Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Kultursymposium Weimar
Erscheinungsformen des Teilens und Tauschens

Teilen und Tauschen sind Grundlagen menschlicher Kulturpraktiken. Sie spielen in armen Ländern eine ebenso große Rolle wie in Wohlstandsgesellschaften. Wann aber teile ich überhaupt - und mit wem? Welche gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen ergeben sich aus den verschiedenen Erscheinungsformen des Teilens und Tauschens?

Wolfgang Sützl im Gespräch mit Florian Fricke | 12.06.2016
    Eine junge Frau sitzt auf der Couch im Wohnzimmer und hält eine Tasse in den Händen.
    Was bedeutet Vertrauen in Zeiten von Couchsurfing oder Carsharing? (Imago / Westend61)
    Was bedeutet Vertrauen in Zeiten von Couchsurfing oder Carsharing?
    Auf dem Kultursymposium Weimar, einer Veranstaltung des Goethe-Instituts vom 1. bis 3. Juni 2016, suchten Expertinnen und Experten aus dem In- und Ausland, aus Kultur, Wirtschaft und Politik Antworten auf diese Fragen. Florian Fricke traf den Medientheoretiker Wolfgang Sützl zum Gespräch für Essay & Diskurs.
    Wolfgang Sützl ist Medientheoretiker, Philosoph und Übersetzer. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorien des Teilens vor allem in den sozialen Netzwerken wie zum Beispiel Facebook.

    Das komplette Gespräch zum Nachlesen:
    Florian Fricke: Teilen und tauschen: Ganz banal, wo besteht da der Unterschied?
    Wolfgang Sützl: Tauschen ist gegenseitig, Teilen ist nicht gegenseitig. Teilen ist gemeinschaftlich.
    Fricke: Also dem Tauschen liegt dann auch immer ein Wert zugrunde, man tut den Gegenständen einen Wert beimessen?
    Sützl: Den Tauschwert. Das Tauschen ist im Wesentlichen ein Geben und Nehmen. Ich gebe was und kriege was zurück. Das ist etwas, was die Wirtschaft natürlich bestimmt in Form des Tauschwertes und Kapitalzirkulation. Es ist auch etwas, was wir in der Gesellschaft haben in Form des symbolischen Tausches, wo durch symbolische Tauschprozesse symbolische Werte hergestellt werden, die eine Gesellschaft hierarchisieren, die gesellschaftliche Ordnungen herstellen. Und der Platz in der Hierarchie der Gesellschaft wird durch symbolische Tauschprozesse bestimmt. All das beruht auf Gegenseitigkeit, auf Geben und Nehmen.
    Was jetzt das Teilen auszeichnet und vom Tauschen abhebt, ist, dass diese Gegenseitigkeit aufgehoben wird in einer Art Gemeinschaftlichkeit. Also wenn wir teilen, machen wir etwas Gemeinschaftliches, wir stellen Gemeinschaft her - aber wir stellen manchmal beim Teilen sogar Intimität her, eine enge Beziehung -, in der sich sozusagen die einzelne Person, die einzelne Individualität beginnt, aufzulösen. Das unterscheidet das Teilen vom Tauschen, wird aber sehr oft verwechselt. Einer der Gründe, weshalb das Teilen sehr wenig erforscht wurde, ist, dass das Teilen als Vorgang eben nicht in Begriffen von Gegenseitigkeit, in Begriffen von Wertzuschreibungen, Wertzumessungen, Äquivalenzen und so weiter beschreibbar ist. Und von daher auch eine methodologische Schwierigkeit darstellt in den Sozialwissenschaften.
    Fricke: Also ist Teilen grundsätzlich altruistisch?
    Sützl: Das kann man schwer sagen. Ich glaube, Altruismus hat mehr mit der Gabe zu tun, das heißt, mit dem Geben, mit dem Schenken, mit dem Wunsch, jemand anderem etwas zu geben, was ich dann nicht mehr habe. Beim Teilen ist das aber nicht so. Beim Teilen ist der Nutzen ein ganz anderer, also er wird anders beschrieben. Teilen ist mehr ein gemeinschaftlicher Gedanke, indem sich die Beziehung zwischen Individuen, die beim Altruismus ja noch vorhanden ist, indem die keine so große Rolle mehr spielt, sondern die Gemeinschaft das Individuelle überlagert.
