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Kultursoziologie
Verschwinden Empathie und Solidarität?

Johannes Kiess im Gespräch mit Henning Hübert | 05.03.2016
    Henning Hübert: Das Theater kann oder will sich der Flüchtlingsfrage nicht entziehen. Auch dort sind die Köpfe voll mit den Bildern aus Idomeni. An der griechisch-mazedonischen Grenze kommen die Flüchtenden an den Stacheldrahtzäunen nicht mehr weiter. Wir erleben ein Europa der gesenkten Schlagbäume und offenbar doch gar nicht so unwirksamen Zaunbauprojekte. Dazu fragen sich im Innern Deutschlands Ehrenamtler immer öfter, etwa bei den Tafeln, wer soll Vorrang haben bei der Verpflegung durch gespendete Lebensmittel, Flüchtlinge oder deutsche Bedürftige. Verschwinden Empathie und Solidarität?
    Johannes Kiess ist vergleichender Kultursoziologe an der Universität Siegen und forscht schwerpunktmäßig zum Rechtsextremismus. Ich habe ihn gefragt, ob Empathie und Solidarität augenblicklich sowohl in Deutschland als auch in Europa auf dem Rückzug sind.
    Johannes Kiess: Ich glaube nicht, dass Solidarität und Empathie komplett auf dem Rückmarsch sind, oder dass sie nicht mehr vorhanden sind. Wir haben aber ganz offensichtlich sowohl in Europa als auch in Deutschland einen massiven Rechtsruck, den wir beobachten können. Der Diskurs hat sich sehr stark nach rechts verschoben und überlagert eigentlich das, was nach wie vor eigentlich vielerorts sehr, sehr gut funktioniert, nämlich die Versorgung, Unterbringung und auch Integration inzwischen schon von Flüchtlingen. Funktioniert ganz gut, sage ich deswegen vorsichtig, weil wir durchaus einen Konflikt haben, und das trifft vielleicht auch die Frage nach Solidarität und Empathie ein bisschen stärker. Wir haben einfach einen Konflikt darüber, wie wir politisch, aber auch gesellschaftlich, sozial mit dieser Herausforderung umgehen, geflüchtete Menschen in Europa und speziell in Deutschland aufzunehmen. Und der Konflikt ist offensichtlich noch nicht ausgekämpft, sondern spitzt sich eigentlich immer weiter zu.
    Hübert: Und in diesen Konflikt hinein kommen ja auch Meldungen, gerade diese Woche zum Beispiel vom Spendenrat, der sagt, die Deutschen haben vergangenes Jahr so viel gespendet wie noch nie. Das waren fünfeinhalb Milliarden Euro, fast zwölf Prozent mehr als im Vorjahr. Das ist doch eine Bilanz des Helfens, die zeigt, das klappt doch noch mit der Solidarität, zumindest auf diese Art und Weise.
    Kiess: Genau. Es gibt durchaus Anzeichen, die zeigen, dass die Deutschen, aber auch die Europäer insgesamt durchaus bereit sind, zu spenden. Das DIW, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, hat vor ein, zwei Wochen publiziert, dass 36 Prozent der deutschsprachigen Befragten in Deutschland angegeben haben, schon Flüchtlingsunterkünfte unterstützt zu haben. Die Bereitschaft, zu helfen, ist in der Gesellschaft definitiv vorhanden. Die Frage ist, wie es auch angenommen wird von den Behörden, von der Politik und wo dann auch die Konfliktlinie zu denen verläuft, die sich diese Art von Integration entweder anders vorstellen, oder sie schlicht und ergreifend nicht möchten.
    Hübert: Sie haben ja auch selber in einer großen Langzeitstudie nachgewiesen, dass große Teile der Bevölkerung der Meinung sind, dass Ausländer nur nach Deutschland kämen, um den Sozialstaat auszunutzen. Zweifel sind ja da, etwa bei der Frage, mussten diese jungen Männer wirklich alle fliehen. Ist denn so eine Überzeugung ein Grund für den schweren Stand von Empathie zurzeit?
