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Kulturschock in der Heimat

In seinem jüngsten Roman "Zurückkehren" erzählt Tahar Ben Jelloun von einem alten Marokkaner, der nach Jahrzehnten in Frankreich die alte Heimat zurückkehrt und zerrissen ist von einem Leben zwischen zwei Kulturen.

Von Kersten Knipp | 17.09.2010
    Alt ist er geworden, während all der Zeit im Ausland. 40 Jahre hat er in Frankreich verbracht, jetzt hat er das Berufsleben hinter sich gebracht und steht vor dem letzten Lebensabschnitt. Zeit, zurückzuschauen – wenn er nur die Kraft dazu hätte. Denn es braucht Kraft, die Summe dieses Lebens zu ziehen. Denn so richtig hat es nichts werden wollen mit diesem Leben zwischen zwei Kulturen. Natürlich: Mohammed, so der Namen des Migranten, ist ein frommer Muslim. Er hat eine Familie gegründet und ist die ganzen Jahre über verlässlich seiner Arbeit nachgegangen. Zu Hause geblieben ist er nur bei akuter Grippe, auch sonst hat er nie Anlass zu Klagen gegeben. Und doch, ein Franzose ist er nie geworden. Er hat es allerdings auch nicht werden wollen, oder besser: Er war sich klar, dass er nie einer werden würde. Die fremde Herkunft steht ihm ins Gesicht geschrieben, und die wird auf immer einen Unterschied zu den ethnischen Franzosen markieren – auch wenn Mohammed sich noch so anstrengt. Eine Erfahrung, so Tahar Ben Jelloun, die die meisten Marokkaner trotz erheblicher Anpassungsleistung machen:

    "Die Menschen erleben die Immigration als einen Schock – einen kulturellen und sprachlichen Schock. Sie nehmen ihn oft als Zusammenprall der Traditionen wahr und begreifen, dass die Welt nicht überall dieselbe ist. Viele marokkanische Migranten kamen nach Frankreich und erlebten den Umzug als regelrechtes Trauma. Trotzdem haben sich die meisten von ihnen in Frankreich angepasst, auch wenn sie einige Schwierigkeiten dabei hatten – vor allem solche kultureller Art. Die Auswanderung fordert sie enorm heraus und verlangte ihnen eine Menge Kraft und Konzentration ab. Deswegen versuche ich in meiner Arbeit die Europäer ein wenig für die Schwierigkeiten der Einwanderer zu sensibilisieren. Ich will dazu beitragen, dass die Einwanderung etwas Normales wird und nicht nur als Problem gesehen wird."

    In seinem jüngsten Buch "Zurückkehren" tut Ben Jalloun dies, indem er einen ausgesprochen sympathischen Marokkaner porträtiert, einen stillen, sehr stillen Zeitgenossen, dessen wenig spektakulärer Lebenswandel es kaum jemals in die Zeitungen und TV-Nachrichten schafft. Sicher, Mohammed ist ein konservativer Muslim: Der Koran hat Recht in vielem, und was Gott gebietet, daran sollen die Gläubigen sich halten. Aber der Koran gebietet längst nicht alles, was fundamentalistische Marktschreier als Gottes Gesetz ausgeben – vor allem nicht die Gewalt gegen Andersgläubige. Die predigt etwa jener Imam, der eines Tages, ganz unerwartet, in Mohamemds Wohnort Yvelines nahe Paris auftaucht und seinen Zuhörern reichlich krude Reden über den Islam hält. Viele der Zuhörer sind skeptisch:

    "Er sprach in klassischem Arabisch zu den Menschen und manchmal in holprigem Französisch. Die Marokkaner sahen sich an und fragten sich: Für wen hält er uns eigentlich? Wo kommt er her? Wer finanziert ihn? Sie hielten ihn für einen Ägypter im Dienste der Saudis."

    Der aufgeheizten Religion der Fundamentalisten hält Mohammed – und man kann auch sagen: hält Tahar Ben Jelloun – den gemäßigten Islam der Väter entgegen, einen Islam, der auf Ausgleich und Mäßigung setzt. Einen Islam, mit dem Ben Jelloun auch selbst groß geworden ist.

    "Ich hatte das Glück, in einer sehr armen Familie aufzuwachsen. Das hat mir einen ganz eigenen Blick auf die Welt eröffnet. Denn meine Eltern haben mir ein paar grundlegende Werte vermittelt, vor allem Toleranz und den Respekt für den Anderen. Ebenso lehrten sie mich, Gewalt und Hass abzulehnen. Mein Vater verhielt sich uns Kindern und den Nachbarn gegenüber ganz natürlich. Das wurde dann auch unser Ideal, und das versuche ich jetzt auch meinen eigenen Kindern vorzuleben. Natürlich wachsen sie in einer ganz anderen Umgebung auf. Aber auch in ihr will ich ihnen zeigen, dass es im Leben weniger um vergängliche materielle Dinge geht als um Menschen und Werte"

    Tahar Ben Jelloun hat mit "Zurückkehren" ein sehr stilles, nachdenkliches und vor allem nachdenklich machendes Buch geschrieben.

    Es bildet den Kontrapunkt zu seinem Roman "Verlassen", der den Aufbruch junger Marokkaner nach Europa beschrieb. Dort die Hoffung, hier die Desillusionierung. Entsprechend ruhig ist der Ton, der das Buch durchzieht. Gesprochen wird wenig, die wörtliche Rede ersetzt durch den ständigen Gedankenfluss des Protagonisten. In diesen Gedanken spiegeln sich die Herausforderungen des multikulturellen Frankreichs, von den Aufständen der jungen Migranten in Paris und anderswo im Herbst des Jahres 2005 bis hin zu Fragen der interreligiösen Hochzeit. Mohammed will nicht, dass seine Tochter einen Christen heiratet – sie droht daraufhin, mit ihm zu brechen. Das Weltbild der älteren Generation gerät von mehreren Seiten unter Druck. Und auch Marokko, wohin Mohammed nach der Rente zurückkehrt, hat sich verändert – zum Positiven, wie Ben Jelloun berichtet, der selbst inzwischen wieder einen Großteil des Jahres in der alten Heimat verbringt.

    "Ich lebe jetzt seit anderthalb Jahren zu Teilen wieder in Marokko. Denn das Marokko von König Mohammed VI. ist ein neues, interessantes Marokko. Ich will sehen, wie es sich bewegt, wie es lebt. Es gibt etwas grundlegende Neues, und das ist ganz und gar außergewöhnlich für die arabische Welt: Es ist das erste demokratische Land der Region. Die letzten Wahlen hatten zwar noch keine allzu hohe Beteiligung, da die Leute der Demokratie immer noch nicht recht trauen. Aber insgesamt verliefen die Wahlen sauber, Mohammed VI. tut sehr viel dafür, dass sich das Land in Richtung Moderne bewegt, der Standards der europäischen Länder. Das macht natürlich sehr viel Arbeit."
    Aber Jallouns Protagonist kann in Marokko die alte Heimat nicht mehr finden. Er bleibt heimatlos, Vertreter einer Generation, für die sich die jüngeren Marokkaner kaum mehr interessieren. Mohammed hält es in diesem Land nicht lange aus. Er stirbt. Mit ihm stirbt ein Teil des alten Marokkos.

    Tahar Ben Jelloun: Zurückkehren, Berlin Verlag, 2010