    Fricke: Was sind denn Beispiele für das symbolische Tauschen, die eine Gesellschaft strukturieren?
    Sützl: Zum Beispiel die Ratings auf den sozialen Medien, wo ich mit Likes oder mit Sternen, Postings oder anderen Inhalten, die von Nutzern hochgeladen wurden, bewerten kann. Das ist ein symbolischer Tausch, das heißt, ich schaue mir das Video an auf Facebook und sage dann einfach, ich like es oder ich like es nicht - und damit entsteht eine Hierarchie unter den Nutzern, also jene Nutzer, deren Inhalte hoch bewertet werden, viel getweetet werden, viel gepostet und kommentiert werden, die sind in dieser Rangordnung oben und die Anderen eben unten.
    Fricke: Und in dieser Hierarchie der sozialen Medien kann man eigentlich eine Gesellschaft ziemlich gut abbilden, oder? Also da gibt es die Platzhirsche, da gibt es Emporkömmlinge, Neureiche, die sich durch widrige Methoden sich da irgendwie hocharbeiten, also Stichwort Katzenvideos zum Beispiel.
    Sützl: Ja, zum Beispiel. Es kann aber auch sein, dass jemand in den sozialen Medien König ist und in der wirklichen Welt Bettler. Diese Möglichkeit bieten die sozialen Medien an. Also, wenn man sich gut auskennt, dann kann man dort einen Status erlangen, der außerhalb der Medien nicht möglich ist.
    Fricke: Fishing for compliments.
    Sützl: Wenn man so will, nur, dass es ein sehr ausgeklügeltes Fischen ist. Also die professionellen Nutzer der sozialen Medien lassen da heute nichts mehr auf den Zufall ankommen, sondern es gibt soziale Medienstrategien, in denen ich als Firma, als Professional auftrete. Und es gibt Menschen, die mich dabei beraten können, wie ich aus meiner Präsenz in den sozialen Medien möglichst viel soziales und symbolisches Kapital schlage - also kein Zufall.
    Fricke: Was mich immer wieder überrascht in den sozialen Medien, ist das Phänomen, dass selbst bei Leuten, wo man denken würde, die würden sich über einen wie auch immer gelagerten Diskurs freuen, oftmals dann eine Mono-Meinung herrscht. Also die User kommentieren oft im Sinne des Strangerstellers.
    Sützl: Wir haben in allen großen sozialen Medien eine Tendenz zur Positivität. Auf Facebook haben Sie zum Beispiel nur einen Like-Button, aber keinen Dislike-Button.
    Fricke: Jetzt gibt es ja immerhin diese Unterteilung, wie heißen die, Emoticons, also man kann heulen, wütend sein ...
    Sützl: Ja, das gibt es. Und das hilft ein bisschen, aber wenn man sich die Emoticons anschaut, dann sind dort die positiven Äußerungen viel feiner ausdifferenziert als die negativen Emotionen. Das heißt, die sozialen Medien stellen im Grunde einen sehr positiven Diskursraum her, was damit zu tun hat, dass sie im Großen und Ganzen auf ökonomischen Geschäftsmodellen beruhen, die von Positivität bestimmt sind. Eine negative Äußerung kann ich nicht in einen ökonomischen Wert verwandeln. Wenn dagegen jemand sagt, das mag ich, dann ist das eine Information für die Werbewirtschaft, das hier was verkauft werden kann. Wenn jemand aber sagt, this sucks, oder was immer - was macht man damit. Das ist für die Werbewirtschaft und damit für den Plattformbetreiber von keinerlei ökonomischen Nutzen und daher kommt es nicht vor.
    Fricke: Aber es ist doch lustig, dass die User sich, ohne das eigentlich zu wissen, sich daran halten? Es herrscht eine gewisse Diskursscheuheit, oder?
