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Kulturgeschichte
"Aquarien sind Vorläufer des Fernsehens"

Seerosen neben Elritzen, Kampffische an der Seite von Korallen: Manche Aquarien gleichen Kunstwerken. Sie seien Gemälde ohne Rahmen, sagte Kunstwissenschaftler Jörg Scheller im Dlf, der die Kulturgeschichte der Wasserbecken untersucht hat. Mehr noch: Aquarien seien moderne Hausaltäre.

Jörg Scheller im Corsogespräch mit Susanne Luerweg | 11.10.2017
    Wie in der Luft hängen die Fische auf den Bildern von Tania und David Willen in "Appetite for the magnificent"
    "Aquarien sind tatsächlich Vorläufer des Fernsehens": Fische auf den Bildern von Tania und David Willen im Buch "Appetite for the magnificent" (Tania Willen/ David Willen/ Edititon Frey)
    Susanne Luerweg: Seesterne, somnambule Fische, superkleine Schatztruhen auf dem Grund - die Welt in Aquarien ist eine andere, erschaffen von Menschen, kunstvoll und künstlich zugleich. Oder um mit dem Kunstwissenschaftler Jörg Scheller zu sprechen: "Aquarien sind wie eine gottgefällige Peepshow mit mineralisch-animalisch-vegetabilen Darstellern." Und sie sind Thema seines Buches: "Appetite for the magnificent, das er zusammen mit wunderbaren Fotografien von Tania und David Willen herausgegeben hat.
    Herr Scheller, was genau ist gottgefällig am Aquarium, man betet Gottes Geschöpfe in einem kleinen Glaskasten an, den man selber geschaffen hat oder was ist das Faszinierende?
    Jörg Scheller: Ja, das ist sozusagen die vergessene Geschichte der Aquaristik. Im 19. Jahrhundert waren Aquarien eigentlich mal religiös gemeint gewesen. Der Popularisierer der Aquaristik um 1850, Philip Henry Gosse, der Künstler, Wissenschaftler, aber vor allem auch ein apokalyptischer Freikirchler war, der sah in Aquarien eben so eine Art Hausaltar, über den man Gottes Design-Genie kontemplieren konnte. Durch das Aquarium bekam man einen Eindruck von Gottes Größe, gerade auch dahingehend, weil man es ja normalerweise nicht sehen konnte, weil es unter dem Meeresspiegel war und alles, was darunter war, das war Menschen lange Zeit nicht zugänglich.
    "Aquarien verwandeln Natur in Kunst und Kultur"
    Luerweg: Aber dennoch ist es ja schon so, das faszinierende an Fischen erschließt sich einem nicht so auf den ersten Blick, andere Tiere kann man streicheln, kann man anfassen, man hat so das Gefühl, die geben zumindest eine Art von Lauten von sich. Fische sind stumm und anfassen mag man sie auch nicht.
    Scheller: Ganz genau, das hat mich als Kunstwissenschaftler und Tanja und David Willen als Fotografinnen so interessiert. Aquarien sind eigentlich zunächst einmal Bildapparaturen. Es geht gar nicht so sehr um den Fisch oder die Pflanze als lebendige Wesen, sondern es geht um diesen bildhaften Charakter, den wir haben, wenn wir durch die Aquarienscheibe blicken. Also Aquarien verwandeln Natur in Form von Kunst oder Kultur. Es geht also nicht mehr darum, die Tiere zu streicheln oder mit ihnen zu interagieren, sondern sie als Bilder wahrzunehmen und das ist der Grund, warum Aquarien eigentlich eine kunstwissenschaftliche, vielleicht auch medienwissenschaftliche Auseinandersetzung geradezu verlangen.
    Wir haben noch länger mit Jörg Scheller gesprochen - hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
    Luerweg: Ist ja ein bisschen wie Fernsehen, um mit Herrn McLuhan zu sprechen, oder - kann man reingucken und wird unterhalten.
