sondern auch immaterielle Werke wie Tanz- und Theaterrituale, traditionelle Formen von Musik oder Phänomene des Brauchtums. Also nicht nur Kölner Dom, sondern auch Kölner Karneval.

    Das Beispiel ist allerdings nicht ganz korrekt. Denn seitdem die Unesco vor drei Jahren die "Internationale Konvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes" verabschiedet hat, bekamen weltweit 47 Veranstaltungen die höheren Weihen als amtlich geprüfte Exempel des Menschheitserbes, darunter genau drei westeuropäische. Bei deren Aufzählung muss man sich festhalten, so abstrus erscheint das Ergebnis. Demnach sind die wichtigsten Manifestationen des immateriellen Kulturerbes in unseren geographischen Sphären: der Karneval von Binche in Belgien, das sizilianische Marionettentheater sowie die Mysterienspiele im spanischen Elche.

    So erklärt sich jedenfalls, weshalb die westlichen Kulturnationen keine große Eile zeigten, die neue Unesco-Konvention zu ratifizieren. Zu den ersten dreißig Unterzeichnern - so viele waren nötig, um die Konvention überhaupt in Kraft treten zu lassen - zählen China, Indien und Pakistan; Gabon, Mali und Oman; Lettland, Rumänien und Peru, aber außer den baltischen Staaten kein einziges EU-Mitglied.

    In der Tat steckt nämlich hinter der ganzen Unternehmung ein durchaus antiwestlicher Affekt. Die Gefährdung authentischer Kulturtraditionen, vor der die Konvention schützen soll, wird nämlich meist der Globalisierung zugeschrieben, und die geht bekanntlich von den USA aus. Gewiss gibt es eine kulturzerstörende Nivellierung der Lebenswelten durch zivilisatorischen Fortschritt. Auch in chinesischen Großstädten möchte die Jugend mittlerweile nach New Yorker Standard leben. Aber wenn diese Jugend sich dadurch von der überlieferten Guqin-Musik oder der Kunqu-Oper (zwei Beispiele von der Unesco-Liste) abwendet, was kann die Unesco mit und ohne Konvention dagegen tun? Soll sie die irrende Jugend im Reich der Mitte zwingen, Guqin-Musik zu machen und Kunqu-Opern zu besuchen? Soll die Weltkulturorganisation den Aufführungsbetrieb in China vielleicht gleich selber übernehmen? Oder soll sie die chinesische Regierung zwingen, die irrende Jugend kulturell an die Kandare zu nehmen?

    In dem ordnungspolitischen Herrschaftsgestus dieser von vielen guten Absichten geleiteten Konvention offenbart sich wieder einmal ein seltsames Kulturverständnis. Denn Kultur ist keine Veranstaltung des Staates; Kultur ist auch kein öffentlicher Dienst. Kultur ist nicht etwas, das irgendeine Stelle zu liefern und dessen Lieferung eine andere Stelle zu überwachen hätte. Kultur ist die gesamte geistige Befindlichkeit eines Volks oder einer Gesellschaft. Wenn sie sich wandelt, dann kann keine Behörde auf der Welt dem Wandel Einhalt gebieten.

    Ja, es ist in der Menschheitsgeschichte schon des Öfteren vorgekommen, dass sehr berühmte und authentische und deshalb nach Unesco-Maßstäben sicherlich schützenswerte kulturelle Praktiken verschwunden sind: dazu zählen das Kreuzigen bei den Römern, die mittelalterliche Alchemie, gregorianische Choräle und das Duellieren. Hätte es die Konvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes schon immer gegeben, dann hätte die Unesco Sonderprogramme zur Aufrechterhaltung all dieser Praktiken verlangt. Und wenn die erfolglos geblieben wären, dann hätte die Unesco das getan, was sie auch sonst mit Kulturerbe tut, das ihren Schutzansprüchen nicht genügt: sie hätte die Sachen von der Schutzliste gestrichen.