    Sützl: Weil es so viel einfacher ist. Die sozialen Medien leben von sehr kurzfristigen Diskurszyklen. Das heißt, sie sind zum Beispiel in der Lage, auf irgendein Thema die Aufmerksamkeit vieler Menschen innerhalb sehr kurzer Zeit zu richten. Sie sind aber nicht in der Lage, einen Diskurs länger zu nähren und aufrecht zu erhalten, sondern die Aufmerksamkeit geht dann wieder woanders hin. Und es ist ganz einfach, hier mit dem Strom mitzuschwimmen. Es gibt keinerlei Widerstände oder Schwierigkeiten, auf die man stößt. Entweder ist man dabei und ein positiver Teil des ganzen Getriebes oder man ist eben nicht dabei. Und es gibt sehr wenig kritisches Bewusstsein innerhalb der Social-Media-User, wie man die sozialen Medien verändern könnte. Zumindest sehe ich das so bei meinen Studenten.
    Fricke: Also, ich finde ja schon, wie die Symbole sich unterscheiden und für was sie stehen, also dieser Daumen hoch, thumbs up - sieht man oft bei Sportlern, wenn sie nicht wissen, was sie in die Kamera halten sollen, dann ist es halt der Daumen hoch, also eigentlich ein furchtbares Symbol. Der andere wäre eben der Stinkefinger, steht eher für Anarchismus.
    Sützl: Oder der Daumen nach unten. Na ja, die meisten sozialen Medien haben in ihren Nutzungsbedingungen eben Klauseln drinnen, wo alles, was offensiv ist, alles, was irgendwie anstößig sein könnte, eben nicht vorkommen darf. Das heißt, je mehr ich als Plattformbetreiber in der Lage bin, meine User entsprechend zu managen und entsprechende Interfaces herzustellen, die Technologie entsprechend zu gestalten, dass der Diskurs eben in positiven Bahnen sich die ganze Zeit bewegt, umso erfolgreicher werde ich sein. Und das Teilen in dem Zusammenhang ist im Prinzip für die User was Anderes als für die Plattformbetreiber selbst. Für die Plattformbetreiber ist das Teilen eine Form von - das wird User Engagement genannt, das heißt, eine Form, in der User mit der Plattform interagieren und Informationen über sich selbst herstellen, insofern dass es die Bedeutung des Teilens hat für den Plattformbetreiber. Für die User selbst hat es den Anschein, als teilen sie mit anderen Menschen ihre Interessen, ihre Fotos, ihre Videos - was immer. Das heißt, wir haben hier einen doppelten Boden in den sozialen Medien.
    Fricke: Gibt es denn eigentlich Prototypen von Usern, die teilen? Zum Beispiel ich benutze Facebook ja auch als Informationsmedium. Ich freue mich, wenn mir Artikel zukommen, und ich teile eben dann auch. Also es ist für mich mehr ein Informationsteilinstrument, als dass ich hier meine Urlaubsfotos teilen würde. Also kann man die User in Prototypen unterteilen?
    Sützl: Ich glaube nicht, denn Facebook hat im Prinzip wie andere kommerzielle soziale Medien auch ein Geschäftsmodell, in dem jeder User einzigartig ist. Und in dem jeder User sozusagen die eigene Identität erzeugt, nämlich durch die Likes und durch das Kommunikationsverhalten. Auf Facebook entsteht eine unglaubliche Vielfalt von Usern. Und genau darin besteht die Stärke von Facebook, dass es sich die Kategorisierung erspart, denn das machen die User letztlich selbst, indem jeder User eine eigene Kategorie ist.
    Fricke: Und diese Identitätsbildung wird auch gefördert dadurch, dass man ständig auch auf Jahrestage hingewiesen wird, also du hast vor zwei Jahren das und das geliked oder geshared - man schenkt dem User eine Facebook-Identität, mit der er arbeiten darf.