    Scheller: Ganz genau. Aquarien sind tatsächlich Vorläufer des Fernsehens. Sie brachten schon im 19. Jahrhundert das nahe, was eigentlich fern war. Nämlich die Welt der Meere, die man eigentlich nicht sehen konnte. Und sie nahmen auch in der Wohnung - das tun bis heute - in gewisser Weise den Platz von Fernsehern ein. Zum Beispiel im Wohnzimmer auf einem Tischchen stehend, da schaut man dann abends rein und sieht Dinge, die da eigentlich gar nicht sein sollten und gar nicht sein könnten.
    Luerweg: Beispielsweise?
    Scheller: Seeanemonen, Seeigel, Krebse, Fische, seltene Pflanzen. Das sind ja normalerweise Zeitgenossen, mit denen man sich nicht das Wohnzimmer teilt. Also ein Hund, eine Katze, ein Meerschweinchen - das sind immerhin Tiere, die ungefähr den gleichen Raum noch bevölkern, aber dass Menschen ihren Feierabend Seit an Seit mit Fischen verbringen, also mit einem Kampffisch auf der Couch sitzen, das sind doch so originelle Einfälle, die eigentlich nur die Moderne mit sich gebracht hat.
    Eine kleine, menschengemachte Welt
    Luerweg: Und ist das dann tatsächlich noch Kunst, also die heimischen Aquarien, die China-Restaurantbesitzer sich in die Mitte ihres Raumes stellen?
    Scheller: Ich würde auf alle Fälle sagen, dass Aquarien kunstähnliche Gegenstände sind, wenngleich sie natürlich nicht Teil des Kunstbetriebs sind, aber es sind Objekte, die ästhetisch gestaltet sind, wo sich Menschen gleichsam als Kuratoren betätigen - also eine Auswahl treffen, welche Lebewesen, welche Steine, was für eine Art Kies da reinkommt. Man richtet da eine kleine Welt her, wie man vielleicht eine Installation aufbauen würde in einem Museum. Aquarien sind so eine Art Gruppendarstellung an der Grenze zwischen Kultur und Natur.
    Luerweg: Und zum Schluss hat man Gemälde nur ohne Rahmen.
    Scheller: Ja, ganz genau. So haben Tanja und David Willen auch die Aquarien in unserem Buch fotografiert. Ganz radikal auf die Frontseite konzentriert, dass eben dieser bildhafte Charakter dieser Sammelbecken zutage tritt.
    Luerweg: Und weil die Aquarien kunstvoll und künstlich sind, sind sie auch so wunderbar in der Popkultur angekommen, wenn man jetzt an "Findet Nemo" denkt oder "Arielle, die Meerjungfrau", also Disney hat da auch nicht lange auf sich warten lassen oder - für die Älteren unter uns - "Ein Fisch namens Wanda". Ist das auch alles im Zuge der Begeisterung für Aquaristik zu sehen?
    Scheller: Ja, ich glaube schon. Diese Begeisterung für Aquarien, die wir eben seit den 1850er Jahren ungefähr beobachten können, die rührt nicht zuletzt daher, dass Aquarien an so viele Dimensionen gleichzeitig appellieren, man kann sich da als Hobbywissenschaftler betätigen, aber auch als professioneller Fischezüchter, man kann die als Ästhet wahrnehmen - also sich da eben diese kleinen Kunstbecken einrichten - oder man kann so weit gehen wie Philip Henri Gosse das im 19. Jahrhundert tat und sie als Hausaltäre inszenieren. Und an je mehr Ebenen so ein Objekt appelliert, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es früher oder später in der Popkultur aufgeht, weil sich eben jeder den Aspekt rausnehmen kann, den ihn oder sie gerade interessiert.
    Luerweg: Der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller, zusammen mit Tania und David Willen hat er das Buch "Appetite for the Magnificent" herausgegeben und das ist in der Edition Patrick Frey erschienen.
    Jörg Scheller, Tania Willen, David Willen: "Appetite for the Magnificent"
    Edititon Patrick Frey, Zürich 2017, 128 Seiten, 43 Euro