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Kulturgeschichte mit Verve

Von den Großtaten deutscher Dichter, Denker und anderer Vielwisser erzählt der britische Kulturhistoriker Peter Watson in seinem Buch "Der Deutsche Genius". Mit glühender Leidenschaft will der Autor seine Leser für die Kultur- und Geistesgeschichte zwischen Nordsee und Alpen anstecken.

Von Nils Beintker | 27.06.2011
    Die wohl nachhaltigste deutsche Revolution begann im Herbst 1810, in einem alten Palais der Hohenzollern in Berlin. Eine neue Lehranstalt fand dort, "Unter den Linden", ihr Domizil: die Berliner Reformuniversität, ins Leben gerufen nach einer Denkschrift des Bildungsreformers und kurzzeitig amtierenden preußischen Kultusministers Wilhelm von Humboldt. Die Gründung der Hochschule markierte einen radikalen Bruch mit allen bisherigen Formen der universitären Wissensvermittlung. Bildung sollte nicht mehr zweckgebunden und vornehmlich auf ökonomischen Nutzen hin ausgerichtet sein. Vielmehr wurde - durch von Humboldt wie auch durch einige der ersten Professoren der neuen Universität - ein anderer, umfassender Bildungsbegriff propagiert. Seine wichtigsten Grundzüge: die Idee freier, also staatlich unabhängiger Forschung und Lehre, eine enge Zusammenarbeit von Lehrenden und Lernenden, die Grenzenlosigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis. Für den britischen Kulturhistoriker und Deutschlandbewunderer Peter Watson ist dieser Paradigmenwechsel entscheidend für die deutsche Geistesgeschichte der Moderne gewesen.

    "Die wichtigste, die entscheidende Errungenschaft deutscher Universitäten am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts war, dass die Forschung institutionalisiert wurde, insbesondere an der Berliner Universität, an der sich andere Universitäten dann ein Beispiel nahmen. Vor allem das Konzept des modernen Doktorats ist eine deutsche Idee - nach dem Marxismus und dem Freudianismus wahrscheinlich sogar die einflussreichste neuzeitliche Innovation aus deutschsprachigen Ländern."

    Das aber ist aus Peter Watsons Sicht nur wenigen Menschen bekannt, vor allem im englischsprachigen Raum. Wie so viele andere Aspekte der deutschen Geschichte. Sein dickes Buch über den deutschen Genius rechtfertigt der Brite dann auch mit der recht allgemeinen These, die deutsche Geschichte werde gerade in seiner Heimat immer wieder nur auf die Jahre von 1933 bis 1945 reduziert. Was alles davor geschah - eine gut zweihundertjährige Blütezeit von Kunst, Wissenschaft und Kultur -, wisse dagegen kaum jemand. Diese Sorge mag vielleicht mit Blick auf die englische Yellow Press wie auch auf die Lehrpläne im Geschichtsunterricht an den Schulen des Königreiches berechtigt sein. Dennoch wird man vielen Untertanen der Queen durchaus profundere Kenntnisse der deutschen Kultur unterstellen dürfen als Peter Watson behauptet. Dafür schreibt er umso mehr mit Verve, will seine Leser - also nun auch die der deutschen Übersetzung seines Buches - mit seiner spürbar glühenden Leidenschaft für die Kultur- und Geistesgeschichte zwischen Nordsee und Alpen anstecken. Sein breiter und vor allem auf die reiche englischsprachige Forschungsliteratur gegründeter Exkurs beginnt lange vor der Einführung des wissenschaftlichen Seminars und des Doktorats: beim Leipziger Thomaskantor Johann Sebastian Bach und beim halleschen Pietisten August Hermann Francke, dem Gründer einer der bedeutendsten Schulstädte im Zeitalter des Barock. Es folgen viele andere große und bekannte Namen: Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Kant, schließlich Hegel, einer der bedeutendsten Professoren an der jungen Berliner Universität. Von ihm führt der Weg direkt zu den sogenannten Jung-Hegelianern, zu Ludwig Feuerbach und schließlich zu den Verfassern des Kommunistischen Manifestes: Marx und Engels. Beide werden von Peter Watson kritisch gewürdigt, nicht per se in Grund und Boden verdammt. Marx etwa war demnach nicht nur ein Radikalisierer und allzu großer Vereinfacher. Er war gleichzeitig ein aufmerksamer Beobachter der sozialen Welt und einer ihrer wichtigsten Theoretiker.

    "Marx der Mensch war ein großer Kämpfer, der sich unbeirrt für eine bessere Welt einsetzte. Vergessen wir einmal den Marxismus: Der Mensch Marx betonte - wie schon Francke, Herder und Hegel vor ihm -, dass das Ethos und die Werte einer Gesellschaft von ihren Mitgliedern selbst erschaffen werden. Auch das ist eine deutsche Ideologie, der wir heute noch anhängen, trotz allem, was seit ihrer Formulierung geschah."