    Sützl: Mit der er arbeiten darf und die er immer mehr präzisiert und immer mehr einzigartig macht. Man wird immer mehr man selbst auf Facebook, mit jeder Äußerung, mit jedem Newsfeed, das man bekommt, aber unter der Voraussetzung der wirtschaftlichen Verwertbarkeit. Der Grundgedanke, der dahinter steht, ist, dass diese ganze Selbsterzeugung, Selbstschaffung letztlich der besseren Verwertbarkeit der Nutzerdaten dient. Die Facebook-Existenz ist sozusagen von vornherein eine Promotionsexistenz und es gibt auch eine Hierarchie von Usern, von denjenigen, die viel getweetet werden, die viel geliked werden, und denen, denen das nicht passiert, deren Postings sozusagen im Dunkeln verpuffen.
    Fricke: Also, ich bin zum Beispiel auf Twitter so gut wie nicht aktiv, weil ich wirklich Hemmungen habe. Ich muss ja auf User warten, die sich mit mir befreunden wollen. Und das erzeugt bei mir Druck, darum lass ich es lieber gleich bleiben. Also man muss ja bei Null anfangen.
    Sützl: Man muss bei Null anfangen und da entsteht tatsächlich ein Druck, dass man Tweets verschickt, die eben dazu führen, dass man Followers bekommt. Und ich nehme an, als schreibender Mensch, als Journalist haben Sie da eben Hemmungen, die habe ich auch. Ich habe auch keinen Twitter-Account aus dem Grund.
    Fricke: Es geht ja auch um Kommunikation. Man teilt Eindrücke, man teilt Informationen, man teilt alles Mögliche. Okay, die Firmen verdienen damit Geld. Aber strahlt das auf das analoge Leben auch irgendwie ab? Oder sitzen wir wirklich einer Illusion auf und sollten das sehr, sehr kritisch hinterfragen, was wir hier tun?
    Sützl: Beides. Ich glaube, hinterfragen muss man es wesentlich mehr, als wir es bis jetzt tun. Auf der anderen Seite geht es nicht darum, die sozialen Medien irgendwie zu verteufeln, sondern genau hinzusehen und ein kritisches Bewusstsein dafür zu wecken, was mit meinen Daten im sozialen Medium eigentlich geschieht, und welche Form der Beziehung ich zu anderen Usern tatsächlich herstelle. Und strahlt es auf das analoge Leben aus? Ich glaube auf jeden Fall. Mir ist es selber kürzlich passiert, dass ich in einen großen Supermarkt reingekommen bin und was gesucht habe und mir plötzlich die Suchmaschine gefehlt hat. Ich habe plötzlich den Impuls verspürt, ich muss jetzt googeln, in welchem Regal dieses Ding ist, was ich brauche. Das heißt, ich glaube, dass die Wahrnehmung der Umwelt sehr stark modifiziert wird vom Umgang mit digitalen Medien im Allgemeinen.
    Fricke: Wenn der französische Philosoph Jean Baudrillard sagt, Tauschen sei unmöglich, was meint er damit?
    Sützl: Er meint damit zwei Dinge. Er meint auf der einen Seite, dass der Tausch so was wie eine moralische Instanz der Moderne geworden ist, er sagt, dass die Tauschbarkeit ein Imperativ geworden ist. Alles existiert, insofern es tauschbar ist, das heißt, insofern es einen ökonomischen Tauschwert haben kann, und dieser Tauschwert dann dazu führt, dass der entsprechende Gegenstand auf dem Markt getauscht werden kann. Er sagt, das geht über die Gegenstände hinaus in Verhaltensweisen hinein, in alle Lebensbereiche hinein im Prinzip. Dass es aber irgendwann einmal ansteht und das Sogenannte, was er den unmöglichen Tausch nennt, eintritt. Es gibt bestimmte Dinge, die einfach nicht getauscht werden können, zum Beispiel kann ich nicht meinen Tod gegen das Leben tauschen. Ich kann die Welt nicht gegen eine andere Welt eintauschen. Er nennt das das Schicksal, das heißt, eine Instanz oder ein Punkt, an dem sich das Tauschen als universalisierte Verhaltensform nicht mehr weitergeht.
