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Kulturgeschichte des Wahlkampfs

Im Wahlkampf werben Politiker nach allen Regeln der Kunst um Stimmen. Erlaubt ist, was dem Wähler gefällt. Dabei kommen Politiker ihren Wählern näher, schauen ihnen bisweilen aufs Maul. Und doch zeigt eine Demokratie gerade in diesen Zeiten, was sie kann. Das jedenfalls sagt Thomas Mergel in seinem neuen Buch "Propaganda nach Hitler".

Von Thomas Moser | 06.09.2010
    SPD-Kundgebung vor Bundestagswahl 1972, Willy Brandt:
    " ... und wir können, wenn wir zusammenstehen, noch ´ne Menge miteinander erreichen."

    Abschlusskundgebung der SPD vor den Bundestagswahlen 1972. Willy Brandt, der amtierende Bundeskanzler, wirbt um Wähler und die Zustimmung zu seiner Ostpolitik. Mit Erfolg - der CDU-Gegenkandidat Rainer Barzel verliert die Wahl. – "Wahlkämpfe manifestieren Konflikte in der Demokratie", schreibt Thomas Mergel, Historiker an der Berliner Humboldt-Universität. Wahlkämpfe seien aber auch:

    "Mehr als nur die Präsentation politischer Programme, sondern mitunter sinnliche und performative Ereignisse mit Bildern, Tönen und Körpern. Hier wird Politik zur Erfahrung, eine besondere Gelegenheit für die Demokratie."

    Jede Menge Gründe also, die bundesdeutschen Wahlkämpfe zu untersuchen, von 1949 bis 1990, als die alte Bundesrepublik mit der Wiedervereinigung zu Ende ging. Den Forscher Mergel interessierte dabei vor allem die Frage: Wie wird Demokratie gelernt? Er präsentiert Wahlkampfgeschichte als eine Kulturgeschichte, ein Blickwinkel, der in der Forschung bisher wenig Beachtung fand.

    Wahlkundgebung der CDU 1976, Helmut Kohl:
    "Es geht um die Bundesrepublik am 3. Oktober ... es geht um die Bundestagswahl aber es geht immer um unser deutsches Vaterland!"

    Kundgebungen, Podiumsdiskussionen, Fernseh- und Radiospots, Plakate, Flugblätter, Infostände, Slogans, Symbole – im Kern der gesammelten Wahlkampf-Folklore machte Mergel das "Wort" aus, Textbotschaften. Und die wiederum vermittelten sich durch Begriffe. Der erfolgreichste sei der der "Sicherheit", so Mergel. Ein Schlüsselbegriff für die Bundesrepublik, der aus den historischen Erfahrungen der Deutschen mit zwei Kriegen, Nationalsozialismus und dem Ost-West-Konflikt rühre. Er erfuhr Abwandlungen, wie im Slogan "Keine Experimente!" der Adenauer-CDU im Wahlkampf 1957 - 1990, bei den ersten freien Wahlen in der Umbruchs-DDR übrigens neu verwendet. Und er erfuhr Bedeutungserweiterungen, von militärischer Sicherheit hin zu innerer oder sozialer Sicherheit.

    Spot/FDP/Bundestagswahl 1972
    "Nur eine starke FDP bringt einer neuen Regierung Brandt-Schäden – Kommen Sie zu uns – machen Sie uns stark – Geben Sie Vorfahrt für Vernunft."

    Wahlkämpfe sind Indikatoren für gesellschaftliche Veränderungen. Dem Bewegungsjahr "1968" folgten hoch politisierte und polarisierte Bundestagswahlen. Obwohl sich die Bundesrepublik stets durch einen niedrigen Level an Gewalt auszeichnete, gab es im Bundestagswahlkampf 1969 etwa 300 Verletzte. Bei einer NPD-Veranstaltung wurden zwei Gegendemonstranten sogar durch einen Schuss schwer verletzt. Die Konfliktlinien hatten sich verschoben. Nicht mehr die Differenzen zwischen den Parteien beherrschten Politik und Wahlkämpfe, sondern die zwischen etablierter Politik und den neuen sozialen Bewegungen: Umweltbewegung, Friedensbewegung, Hausbesetzerbewegung. Die angestammte Politik erlebte eine Legitimationskrise und rückte zusammen, Störungen von Wahlveranstaltungen gehörten zu den Handlungsoptionen der außerparlamentarischen Politakteure. Thomas Mergel sieht in diesen Entwicklungen weniger einen Verfall der politischen Kultur, als:

    "Eine Konsequenz der Demokratisierung und ihrer Tochter, der Politisierung, die die Bürger immer mehr selber zu Akteuren im politischen Kampf gemacht hatten."

    Die Polarisierung der Wahlkämpfe erreichte 1980 ihren Höhepunkt, als Franz Josef Strauß für die Unionsparteien kandidierte. Dieser Wahlkampf führte in der Sicht Mergels allerdings in "ungekannte Niederungen" der deutschen Politik.

    CDU-Kundgebung 1976, Helmut Kohl:
    "Dass es wenig Länder gibt, die die Freiheit so garantieren, dass selbst in einer Kundgebung wie dieser ... kommunistischer Pöbel sein Unwesen treiben kann!"