    Aber auch ohne den Marxismus ist die deutsche Geistes- und Kulturgeschichte insbesondere im 19. Jahrhundert spannend. Der geisteswissenschaftlichen Revolution folgte, um einige Jahrzehnte versetzt, die von Naturwissenschaft und Technik. Peter Watson macht sie an vielen deutschen Entdeckungen und Erfindungen fest: Theodor Schwann und Matthias Jacob Schleiden entdeckten die Zelle, der Chemiker August Kekulé, unter dem Einfluss Justus von Liebigs, den Benzolring. Und so viele Namen und Innovationen mehr. Wer Peter Watsons vielen, immer wieder kenntnisreich geschriebenen Kapiteln folgt, kann verstehen, warum die deutschen Universitäten wie auch später die Fachhochschulen im 19. Jahrhundert zu den weltweit führenden Bildungseinrichtungen gehört haben. Schätzungsweise neun- bis zehntausend Amerikaner haben zwischen 1815 und 1914 in Deutschland studiert, unter ihnen etliche Männer, die später an der Spitze der renommiertesten amerikanischen Universitäten standen - so etwa der Chemiker Charles Eliot, der 1869 zum Präsidenten von Harvard gewählt wurde. Die grundlegend reformierten deutschen Universitäten waren - völlig anders als heute - Graduiertenschulen für amerikanische Studenten und Absolventen. Gleichzeitig aber auch - und das ist die Kehrseite - der Ort, an dem weniger vorbildliche Gedankenwelten entwickelt worden sind: das theoretische Fundament für Nationalismus, Antisemitismus und weltfremden Konservatismus. Der Historiker und Judenhasser Heinrich von Treitschke etwa war auch Professor an der Berliner Universität und verkündete dort vom Katheder herab seine Schmähungen. In Jena machte der Zoologe Ernst Haeckel Darwins Theorie vom evolutionären Überlebenskampf in einer sozialen Deutung populär. Peter Watson glaubt, dass eine besondere deutsche Innerlichkeit zum Nährboden für den immer einflussreicheren Kulturpessimismus und damit auch für die fatale Geschichte des 20. Jahrhunderts verantwortlich gewesen ist. Vor allem das Bildungsbürgertum bereitete nach dieser Lesart mit einer latenten Angst vor wissenschaftlicher und technologischer Neuerung den mentalen Nährboden für die Sehnsucht nach einer großen Erlösung.

    "Erstens verlor das Bildungsbürgertum an Ansehen und Einfluss und musste feststellen, dass seine traditionellen geistigen Interessen in den neueren urbanen Massenräumen herabgewürdigt und marginalisiert wurden; dann erlebte es auch noch, dass seine Kapitalinvestitionen in der großen Inflation einfach weggeschwemmt wurden. Zweitens sah sich diese traditionell geschulte Bildungsschicht vor allem in Deutschland zunehmend durch eine wissenschaftlich gebildete Mittelschicht entfremdet und ersetzt."

    Das klingt, als sei vor allem die Angst der alten Bildungs- und Geisteselite ausschlaggebend für den Siegeszug der Nazis gewesen. Die historische Wirklichkeit war freilich sehr viel komplexer, wie jüngere und fundierte sozialhistorische Analysen - etwa die Deutsche Gesellschaftsgeschichte von Hans-Ulrich Wehler - zeigen. Zudem ist der Hinweis auf die deutsche Innerlichkeit und ihre Folgen nicht wirklich neu. Schon in vielen zeitkritischen Essays von Thomas Mann findet sich dieser Gedanke, ebenso in den großen geistes- und ideengeschichtlichen Analysen von Fritz Stern und anderen. Zudem glaubt man immer wieder bei der Lektüre von Peter Watsons Buch, all die fröhliche Wissenschaft und Kultur sei völlig losgekoppelt von Politik und Gesellschaft in Deutschland. Der möglichst geniale Geist ist alles, nach 400 Seiten wird etwa das erste Mal tiefer gehend über seine möglichen politischen Schattenseiten nachgedacht. Das aber ist eine sehr verengende Sicht auf die Geschichte. Kultur und Wissenschaft fanden weiß Gott nicht im luftleeren Raum statt, sondern waren und sind immer Resultat von sozialen wie politischen Prozessen. Hinzu kommen etliche sachliche Fehler, die die Beschäftigung mit dem deutschen Genius nicht wirklich zum freudigen Leseereignis machen. Dass Bach zum Beispiel eine Messe in b-Moll geschrieben haben soll, wäre eine völlig neue Erkenntnis. Ebenso, dass der Zugang zu höherer Bildung in Preußen für jedermann offen war, Johann Gottfried Herder als Superintendent in Weimar ein glücklicher Mensch war, Hölderlin zu den Romantikern zählte oder Hermann Kants Roman "Die Aula" auf eine Stufe mit Ulrich Plenzdorfs "Neuen Leiden des jungen W." oder Christa Wolfs "Kassandra" gestellt werden sollte. Und viele andere kühne Behauptungen mehr. Ein vom Verlag zum Standardwerk gekürtes Loblied auf die gründlichen Deutschen hätte sehr viel mehr Gründlichkeit verdient.


    Peter Watson: Der Deutsche Genius. Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI.
    C. Bertelsmann Verlag
    1024 Seiten, 49,99 Euro
    ISBN: 978-3-570-01085-3