    Das ist für mich insofern interessant als ich glaube, dass genau an dem Punkt das Teilen beginnt. Das hat aber er theoretisch nicht ausgeführt, auch Bataille nicht, auf den er sich bezieht. Bataille war auch sehr kritisch dem Tausch gegenüber eingestellt und hat aber das Jenseits des Tausches begriffen als Verausgabung. Er spricht von der Notwendigkeit, produzierte Energie unproduktiv zu verbrauchen. Das ist für ihn das Wesentliche in seiner ökonomischen Theorie und für mich eine Erklärung dafür, dass das Teilen häufig als Verlust begriffen wird, weil das Teilen zu keinerlei ökonomischen Wachstum führt. Das Teilen ist im Gegenteil etwas, das außerhalb ökonomischer Verfahren stattfindet, dass außerhalb der Buchhaltung stattfindet, jenseits von Soll und Haben und Geben und Nehmen. Und insofern ist es in einer Gesellschaft, die immer mehr ökonomische Kriterien in alle Lebensbereiche einführt, ein entgangener Gewinn, wenn jemand teilt. Und von daher stimmt es wieder mit Batailles Theorie überein, dass hier ein Verlust eintritt.
    Fricke: Man kann auch keine Emotionen tauschen, oder? Man kann keine Trauer gegen Freude tauschen.
    Sützl: Das ist eine gute Frage. Es gibt sicher das Versprechen von Therapien und das Versprechen von Drogen, dass man nicht leiden muss und keine Trauer erleiden muss, keine Schmerzen erleiden muss. Das ist ja ein sehr machtvolles Versprechen, von dem die Pharmaindustrie zum Beispiel gut lebt, Psychopharmaka und so weiter - ich weiß nicht. Letzten Endes wahrscheinlich nicht, aber es geht darum, diese Illusion am Leben zu erhalten. Man entgeht dem Leiden, man entgeht dem Schmerz, denn es ist immer etwas da, wogegen man es eintauschen kann.
    Fricke: Und warum spricht man vom Pseudoteilen, also vom Teilen ohne Sinn? Man würde ja denken, die Individualität, diese digitale, wird gefördert, es werden Persönlichkeiten geformt, sozusagen digitale Persönlichkeiten - warum soll das alles sinnlos sein?
    Sützl: Weil es letztlich notwendig ist, um Bedeutung und Sinn erfahren zu können, dass man teilt, und zwar wirklich teilt im Sinne eines Miteinanderseins, im Sinne eines Öffnungsprozesses zwischen Menschen. Beim Tausch ist das unmöglich. Durch den Tausch kann keine Sinnerfahrung entstehen, sondern genau umgekehrt. Und von daher ist im Pseudoteilen, Russell Belk spricht vom Pseudoteilen als einer Form des Tausches, die einfach unter den Titel Teilen angeboten wird und hinter der in Wirklichkeit ein ganz normales Tauschverhältnis steckt. Zum Beispiel wenn ein Medium in den Privacy Statements sagt, wir teilen ihre Nutzerdaten mit anderen Firmen, dann ist es in Wirklichkeit kein Teilen, sondern einfach ein Weitergeben, ein Verkaufen. Die Attraktivität des Wortes Teilen, die soziale Qualität, die dabei mitschwingt, und die ökonomische Unschuld wird genutzt, um tatsächliche ökonomische Transaktionen, die stattfinden, als unschuldige Spielerei zu verschleiern. Das ist inzwischen soweit fortgeschritten, dass es Initiativen, Wissenschaftler gibt, die dieses Wort Teilen komplett vermeiden.
    Es gibt sehr viele, die die sozialen Medien oder die Medien der Sharing Economy auch nicht als Teilen oder als Sharing Economy bezeichnen wollen, sondern den Begriff Plattform Capitalism bevorzugen, weil er gewissermaßen ehrlicher ist, weil er das Ding beim Namen nennt. Was ich damit sagen will, ist, dass der Begriff Teilen, Sharing im Englischen, so überstrapaziert worden ist und so missbraucht worden ist und so missverstanden worden ist, dass manche beginnen, den Begriff inzwischen schon zu vermeiden - vermutlich mehr im Englischen als im Deutschen.