    Wahlkämpfe sind, im Gegensatz zu Parlamenten, regellose Veranstaltungen. Einzige Sanktionsmöglichkeit ist das Wählerverhalten. Die Parteien verständigten sich somit selbst über den Umgang miteinander. Im Regeldiskurs, so Mergel:

    " ... wird immer auch die moralische Ordnung debattiert. Der Regeldiskurs ist ein Stellvertreterdiskurs über das, was eine gute Gesellschaft und deshalb auch eine gute Politik ausmacht. Der Wahlkampf ist so eine Verhandlung darüber, was Demokraten dürfen und was nicht."

    Wahlspot SPD/Brandt
    "Die SPD braucht Ihre beiden Stimmen, braucht sie für Willy Brandt."

    Brandt: "Man hat die Wahl am 19. November die wichtigste seit der Gründung der Bundesrepublik genannt, sie ist es."
    Sprecher: "Am 19. November wählt Dieter Hildebrandt."
    O-Ton Hildebrandt: "... die SPD und damit Willy Brandt, wen denn sonst."

    Die immer wieder reklamierte "Amerikanisierung" bundesdeutscher Politik und Wahlkämpfe zum Beispiel durch Personalisierung oder Medialisierung sieht Mergel differenziert. Personalisierung habe es in der Bundesrepublik immer gegeben. Schon in den 50er-Jahren waren die Wahlkämpfe der CDU auf die Person von Konrad Adenauer zugeschnitten, und in den 60er-Jahren die der SPD auf Willy Brandt. Zwar seien durchaus Wahlkampfmittel und –techniken aus den USA übernommen worden, funktioniert hätten sie aber nur, wenn sie "verdeutscht" wurden. Das hieß vor allem: sie mussten sich der Dominanz der Parteien unterordnen. Ein Kanzlerkandidat wird von seiner Partei ausgesucht. Ronald Reagan, so der Historiker, hätte in Deutschland keine Wahl gewonnen.

    TV-Duell Stoiber-Schröder/ Bundestagswahl 2002
    Stoiber:
    "Den Menschen geht es heute, vier Jahre nach Ihrer Amtszeit schlechter, als vor vier Jahren."

    Schröder:
    "Das ist ziemlicher Unsinn. Die realen Löhne sind in der Zeit, die Sie zu verantworten hatten, gesunken, in der Zeit, die wir zu verantworten haben sind sie um sieben Prozent gestiegen ... . "

    Allerdings hat sich seit 2002 ein Element amerikanischer Wahlkampfsitten auch in Deutschland etabliert: das TV-Duell der Kanzlerkandidaten der beiden großen Parteien SPD und Union. Jahrzehntelang, bis zur Wahl 1987, gab es die sogenannte Elefantenrunde mit den Spitzenkandidaten der im Parlament vertretenen Parteien. Diese Runde hat Helmut Kohl, mit dem Nimbus des geschichtsträchtigen Kanzlers der Einheit im Rücken, gesprengt, indem er nicht mehr daran teilnahm. Eine von oben erwirkte, nachhaltige Veränderung der deutschen Wahlkampfkultur. Thomas Mergel hat für seine Arbeit in zahlreichen Archiven recherchiert. Vor allem in denen von SPD und CDU ist er auf eine Fülle von Quellen und Materialien gestoßen: von Plakatsammlungen, über Korrespondenzen mit Wählern bis zu Protokollen von Parteivorstandssitzungen. Eine Fleiß-, aber mehr noch eine Dokumentationsarbeit, "politische Archäologie" könnte man sagen.

    Spot/Grüne/ Bundestagswahl 2002
    "Grün wirkt, mit Joschka Fischer: 'Deshalb brauchen wir Grüne Ihre Stimme.' Joschka statt Stoiber und Westerwelle. Nur mit Ihrer Zweitstimme für Bündnis 90/Die Grünen. Grün wirkt, Zweitstimme ist Joschka-Stimme."

    Wahlkämpfe, so das Urteil des Wahlkampfforschers Thomas Mergel:

    "... sind Zeiten, in denen Politiker und Bürger besonders eng zusammenrücken. Dabei wird das Selbstverständnis einer politischen Gesellschaft aufgerufen. Die Suche nach einem Demokratiestil in der Bundesrepublik lebte von der Abgrenzung zu dem, was man mit der Chiffre 'Hitler' verband."

    "Propaganda nach Hitler", der Titel des Buches, trifft seinen Inhalt aber nur zum Teil. Propaganda ist nur ein Element der Wahlkampf-Maschinerie, und Hitler bei Weitem nicht das einzige Problem, an dem sich deutsche Politiker abarbeiteten. Die DDR war ähnlich präsent. Das Buch ist in seiner Detailfülle eher für die Wissenschaftsgemeinde gemacht, da sollte so ein Titel dem Verkaufsinteresse wohl etwas nachhelfen.

    "Propaganda nach Hitler: Eine Kulturgeschichte des Wahlkampfs in der Bundesrepublik 1949–1990". Thomas Mergel hat das Buch geschrieben, es ist im Wallstein Verlag erschienen, hat 415 Seiten und kostet 29,90 Euro. Unser Rezensent war Thomas Moser.