    Kiess: Xenophobie, Ausländerfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit sind unterschiedliche Begriffe. Egal, was man da misst, wir finden in den meisten europäischen Ländern hohe Zustimmungswerte zu solchen Einstellungen. In Deutschland sind es, glaube ich, um die 20, 25 Prozent. Ein Viertel der Befragten gibt sich ausländerfeindlich. In Polen zum Beispiel, in den osteuropäischen Ländern ist das noch weit stärker verbreitet. Das ist natürlich die Grundlage für Mobilisierung auch von rechts, für Mobilisierung auch konservativer, zum Teil sogar sozialdemokratischer Politiker, die diese Stimmungen, diese Leute, die diese Einstellungen äußern oder haben, nicht als Wähler verlieren wollen und deswegen versuchen, anzusprechen. Und das ist immer ein Spiel mit dem Feuer, muss man sagen. Man beflügelt diese Einstellungen ja. Was wir machen mit Befragungen ist ja immer auch ein Stück weit von sozialer Erwünschtheit geprägt. Das heißt, Personen antworten auf Fragen, wobei sie sich vorstellen, dass sie hoffen, dass die Menschen das auch akzeptieren, wie sie antworten. Das bedeutet: Wenn der Diskurs weiter nach rechts verschoben wird, Politiker und Politikerinnen in Europa immer mehr von Grenzschließungen sprechen, dann denken auch immer mehr Leute, das ist doch eigentlich eine gute Idee. Und zwar egal, ob sie sich das vorher auch schon gedacht haben oder noch nicht, oder ob sie Zweifler waren. Diese Diskursverschiebung verschärft sich von selber und wir haben dann als Ergebnis das, was wir jetzt sehen, nämlich die weitverbreitete Meinung, dass das so mit den Flüchtlingen nicht funktioniert, dass Grenzen zugemacht werden müssten. Wobei die Leute, glaube ich, gar nicht überblicken, was das eigentlich bedeuten würde, was das nicht nur für Deutschland bedeuten würde und wirtschaftlich bedeuten würde, sondern auch sozialpolitisch und für Europa bedeuten würde.
    Hübert: Man könnte doch aber auch sagen, ich habe doch meinen Personalausweis hinten in der Tasche drin, zeige ich ihn halt vor.
    Kiess: Gut, das mag bis zu einem gewissen Grad natürlich funktionieren. Die wirtschaftlichen Auswirkungen, die Grenzschließungen haben würden, wurden ja in den letzten Wochen mehrmals berechnet und da gibt es Veröffentlichungen inzwischen, dass das durchaus Auswirkungen auf die Realwirtschaft haben würde, also wir auch Jobverluste haben würden. Die Frage ist abgesehen von dieser wirtschaftlichen Frage auch, was das für eine Gesellschaft bedeutet, wenn sie sich nach außen hin verschließt, was das bedeutet und was das mit den Menschen selber macht. Ich bin da skeptisch, dass diese mir-egal-Einstellung eine vernünftige Strategie ist. Allerdings passt es natürlich auch zu langfristigen Trends, die wir beobachten können, das sich ins Private zurückziehen. In den 80er-Jahren wurde schon die Individualisierungsthese aufgestellt, dass Menschen stärker nach innen sich richten und sich weniger sozial und politisch engagieren. Das ist natürlich ein Problem für eine Gesellschaft, die ja doch auch durch das Miteinander von Menschen - und zwar egal, ob sie jetzt von woanders herkommen oder nicht - geprägt ist. Ich würde sagen, dass dieses Abschließen nach außen durchaus auch ein Abschließen im Inneren ist und auch Folgen für die Gesellschaft in Deutschland, für die Deutschen, die hier schon leben, haben würde.
    Hübert: Es wird also biedermeierlich - das war der Kultursoziologe Johannes Kiess von der Uni Siegen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.