    Fricke: Russell Belk, sollten wir vielleicht noch erklären, ist wer?
    Sützl: Ein kanadischer Verbraucherforscher, der sich seit 2009 intensiv mit dem Thema Teilen auseinandergesetzt hat und in dem Bereich bahnbrechend gewesen ist in den letzten Jahren.
    Fricke: Hat denn das soziale Standing im Real Life und auch die wirtschaftliche Situation, hat die Einflüsse auf das Nutzerverhalten in den sozialen Netzwerken?
    Sützl: Möglicherweise. Also gerade wenn man im Leben sozusagen erfolglos ist und es schwer hat, ist ein soziales Medium nicht unbedingt der beste Outlet, denn gerade Facebook fördert sehr stark die positive Selbstdarstellung. Und wenn ich heute auf Facebook poste, ich habe heute wieder drei Absagen bekommen für einen Job, dann kriegt man dafür nicht viele Likes und wird dafür nicht wahrgenommen. Letzten Endes spricht man mit sich selbst oder gegen eine Wand.
    Fricke: Das irritiert ja auch. Wenn man mal eine negative, vor allem persönliche Meldung liest, das kommt unerwartet und man ist eigentlich auch ein bisschen hilflos, wie man damit umgehen soll.
    Sützl: Genau. Die ganze Plattform ist nicht darauf ausgelegt, dass man solche Sachen postet oder darauf antwortet. Denn das darf gewissermaßen nicht vorkommen. Daher haben Randgruppen, die wirkliche Randgruppen sind, oder Menschen, die es im Leben schwer haben, nicht unbedingt eine starke Präsenz auf einem Medium wie Facebook. Während umgekehrt, wenn ich gerade geheiratet habe und in neun Monaten das Kind auf die Welt kommt, also diese positiven Lebensereignisse im herkömmlichen Sinne, die haben eine unglaubliche Präsenz. Über Begräbnisse und Krankheiten wird nicht viel berichtet oder Arbeitslosigkeit.
    Fricke: Aber zu viel Nähe, also zuviel Intimität, verwirrt mich zumindest auch immer sehr. Ich finde das oftmals grenzüberschreitend. Man merkt dann wirklich, wie Menschen das unterschiedlich wahrnehmen, solche sehr intimen Zeugnisse.
    Sützl: Ja, Intimität ist ein besonderes Problem im Zusammenhang mit Teilen, denn das Teilen ist grundsätzlich etwas, was Gemeinschaft herstellt, und kann auch Intimität sein. Teilen ist nicht leicht von Intimität zu trennen. Daher auch die Problematik des sogenannten Oversharing, von dem Teenager häufig betroffen sind, die unglaublich viele Fotos und persönliches Material von sich teilen und sich dadurch verletzbar und angreifbar machen und das nicht so richtig wahrnehmen. Es ist wichtig, daran zu denken, dass Teilen Gemeinschaftlichkeit herstellt, unter Umständen auch Intimität herstellt, und man genau nachdenken muss, mit wem man teilt. Dieser Nachdenkprozess ist im Prinzip in einem sozialen Medium, das auf der Grundlage "je mehr, je besser" funktioniert, dieser Nachdenkprozess wird nicht gefördert, er wird unterdrückt.
    Fricke: Gerade bei jungen Usern muss man doch da teilweise von Entgrenzung sprechen, aber auf jeden Fall von Suchtverhalten. Man ist süchtig nach einer Belohnung durch Aufmerksamkeit.
    Sützl: Ich bin mit dem Begriff süchtig vorsichtig. Sucht zeichnet sich ja dadurch aus, dass man immer mehr braucht von derselben Droge, um zum selben High zu kommen, und dass man nicht mehr davon loskommt. Ich glaube, der Prozess mit den digitalen Medien ist subtiler, weil die sich ja auch verändern. In dem Maße, in dem ich damit umgehe, im Laufe der Zeit ändert sich das Medium selbst und damit auch die Droge. Aber selber wundere ich mich sehr oft, wie schnell und wie einfach zum Beispiel meine Studenten, die so Anfang 20 sind, den Wechsel zwischen digitaler Welt und analoger Welt vollziehen, wie mühelos das für sie ist. Das ist, glaube ich, in gewissem Maß auch eine Generationenfrage. Die Digital Natives, denen fällt es überhaupt nicht schwer.
    Fricke: Ist es nicht merkwürdig, wenn Facebook eine generell positive Diskussionskultur präsentieren will, warum sind die trotzdem dann so zögerlich gegenüber rechtem Gedankengut oder einfach sehr zweifelhaften Seiten, und bei Nacktheit geht das binnen Stunden. Gibt es dafür eine Erklärung?
    Sützl: Das wüsste ich auch gerne, also ich stelle mir genau die gleiche Frage. Facebook ist manchmal sehr schnell, wenn es darum geht, Seiten abzuschalten. Ein Beispiel, das mir einfällt, ist das 60-jährige Thronjubiläum Elisabeth II. in England, da sind ungefähr 40 antimonarchistische Facebook-Seiten im Vorfeld des Jubiläums abgeschaltet worden. Die sind einfach nicht mehr da gewesen. Warum gegen rechtes Gedankengut weniger getan wird - solange man das rechte Gedankengut viel postet und viel teilt und viel kommentiert, ist das für Facebook ja gut. Es geht weniger um den Inhalt, sondern mehr darum, dass sich die User über den Inhalt austauschen, denn über diesen Austausch, über das Teilen, über das Kommentieren, über das Raten, werden genau die Informationen geschaffen, die Facebook an die Werbeindustrie verkauft. Und insofern ist es egal, ob das jetzt rechts oder links oder sonst was ist - man kann ja auch den rechten Diskurs positiv formulieren, wenn man will. Man kann ja zum Beispiel sagen, wir sind nicht gegen die Ausländer, wir sind für die Deutschen. Im Prinzip derselbe Gedanke positiv ausgedrückt.
    Fricke: Zweifel werden dann wegkommerzialisiert.
    Sützl: So würde ich das auch sehen. Wegkommerzialisiert ist ein schönes Wort.
    Fricke: Unterscheiden sich denn Gesellschaften, wie sie soziale Netzwerke benutzen? Kann man das kategorisieren? Teilt der Deutsche anders als der Amerikaner zum Beispiel?
    Sützl: Ich will jetzt nicht soziale Mediennutzung mit Teilen gleichsetzen. Aber in Amerika ist die soziale Mediennutzung viel weiter verbreitet als hier. Ältere Menschen zum Beispiel sind viel mehr auf Facebook als in Europa, weil man grundsätzlich der Technik gegenüber optimistischer eingestellt ist - und zwar auch quer durchs politische Spektrum. Es gibt sowohl links als auch rechts wenig kritische Einwände gegen neue digitale Technologien, die neuesten Schöpfungen von Silicon Valley, abgesehen von ganz wenigen evangelistischen Gruppen, die also ganz radikal gegen Technik sind.
    Fricke: Gegen jede Form von Technik?
    Sützl: Gegen jedes Teufelswerk.
    Fricke: Und wird in den USA der kommerzielle Hintergrund, wird Big Data diskutiert, breit, oder eher nicht, wird das eher unterdrückt?
    Sützl: Big Data wird gefeiert als neue Möglichkeit, die Gesellschaft positiv zu verändern. Die Überwachungsthematik ist zwar jetzt auch wichtiger geworden nach Edward Snowden, aber trotzdem gibt es sehr wenig Einwände gegen Big Data, gegen Google, gegen die Umkehrung des epistomologischen Prozesses, wobei wir bisher eine Hypothese, eine Forschungsfrage formuliert haben unabhängig von den Daten. Und jetzt mit Google und Big Data wir die Forschungsfragen von den Daten selbst vorgeschlagen bekommen und der Erkenntnisprozess sich dadurch verändert - davon gibt es ein relativ schwaches Bewusstsein. Dafür ist der Technikoptimismus zu stark ausgeprägt.
    Fricke: Können Sie dafür ein Beispiel geben, wie Big Data die Forschungsfragen vorgibt?
    Sützl: Erdbeben werden leichter voraussagbar, Klimamodelle lassen sich leichter erstellen. Mit kulturellen, philosophischen Themen tut sich Big Data wesentlich schwerer. Und von daher wird diese Umorientierung der Forschung hin zu den klassischen Wissenschaften und den neueren Naturwissenschaften, Technik und so weiter begünstigt. Und natürlich auch die Marktforschung profitiert stark davon.
    Fricke: Was bedeutet es, wenn die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown feststellt, dass Sinn in Zeiten der sozialen Netzwerke zu einer fundamentalistischen Ideologie transformiert wird, der Sinn?
    Sützl: Das Problem dabei ist, dass wir Sinn oder Bedeutung nicht durch Tauschvorgänge herstellen können. Etwas, was austauschbar ist, hat keinen eigenen Sinn, keine eigene Bedeutung mehr. Von daher ist ihre Kritik am Neoliberalismus eine, die sagt, in einem verallgemeinerten Tauschszenario, wo nur noch getauscht wird, ist eine Sinnerfahrung nicht mehr möglich, außer in einer fundamentalistischen Geste, die alles ablehnt. Die sagt, das ist alles Teufelswerk, das ist alles schlecht, alles was Technik ist, ist schlecht, Kapitalismus ist schlecht. Ich kann dort zu einer Sinnerfahrung nur mehr kommen, indem ich jede Art von Austauschbarkeit ablehne - und das ist Fundamentalismus.
    Fricke: Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.
    Sützl: Es gibt kein richtiges Leben im Falschen? Möglicherweise. Der Fundamentalismus wendet sich von der Zahl und von der Quantität und der Form des Tausches ab hin zum Wort und dem Wort als letzte Instanz. Daher auch der Zusammenhang des nahen Verhältnis zwischen Religion und Fundamentalismus. Das Wort Gottes, das Wort des Imams oder was immer als letzte Instanz, gegen die kein weiteres Wort mehr gültig ist. Das ist Fundamentalismus und das ist momentan der Höhepunkt der Gewalt, gleichzeitig aber auch unglaublich attraktiv. Denn die mangelnde Sinnerfahrung ist etwas, was die meisten Menschen über kurz oder lang in psychologische Schwierigkeiten geraten lässt, ein Gefühl der Leere erzeugt und so weiter. Und von daher werden fundamentalistische Botschaften attraktiver. Das meint sie damit.
    Fricke: Stehen wir denn vor einem Zeitalter des Verlusts des Geheimnisses?
    Sützl: Das ist eine interessante Frage. Verlust der Privatsphäre ist wahrscheinlich der bessere Ausdruck dafür. Ich glaube schon, dass wir durch die digitalen Medien so, wie wir sie jetzt haben, Bedrohung in der Privatsphäre erleben, dass sich das Private mit dem Öffentlichen vermischt, dass wir umgekehrt öffentliche Instanzen wie zum Beispiel Regierungen und Behörden, Überwachungsmaschinerien, Überwachungssysteme betreiben, die eine Privatsphäre mitten im Öffentlichen schaffen. Einen nicht zugänglichen Bereich des Geheimnisses, des Staatsgeheimnisses, der Intelligence Services und so weiter, zu dem man als Bürger oder Bürgerin keinen Zutritt mehr hat. Das heißt, die Gefahr ist, dass sich das Prinzip zwischen Offenheit und Privatheit genau verkehrt. Während man in einer Demokratie davon ausgehen soll, dass die Regierung transparent und durchsichtig ist und die einzelnen Bürger eine geschützte Privatsphäre haben, ist der Überwachungsstaat genau das Umgekehrte. Und diese Gefahr haben wir mit den digitalen Medien, so wie sie jetzt sind, auf jeden Fall.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.